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Beurteilungsgespräche in der Schule

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Beurteilungsgespräche in der Schule
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Vera Mundwiler

Beurteilungsgespräche in der Schule

Eine gesprächsanalytische Studie zur Interaktion zwischen Lehrpersonen, Eltern sowie Schülerinnen und Schülern

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-7720-0014-0

Inhalt

  Vorwort und Danksagung

 1 Einleitung1.1 Schulische Beurteilungsgespräche als Forschungsgegenstand1.1.1 Ergebnisse aus Interview- und Fragebogenstudien1.1.2 Gesprächsanalytische Forschungsergebnisse1.2 Forschungsinteressen und Fragestellungen1.3 Aufbau der Arbeit

 2 Konversationsanalyse und darüber hinaus2.1 Gesprächsanalyse2.1.1 Prämissen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse2.1.2 Prinzipien der Gesprächsorganisation2.1.3 Gesprächsanalyse und institutionelle Kontexte2.2 Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsbeteiligten2.2.1 Recipient Design, Common Ground und Positionierung2.2.2 Lokale Ausrichtung am Gegenüber2.2.3 Aufgaben und Herausforderungen in der Mehrparteieninteraktion2.3 Organisation interaktiver Beteiligung2.3.1 Beteiligungsrollen in der Interaktion2.3.2 Gesprächsorganisatorische und thematische Steuerung2.4 Identität und Positionierung2.4.1 Konstruktion von Identität(en) im Gespräch2.4.2 Soziale Kategorisierung2.4.3 Selbst- und Fremdpositionierung2.4.4 Selbst- und Fremdbeurteilung2.5 Zusammenfassung

 3 Methodenreflexion und Datenmaterial3.1 Reflexion zum methodischen Vorgehen3.1.1 Datenerhebung und Zugang zum Forschungsfeld3.1.2 Datenaufbereitung3.1.3 Analysevorgehen3.2 Datenmaterial3.2.1 Korpus3.2.2 Metakommentare zu den Gesprächen3.3 Zusammenfassung

 4 Interaktive Konstituierung des Beurteilungsgesprächs4.1 Gesprächseröffnung4.1.1 Initiierung einer fokussierten Interaktion4.1.2 Verhandlung von Wissensbeständen und Beteiligungsrollen4.2 Gesprächsbeendigung4.2.1 Initiierung und Vollendung der Gesprächsbeendigung4.2.2 Überleitung zu Fragen und Anliegen der Eltern4.3 Zusammenfassung

 5 Positionierungsaktivitäten und soziale Rollen5.1 Positionierung als (Ko-)Lehrpersonen5.1.1 Beurteilungshandlungen im Kontext Schule5.1.2 Lernberatung und Positionierung5.1.3 Eltern als Ko-Lehrpersonen5.2 Positionierung als Eltern5.2.1 Erziehungskompetenz der Eltern5.2.2 Lehrpersonen in ihrer Rolle als Eltern5.3 Positionierung als (ehemalige) Lernende5.3.1 Eltern als ehemalige Lernende5.3.2 Lehrpersonen als fehlbare Lernende5.4 Positionierungen bei Kritikäusserungen vonseiten der Eltern5.5 Zusammenfassung

 6 Gemeinsame Herstellung interaktiver Beteiligung6.1 Beteiligungsstrukturen bei expliziter (verbaler) Adressierung6.1.1 Schülerinnen und Schüler in der Rolle als Gesprächsteilnehmende oder als Gesprächsobjekt6.1.2 Interaktive Steuerung durch die Eltern6.2 Wechselnde und ambige Referenzen als kommunikative Ressourcen6.2.1 Rasche Wechsel der Referenzen6.2.2 Unspezifische Referenzen6.3 Zusammenfassung

 7 Beteiligung, Positionierung und Beurteilung durch Animation und Imagination7.1 Selbst- und Fremdpositionierung durch Imaginierung7.1.1 Fremdpositionierung und Bewertung durch Imaginierung vermuteter Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen7.1.2 Delegierte Fremdpositionierung und Beurteilung7.1.3 Selbst- und Fremdpositionierung durch Imaginierung nicht vorhandener Verhaltensweisen7.2 Zukunftsgerichtete Szenarios7.2.1 Veranschaulichung von zukünftigen Handlungen7.2.2 Überzeugungsarbeit mithilfe von Szenarios7.2.3 Imaginierung erwünschter Einstellungen7.2.4 Empfehlung zukünftiger Handlungen7.3 Ko-Konstruktion von Szenarios7.3.1 Aushandlung von Verantwortung durch Imaginierung möglicher Verhaltensweisen7.3.2 Interaktive und dynamische Entwicklung von Szenarios7.4 Zusammenfassung

 8 Fremdbeurteilung versus Selbstbeurteilung8.1 Stellenwert der schriftlichen Selbstbeurteilung im Beurteilungsgespräch8.1.1 Selbstbeurteilung als zentraler Bestandteil des Gesprächs8.1.2 Selbstbeurteilung als Nebensächlichkeit8.2 Gesprächsorganisatorische Steuerungsfunktion der schriftlichen Selbstbeurteilung8.3 Bearbeitung und Aushandlung der schriftlichen Selbstbeurteilungen8.3.1 Aufzeigen von Entwicklungspotenzial8.3.2 Angleichen an die Fremdbeurteilung8.3.3 Beurteilen der Selbstbeurteilung8.3.4 Umgang mit dem (Miss-)Verstehen von Beurteilungskriterien8.4 Zusammenfassung

  9 Schlussbetrachtungen 9.1 Zusammenfassung der Ergebnisse 9.2 Ausblick I: Forschungsdesiderate 9.3 Ausblick II: Praktische Relevanz für (angehende) Lehrpersonen

  Literaturverzeichnis

 AnhangI TranskriptionskonventionenI.a GAT 2-TranskriptionskonventionenI.b Transkription von schweizerdeutschen DialektenII Übersicht der verwendeten SequenzenII.a Transkriptverzeichnis (sortiert nach Erscheinen im Text)II.b Transkriptverzeichnis (sortiert nach Gesprächen)

Vorwort und Danksagung

Es handelt sich bei der vorliegenden Arbeit um eine leicht angepasste Druckfassung meiner Dissertationsschrift, welche ich im Dezember 2015 im Fach Deutsche Sprachwissenschaft an der Universität Basel eingereicht und im Juni 2016 verteidigt habe. Die Dissertation entstand im Rahmen des internationalen Doktoratsprogramms Hermann Paul School of Linguistics (HPSL) Basel – Freiburg i. Br. und wurde von Prof. em. Dr. Annelies Häcki Buhofer (Universität Basel) und Prof. Dr. Helga Kotthoff (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) betreut und begutachtet.

Eine Dissertation ist zunächst eine individuelle Leistung und zeitenweise ein einsames Unterfangen. Doch es gibt viele Menschen, die in irgendeiner Weise – sei dies durch wissenschaftliche Inspiration, durch Hilfe bei der Datenerhebung oder durch moralische Unterstützung – zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben.

Ich bedanke mich herzlich bei meiner Erstbetreuerin Annelies Häcki Buhofer, die mir bei der Themeneingrenzung, der Methodenwahl und der gesamten Konzeption der Arbeit jegliche Freiheiten liess und mir stets mit Wohlwollen und Vertrauen begegnete. Danken möchte ich ebenso Helga Kotthoff, die mich als Zweitbetreuerin fachlich begleitete und mir die Teilnahme an ihren Forschungskolloquien ermöglichte. Bei Fabienne Strässle, Gabriela Giallombardo und Sandra Hanselmann bedanke ich mich für einzelne Grobtranskriptionen, die mir den Einstieg in die Analysen erleichtert haben. Ein spezieller Dank gilt ausserdem allen Kolleginnen und Kollegen, die mich durch zahlreiche (wissenschaftliche) Diskussionen weitergebracht und ermutigt haben, sei dies in Forschungskolloquien in Basel oder Freiburg i. Br., an Tagungen, in Arbeitsgruppen oder in täglichen Mittags- und Kaffeepausen. Während meiner Anstellung am Deutschen Seminar der Universität Basel waren dies insbesondere Annina Niederberger, Felix Michel, Karin Madlener, Mirjam Weder, Rebekka Studler, Stefanie Meier und Steffen Siebenhüner, die sich teilweise auch Zeit nahmen, um kleinere oder grössere Textausschnitte und/oder Vorträge, die im Rahmen dieses Projekts entstanden sind, kritisch zu kommentieren.

 

Für die Durchführung der Studie war ich zudem in höchstem Masse auf die Kooperation von Schulen und Familien angewiesen, um überhaupt an Gesprächsdaten zu gelangen. Ich möchte von Herzen allen hier anonym bleibenden Lehrerinnen und Lehrern, Eltern bzw. Erziehungsberechtigten sowie Schülerinnen und Schülern für ihre Teilnahme am Projekt danken. Durch ihre Bereitschaft, sich in den Gesprächen aufnehmen zu lassen, gewährten sie mir Einblick in die schulische Praxis des Beurteilungsgesprächs und ermöglichten mir die Analyse eines bisher wenig erforschten Gesprächstyps. Ich danke auch allen Schulleitungen dafür, dass sie sich mit Aufnahmen an ihren Schulen einverstanden zeigten und mich teilweise sogar tatkräftig bei der Rekrutierung von Lehrpersonen unterstützten.

Und schliesslich gebührt mein Dank auch Freundinnen und Freunden sowie Familienangehörigen, die mir abseits von der (Sprach-)Wissenschaft eine wichtige Unterstützung waren und mich auf meinem Weg stärkend begleiteten. All ihnen sei herzlich gedankt für das Vertrauen in mein Projekt, das Verständnis für chronische Zeitknappheit, die anregenden Gespräche, das geduldige Zuhören, das solidarische Mitdenken, das gelegentliche Ablenken oder auch schlichtweg das gemeinsame Lachen und Beisammensein.

Mein allumfassender Dank gilt Christian Specker, der mich in jeglicher Hinsicht unermüdlich unterstützt und bestärkt.

Basel, im Mai 2017 Vera Mundwiler

1 Einleitung

„[W]ithin educational folklore, teacher-parent meetings […] are taken to be essentially a public relations exercise where nothing much is accomplished.“

(Baker & Keogh 1995: 264)

In schulischen Beurteilungsgesprächen treffen sich Lehrpersonen, Eltern sowie häufig auch die SchülerInnen zu einem Dialog über die erzielten oder erwünschten Leistungen und Verhaltensweisen der Lernenden in der Schule. Dabei werden jedoch nicht nur Beurteilungen verhandelt, sondern es findet ebenfalls ein Austausch über soziale Rollen und Identitäten statt. Auf diese ‚inoffiziellen’ Aufgaben der schulischen Beurteilungsgespräche ist in der vorliegenden Arbeit ein besonderes Augenmerk gerichtet.

Der Gesprächstyp des schulischen Beurteilungsgesprächs wurde basierend auf Vorstellungen einer Erziehungspartnerschaft1 zwischen den Institutionen Schule und Familie etabliert und institutionalisiert (vgl. z.B. Epstein 1995; Epstein & Sanders 2002; Keck & Kirk 2001; Sacher 2014; Textor 2009) und ist demnach als inter-institutionelle Kommunikation zu verstehen (vgl. z.B. Baker & Keogh 1995; Kotthoff 2012a). Textor (2009: 22) bezeichnet dabei das Beurteilungsgespräch bzw. Elterngespräch, wie es in der Praxis auch genannt wird, als „Kernstück der Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“ und nennt die folgenden Gesprächsziele und -inhalte:

Hier sollte nicht nur über Kompetenzen und Leistungen geredet werden – vielmehr soll das ‚ganze’ Kind im Mittelpunkt stehen, mit seinen Stärken und Schwächen, Interessen und Hobbys, Verhaltensweisen und Angewohnheiten, Freundschaften und Feindschaften, Freuden und Problemen. Weitere Themen können die Auswirkungen der der [sic!] Schule auf das Familienleben und die Familiensituation sein (z.B. bevorstehende Trennung/Scheidung, Erkrankung eines Elternteils, Arbeitslosigkeit).

Erziehungs- und Bildungspartnerschaft bedeutet aber nicht nur den Austausch von Informationen über Verhalten, Entwicklung und Erziehung des Kindes im jeweiligen System, sondern geht einen entscheidenden Schritt weiter: Familie und Schule versuchen, ihre Erziehungs- bzw. Bildungsziele, -methoden und -bemühungen aufeinander abzustimmen, den Erziehungs- und Bildungsprozess gemeinsam zu gestalten, sich wechselseitig zu ergänzen und zu unterstützen. Durch Erziehungs- und Bildungspartnerschaft kann Kontinuität zwischen den Lebensbereichen gewährleistet werden. Das Kind wird nicht nur so gesehen, wie es sich in allen Systemen verhält, sondern es kommt auch ein ganzheitliches Erziehungs- und Bildungsprogramm zustande. Je älter das Kind ist, umso mehr kann es in diesen Austausch einbezogen werden. (Textor 2009: 22, Hervorhebung im Original)

Die Partnerschaft zwischen der Schule und der Familie soll damit nicht nur einen offenen Informationsfluss in Bezug auf die jeweiligen Lebensbereiche gewährleisten, sondern auch eine effektive Zusammenarbeit fördern und wechselseitige Unterstützungen ermöglichen. Denn gemäss Epstein (1987) sind die Familie, die Schule sowie die Gesellschaft overlapping spheres und Ziel des Austausches zwischen Lehrpersonen und Eltern ist es, gemeinsam zur Sozialisation der Kinder beizutragen, indem allgemeine Werte in Bezug auf die Schule, die Bildung, das Lernen aufeinander abgestimmt werden. Dass die Eltern bzw. das Elternhaus massgeblich am Lernerfolg des Kindes beteiligt sind, zeigen verschiedene Studien (vgl. z.B. Hattie 2009: 61ff.) und führen Helmke (2012: 80) zum Schluss: „Auch die beste schulische Förderung ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Eltern gar kein Interesse an der Bildung und dem Schulerfolg ihrer Kinder haben“. Die Involvierung der Eltern in den Bildungsdiskurs muss daher als notwendige Aufgabe für die Schule und die Lehrpersonen aufgefasst werden.2

Die tatsächlichen Begegnungen und individuellen Kontakte zwischen Lehrpersonen und Eltern können aus unterschiedlichen Anlässen entstehen und dementsprechend finden sich in der Praxis verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. Sacher (2014: 61ff.) unterscheidet dabei Elternsprechstunden, Elternsprechtage,3 spontane Gespräche, Telefongespräche und Hausbesuche. Gegenstand dieser Arbeit sind ausschliesslich die ersteren, welche als Elternsprechstundengespräche oder allgemeiner als Elterngespräche benannt werden. Diese lassen sich gemäss Sacher (2014: 61ff.) weiter unterteilen in Willkommens- und Begrüssungsgespräche, anlassungebundene Gespräche (Lern- und Entwicklungsgespräche), Beratungsgespräche sowie Kritik-, Beschwerde- und Konfliktgespräche. Diese Kategorien zeigen eine Vielfalt von Gesprächsanlässen, sollen jedoch nicht dazu verleiten, die vorliegenden Gesprächsdaten vorschnell zuzuordnen. Gerade die Kategorie Beratungsgespräch erscheint als Bezeichnung des Gesprächstyps nicht passend für das Korpus, da sich bei den Gesprächen nicht die für Beratungsgespräche als konstitutiv herausgearbeiteten Abläufe finden (vgl. dazu z.B. Nothdurft, Reitemeier & Schröder 1994). Dennoch lassen sich – neben anderen – auch beratende Sequenzen ausmachen. Ebenso ist die Kategorie Kritik-, Beschwerde- und Konfliktgespräche problematisch, wenn davon ausgegangen wird, dass der Anlass sowie das Gespräch konfliktgeladen sind (vgl. Sacher 2014: 65ff.). Auch wenn dem Gespräch ein Konflikt vorausgeht, muss das Gespräch dadurch nicht konfliktgeladen sein, sondern kann konstruktiv geführt werden und beispielsweise wiederum auch beratende Sequenzen aufweisen. Der Kontext bestimmt also nicht den Gesprächsmodus und diese Kategorien vermögen den Gesprächstyp nur unzulänglich einzuordnen. Eine Kategorie, nämlich die der Willkommensgespräche, kann ausgeklammert werden, da sie sich im Korpus nicht findet. Am zutreffendsten für einen grossen Teil der Gesprächsdaten ist die Kategorie der anlassungebundenen Gespräche. Damit wird betont, dass diese Gespräche nicht aufgrund eines Problems stattfinden, sondern, wie im Falle der untersuchten Gespräche des ersten bis fünften sowie des achten Schuljahres, regelmässig mit allen Eltern einer Klasse geführt werden. In der Praxis wird diese Gesprächsform wie bei Sacher (2014: 62) als Lern- und Entwicklungsgespräche bezeichnet, oder beispielsweise als Standortgespräche, Standortbestimmungsgespräche, Beurteilungsgespräche oder Lernberichtsgespräche. Diese Begriffe variieren von Schule zu Schule.

Im Allgemeinen findet der Oberbegriff Elterngespräch eine breite Verwendung. Jedoch wird bei dieser Bezeichnung vernachlässigt, dass es in den Gesprächen noch weitere Beteiligte gibt. So müsste präziser von Eltern-Lehrperson-Gesprächen oder dann von Eltern-Lehrperson-SchülerIn-Gesprächen gesprochen werden. Nun sind aber unter Umständen noch andere Personen an diesen Gesprächen beteiligt, so beispielsweise SchulsozialarbeiterInnen, HeilpädagogInnen, Schulleitungen oder DolmetscherInnen. Auch aufseiten der Familienangehörigen ist der Begriff Eltern problematisch, da generell Erziehungsberechtigte oder aber auch andere Bezugspersonen mitgemeint sein können.4 Da also die Beteiligungsstruktur auf unterschiedliche Art variieren kann, scheint es mir wenig sinnvoll, diesen Begriff auf nur eine Beteiligtengruppe oder auf eine prototypische Beteiligungskonstellation zu reduzieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit spreche ich daher von Beurteilungsgesprächen und verwende damit einen in der schweizerischen Bildungslandschaft vermehrt verankerten Begriff (vgl. z.B. AVS 2005: Kap. 5; Vögeli-Mantovani 2011), der den Fokus nicht auf die Beteiligten, sondern auf die Kernaktivität der Gespräche setzt.

Im Folgenden wird das Forschungsfeld genauer betrachtet (Kap. 1.1), um dann die eigenen Forschungsinteressen und Fragestellungen (Kap. 1.2) sowie den Aufbau der vorliegenden Arbeit vorzustellen (Kap. 1.3).

1.1 Schulische Beurteilungsgespräche als Forschungsgegenstand

Die gesprächsanalytische und ethnografische Erforschung von Schul- und Unterrichtskommunikation hat in der Linguistik, der Soziologie und der Pädagogik eine längere Tradition und wurde ab den 1970er Jahren u.a. durch Arbeiten von Ehlich und Rehbein (1983; 1986), Kalthoff (1995), Mehan (1979), McHoul (1978; 1990) und neuere Beiträge von Becker-Mrotzek und Vogt (2009) sowie Vogt (2002) geprägt. Auch zur Nebenkommunikation innerhalb und ausserhalb des Unterrichts gibt es einige empirische, mehrheitlich ethnografische, Forschungsarbeiten (vgl. z.B. Baurmann, Cherubim & Rehbock 1981; Breidenstein & Kelle 1998; Breidenstein 2006), jedoch bleibt die Kommunikation an der Schnittstelle von Schule und Familie zunächst unerforscht. So stellt Sucharowski (2001) in einem Handbuchartikel zu Gesprächen in der Schule zwar verschiedene Gesprächskontexte inner- und ausserhalb des Unterrichtsgeschehens vor, erwähnt Beurteilungsgespräche aber nur kurz im Rahmen von Beratungsgesprächen. Bis vor Kurzem gab es erst vereinzelte Fallstudien aus dem angelsächsischen Raum sowie aus Schweden, weshalb auch die empirische Zuwendung zur Thematik des schulischen Beurteilungsgesprächs als Forschungsdesideratum erklärt wird (vgl. auch Kotthoff 2012a: 292). In der Zwischenzeit gibt es verschiedene laufende Projekte zu Beurteilungsgesprächen, die einen dezidiert empirischen Zugang verfolgen und so ist zu hoffen, dass in den kommenden Jahren neue Erkenntnisse über den Gesprächstyp erlangt werden können.

Während die Erforschung des Beurteilungsgesprächs also noch eine relativ junge Disziplin darstellt, ist der Gesprächstyp aber im Bereich der Ratgeberliteratur mit regelmässigen Neuerscheinungen dominant vertreten (vgl. aus den letzten Jahren z.B. Beier 2012; Richter 2011; Roggenkamp, Rother & Schneider 2014). Jedoch verfolgen ratgebende Texte grundlegend andere Interessen als gesprächsanalytische Studien. In Ratgebern wird in der Regel eine problemorientierte Perspektive eingenommen und es werden Lösungen und praktische Tipps vermittelt. Das bedeutet auch, dass gewisse Normvorstellungen darüber existieren, was ‚gute’ oder ‚gelungene’ Gespräche sind (vgl. auch Hauser & Mundwiler 2015a: 10). In der gesprächsanalytischen Forschungsrichtung hingegen wird ein Gesprächsereignis nicht normativ bewertet, sondern das Erkenntnisinteresse liegt auf der Frage nach den tatsächlich vorkommenden Praktiken in authentischen Gesprächssituationen: „Es geht also nicht darum, danach zu fragen, wie gut die Interagierenden ihre kommunikative Aufgabe lösen, sondern wie sie sie lösen“ (Hauser & Mundwiler 2015a: 12, Hervorhebung im Original).

Im Folgenden werden Ergebnisse aus den neuesten empirischen Forschungsarbeiten vorgestellt. Dabei geht es einerseits um Studienergebnisse aus der pädagogischen Forschungsliteratur (Kap. 1.1.1) und andererseits sollen erste Ergebnisse aus gesprächsanalytischen Studien diskutiert werden (Kap. 1.1.2), um den derzeitigen Forschungsstand abzubilden.

 

1.1.1 Ergebnisse aus Interview- und Fragebogenstudien

Walker (1998) berichtet in einer Interviewstudie aus England über grundsätzlich widersprüchliche Erwartungen an die Gespräche: Eltern möchten sich selbst einbringen können und sind frustriert über die fehlenden Fragen nach ihrer (Experten-)Sicht sowie über das monologische Abarbeiten von Themen vonseiten der Lehrpersonen. Diese hingegen betrachten die Gespräche als „public relations exercise to fulfil schools’ obligations of accountability“ (Walker 1998: 175) und sind demnach an einer möglichst raschen Informationsvermittlung zum aktuellen Stand in der Schule interessiert. Insbesondere bei den kürzer angelegten Gesprächen an Elternsprechtagen werden dann auch die knappen Zeitressourcen bemängelt und gleichzeitig die Sinnhaftigkeit solcher Interaktionen infrage gestellt (vgl. Lemmer 2012: 90f.; Walker 1998: 171).

In einer weiteren Studie von Walker (2002), die auch kleinere Ausschnitte aus Gesprächsaufnahmen diskutiert, wird die Rolle der SchülerInnen diskutiert. Die Befragungen zeigen sehr unterschiedliche Sichtweisen der Beteiligten zu Sinn und Notwendigkeit der Anwesenheit von SchülerInnen bei diesen Gesprächen, wobei Letztere durchaus teilnehmen wollen. Insgesamt kommt Walker (2002: 477) zum Schluss, dass die SchülerInnen zu wenig einbezogen werden und wenn sie anwesend sind, dann doch nur minimal beteiligt sind.

In einer grösser angelegten Fragebogenstudie in Deutschland wurden Schulleitungen, Lehrpersonen und Eltern zu Beratungsangeboten befragt und die Autorinnen kommen zum Schluss, dass die Beratungsangebote zwar als gut eingestuft werden, jedoch Eltern mit Migrationshintergrund sowie Eltern aus bildungsfernen Schichten weniger erreicht werden (vgl. Hertel et al. 2013). Die Schwierigkeit eines erfolgreichen Kontaktes zwischen Schulen und Familien mit Migrationshintergrund wird in zwei kanadischen Studien bestätigt (vgl. Bernhard et al. 1998; Peterson & Ladky 2007).

Interview- und Fragebogenstudien geben wichtige Einblicke in die Kontexte der Gesprächssituation und die Einstellungen der AkteurInnen. Aus gesprächsanalytischer Sicht ist jedoch die spezifische Interaktion als eigene sinnschaffende Aktivität im Zentrum des Interesses und eine Charakterisierung von Beurteilungsgesprächen als „a public relations exercise where nothing much is accomplished“ (Baker & Keogh 1995: 264; vgl. auch Walker 1998: 175) lädt geradezu ein, die tatsächlichen Ereignisse zu betrachten und zu analysieren (vgl. auch Baker & Keogh 1995: 265). Hierfür bietet die Gesprächsanalyse eine optimale Möglichkeit, mit dem Blick auf die kleinsten Details auch verborgene Aktivitäten zum Vorschein zu bringen. So zeigen dann auch bereits durchgeführte Studien, dass in diesen Interaktionen keineswegs ‚nichts erreicht wird’.