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Beurteilungsgespräche in der Schule

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2.1.3 Gesprächsanalyse und institutionelle Kontexte

Die Kommunikation in Institutionen wie Schulen, Arztpraxen, Medienunternehmen, Gerichtshöfen etc. ist in der konversationsanalytischen Forschung dominant vertreten und wurde entsprechend in ausführlichen Darstellungen zum Thema gemacht (vgl. z.B. Arminen 2005; Boden & Zimmerman 1991; Drew & Heritage 1992b; Drew & Sorjonen 1997; Heritage 2004; Heritage & Clayman 2010; McHoul & Rapley 2001). Institutionen werden typischerweise als Orte des zweck- und zielorientierten Handelns beschrieben (vgl. z.B. Drew & Heritage 1992a: 22f.; Ehlich & Rehbein 1980: 338). Jedoch gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie institutionelle von alltäglicher Kommunikation abgegrenzt werden kann und inwiefern Asymmetrien typisch für institutionelle Interaktionen sind. Diese Aspekte werden im Folgenden beleuchtet. Zudem wird abschliessend gezeigt, wann der Einbezug von Kontextinformationen für die Analyse institutioneller Gespräche sinnvoll sein kann.

Grundsätzlich schlagen Drew und Heritage (1992a: 19) eine komparativ angelegte Untersuchung von institutioneller und alltäglicher Kommunikation vor und gehen dabei davon aus, dass Alltagsgespräche sozusagen als Standard angenommen werden können, während Gespräche in Institutionen typischerweise Einschränkungen auf die Möglichkeiten der Ausgestaltung der Gespräche erfahren.1 Jedoch lässt sich eine häufig als ‚Dichotomie von Alltag und Institution’ bezeichnete Aufteilung nicht ohne Weiteres vollziehen, denn einerseits gibt es eine Vielzahl alltäglicher Institutionen (z.B. Familie, Schule) (vgl. Koerfer 2013: 23) und andererseits lassen sich typische institutionelle Praktiken auch in nichtinstitutionellen Kontexten beobachten (z.B. schulische Belehrungsmuster am Mittagstisch) (vgl. Birkner 2011: 2). Um der Auflösung dieser Dichotomie Nachdruck zu verleihen, veröffentlichten Birkner und Meer (2011) unter dem Titel Institutionalisierter Alltag einen Sammelband zur Thematik und Meer (2011: 35) zeigt durch ihr Verständnis von Alltag als „praktiken- und positionsspezifisch graduell unterschiedlich institutionalisiert“ ihre Ablehnung einer generalisierenden Sicht auf vermeintliche Oppositionen Alltag versus Institution.

In Bezug auf schulische Beurteilungsgespräche haben wir es mit der Kommunikation zwischen den zwei alltäglichen Institutionen Schule und Familie zu tun. Als ‚alltäglich’ bezeichnet Koerfer (2013: 23) Institutionen dann, wenn sie für alle Zugehörigen einer Kulturgemeinschaft mindestens temporär zum Alltag gehören. Schulische Beurteilungsgespräche werden demnach als inter-institutionelle Kommunikation beschrieben und Studien konnten zeigen, wie sich die Vertretenden dieser alltäglichen Institutionen in ihren entsprechenden Rollen als Lehrpersonen bzw. als Eltern begegnen (vgl. z.B. Baker & Keogh 1995; Kotthoff 2012a; Zorbach-Korn 2015).

Eng verbunden mit der problematischen Aufteilung in alltägliche und institutionelle Kommunikation ist der Begriff Asymmetrie, denn nicht selten wird allgemein von einer symmetrischen Alltagskommunikation und einer asymmetrischen Kommunikation in Institutionen ausgegangen (vgl. kritisch dazu Meer 2011: 32f.). Allerdings sind Asymmetrien und Ungleichheiten auf unterschiedlichen Ebenen grundlegend für jegliche Art der Kommunikation:

[I]f there were no asymmetries at all between people, i.e. if communicatively relevant inequalities of knowledge were non-existing, there would be little or no need for most kinds of communication! (Linell & Luckmann 1991: 4)

Auch Drew und Heritage (1992a: 48) argumentieren, dass es in dem Sinne in Gesprächen gar keine Symmetrie gebe, da sich auch in Alltagsgesprächen jeweils lokale Unterschiede, z.B. themenbezogene Unterschiede von Wissensständen, finden, die sich ständig wieder verschieben. Zudem ist alleine die lokale Unterscheidung der Beteiligungsrollen SprecherIn und HörerIn auf der Ebene einzelner Sprecherbeiträge asymmetrisch strukturiert (vgl. Linell & Luckmann 1991: 7). Mit Linell und Luckmann (1991: 4f.) gehe ich daher davon aus, dass Symmetrie auf lokaler Ebene eines einzelnen Sprecherbeitrags nicht sinnvoll beschrieben werden kann, sondern nur in Bezug auf längere Sequenzen untersucht werden soll. Von globalen Asymmetrien bezogen auf ein gesamtes Gespräch oder bezogen auf den Gesprächstyp kann allerdings erst gesprochen werden, wenn sich in institutionellen Kontexten lokale Asymmetrien an wichtigen Positionen im Gespräch (z.B. Eröffnung oder Beendigung) zugunsten der Institutionsvertretenden häufen (vgl. Brock & Meer 2004: 194). Es muss daher stets differenziert werden, ob es sich um lokale oder globale Ungleichheiten handelt und auf welcher Ebene sich die Asymmetrien manifestieren (z.B. Beteiligungsstrukturen, Wissensbestände). Brock und Meer (2004: 203) schlagen dann auch vor, Asymmetrien nicht voreilig mit globaler ausgerichteten Begriffen wie Macht, Dominanz oder Hierarchie gleichzusetzen, sondern neutral und lokal als „kommunikative Ungleichheit in Bezug auf ein spezifisches Kriterium oder Phänomen“ zu definieren.

Im Zusammenhang mit institutioneller Kommunikation und Asymmetrien wird auch häufig von der Experten-Laien-Kommunikation gesprochen. Gemäss Brünner und Gülich (2002: 20) verfügen dabei die ExpertInnen über professionelles, wissenschaftliches Wissen und die LaiInnen über nicht-professionelles Alltagswissen oder „subjektive Theorien“. Auch findet im Rahmen der Experten-Laien-Kommunikation typischerweise ein Wissenstransfer statt. In Bezug auf die inter-institutionelle Kommunikation zwischen Lehrpersonen und Eltern kann argumentiert werden, dass die subjektiven Theorien der Eltern ebenfalls strukturierter und professioneller Natur sein können, wenn es um erzieherische Fragen oder um Beobachtungen ihres Kindes geht, da sie sich dort auf ihr familiäres Expertenwissen stützen können. Ebenso können SchülerInnen als ExpertInnen für ihr eigenes Lernen betrachtet werden.

Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt wurde, versteht man in der klassischen Konversationsanalyse Kontext nur dann als relevant, wenn im Gespräch selbst darauf referiert wird. Hingegen wird davon abgesehen, weitere gesprächsexterne Informationen in die Analyse einzubeziehen, da die Gefahr besteht, dass Kontextfaktoren deterministisch für das Gesprächsverhalten betrachtet werden und so Erwartungen bezüglich typischer institutioneller Rollen und Abläufe mitbewertet werden. Trotz diesen Grundsätzen werden in Studien zur institutionellen Kommunikation häufig ergänzend zu den reinen Gesprächsdaten noch ethnografische Daten erhoben, um durch diese zusätzlichen Kontextinformationen ein ganzheitlicheres Verständnis der Institution zu erzielen. Diese methodische Erweiterung findet in der neueren Forschung zu institutionellen Bereichen vermehrt Zuspruch und wird im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls als wichtig und nötig erachtet. Es muss allerdings jederzeit transparent sein, welchen Stellenwert den zusätzlich erhobenen Daten beigemessen wird. So zeigt beispielsweise Maynard (2003: 65), dass unter Umständen ethnografische Analysen die Hauptanalyse ergänzen können, jedoch keineswegs als gleichwertige Daten zu betrachten seien. Denn das Hauptinteresse der Analyse bleibt die Aktivität des Gesprächs selbst und nicht das Setting. Dabei sieht Maynard insbesondere bei den folgenden ethnografischen Daten das Potenzial für die ergänzende Analyse: (1) die Beschreibung von Setting und Teilnehmenden; (2) Erklärungen zu spezifischen Abläufen und Termini, die LeserInnen nicht unbedingt geläufig sind (beispielsweise fachspezifisches oder institutionelles Wissen); (3) Erklärungen von ‚seltsamen’ Mustern in den Daten anhand von Zusatzwissen aus Interviews oder teilnehmender Beobachtung (Maynard 2003: 73ff.). Maynard begründet diese Wahl ethnografischer Daten folgendermassen: Wenn wir die Möglichkeit haben, anhand von ethnografischen Informationen das Setting und die Teilnehmenden minimal und im Hintergrund zu beschreiben, erleichtert das den Forschenden die Entscheidungen zu treffen, welche Phänomene für das Setting relevant sind und im Vordergrund diskutiert werden sollen. Ohne diese Hilfe müssen bei der Analyse theoretisch vorerst alle Aktivitäten – alle ‚doings’ – als relevant erachtet werden (vgl. Maynard 2003: 74). Weiter sei ein gewisses Fachvokabular nötig, um die Prozesse im Gespräch verstehen und analysieren zu können. Auch gibt es spezifische Muster oder Abläufe, die nicht alleine aus der Sequenzanalyse erschliessbar sind, sondern erst anhand von Zusatzwissen zu Abläufen in diesem Setting verstanden werden können (vgl. Maynard 2003: 74f.). Wichtig sei hier aber zu erwähnen, dass es sich um ein nachträglich vertieftes Verstehen der Analyse handelt, wenn die Sequenzanalyse an ihre Grenzen kommt. Keinesfalls sollen jedoch ethnografische Daten als Basis der Analyse genommen werden (vgl. Maynard 2003: 75f.). Auch Arminen (2005: 1) betont, dass ethnografisches Wissen insbesondere in institutionellen Settings notwendig sei, um die Besonderheiten der Interaktionen zu verstehen und die Relevanz einer spezifischen kommunikativen Praxis richtig einordnen zu können. Insgesamt kann festgehalten werden, dass es sich bei der Gesprächsanalyse primär um eine detailgetreue Analyse der Gespräche handelt und der Fokus auf dem lokalen Kontext liegt. Da die vorliegende Arbeit einen spezifischen institutionellen Gesprächstyp untersucht, werden ethnografische Daten in ergänzender Art und Weise einfliessen, wo dies zu einem vertieften Verständnis führt. Zu diesem Zweck sowie um einen umfassenderen Eindruck der Gesprächssettings zu ermöglichen, werden im Rahmen der Methodenreflexion und Datenpräsentation ergänzende ethnografische Daten diskutiert (vgl. Kap. 3).

 

In konversationsanalytischen Studien zu institutionellen Kontexten liegt der Fokus also auf den Praktiken, die als konstitutiv für eine spezifische Institution oder einen spezifischen institutionellen Gesprächstyp gelten (vgl. Arminen 2005: XV; Boettcher et al. 2005: 5). In diesem Kontext ist auch die von Heritage (1984a: 290) geprägte Beschreibung von Institutionen als ‚talked into being’ zu verstehen, wozu er weiter ausführt:

It is thus through the specific, detailed and local design of turns and sequences that ‚institutional’ contexts are observably and reportably – i.e. accountably – brought into being.

Heritage betont dabei das grundlegende Erkenntnisinteresse der ethnomethodologischen Konversationsanalyse, das darin liegt, die soziale Ordnung aufzudecken. Wenn Praktiken einer spezifischen Institution untersucht werden sollen, so muss beobachtet werden, wie die institutionellen AkteurInnen handeln und interagieren. In den institutionellen Interaktionen wird also aktiv mitgestaltet, was eine Institution ausmacht.

2.2 Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsbeteiligten

Gespräche sind per definitionem interaktiv gestaltet und bedingen daher, dass in irgendeinem Masse ein Austausch zwischen Gesprächsteilnehmenden zustande kommt. Es geht bei sprachlicher Kommunikation allerdings keineswegs um das reine Kodieren und Dekodieren von Informationen, sondern um die gemeinsame, interaktive Konstruktion von Sinn und Bedeutung. So besteht auch eine der Grundannahmen der Gesprächsanalyse darin, dass die Rollen von Sprechenden und Hörenden nicht klar getrennt werden können, sondern alle Gesprächsteilnehmenden jeweils durch ihre Anwesenheit das Gesagte mitprägen (vgl. z.B. Gülich & Mondada 2008: 43f.; Hitzler 2013: 111; Stukenbrock 2013: 240). Dieses grundlegende Prinzip der Interaktion wird mit dem Begriff recipient design1 beschrieben und geht auf Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) zurück. Seither taucht der Begriff häufig in der Forschungsliteratur auf, doch meist beschränkt sich die Diskussion auf eine Anerkennung der Wichtigkeit und der grundlegenden Bedeutung des Konzeptes für die Interaktion, jedoch ohne weitere Charakterisierung oder Problematisierung des Begriffs. So kritisieren Deppermann und Blühdorn (2013: 7), dass Recipient Design „zu den Konzepten der Konversationsanalyse [gehört], die häufig benutzt, doch nur selten zum ausdrücklichen Forschungsgegenstand geworden sind“ und Hitzler (2013: 112) spricht von einer vielfach „unreflektierte[n] Verwendung des Begriffs“. Offensichtlich wurde dieses Desideratum nun in der Forschungsgemeinschaft erkannt und so beschäftigen sich einige aktuelle, empirisch angelegte Studien mit Fragen zum Recipient Design (z.B. Deppermann & Blühdorn 2013; Hitzler 2013; Schmitt & Knöbl 2013; 2014).2

Neben dem konversationsanalytisch basierten Konzept des Recipient Designs wurden in anderen Disziplinen noch weitere verwandte Konzepte entwickelt, die sich ebenfalls mit der wechselseitigen Beeinflussung von Sprechenden und Hörenden beschäftigen und entsprechend die Interaktion und Kooperation zwischen Gesprächsteilnehmenden fokussieren. So hat etwa Grice (1975) mit seinen Theorien zu Maximen und Kooperationsprinzipien im Gespräch erste – wenn auch nicht empirisch basierte – Aspekte der interaktiven Kooperation formuliert. Brown und Levinson (1987) haben dann ausgehend von den Grice’schen Maximen und vom face-Begriff nach Goffman (1955; 1967; 1972) Theorien zur Höflichkeit entwickelt. Aus der Sozialpsychologie stammt die accommodation theory (z.B. Giles & Powesland 1975; Giles, Coupland & Coupland 1991), in der es v.a. um die sprachliche Anpassung an das Gegenüber geht und damit also um den Einfluss von Hörenden auf die Ausgestaltung der Äusserungen des/der Sprechenden (bezogen auf soziolinguistische Variablen wie Register, Stil, Varietät etc.). In eine ähnliche Richtung geht die Konzeption von audience design. Der Begriff geht auf Bell (1984; 2001) zurück, der allerdings seinerseits auf das konversationsanalytische Konzept des Recipient Designs verweist (vgl. Bell 2001: 141). Die ersten Untersuchungen von Bell (1984) sind v.a. quantitativ ausgerichtet und untersuchen die Variation von Stil in Relation zu unterschiedlichen Rezipierenden in medialen Kontexten. So wird dann auch typischerweise im Bereich der Massenmedien auf dieses Konzept verwiesen (vgl. Burger & Luginbühl 2014: 12). Burger und Luginbühl (2014: 23ff.) sprechen in diesem Zusammenhang auch von unterschiedlichen Kommunikationskreisen, um die für Massenmedien typischen Formen der Doppel- und Mehrfachadressierung adäquat zu beschreiben.

Aus den Kognitionswissenschaften und der Psychologie werden zudem die Begriffe joint action und interactive alignment (z.B. Garrod & Pickering 2009) verwendet, wenn es in der Interaktion zu einer Angleichung der mentalen Repräsentationen bei den Gesprächsteilnehmenden kommt. Und das Konzept theory of mind (Premack & Woodruff 1978; vgl. auch Beiträge in Förstl 2012a) untersucht und beschreibt „die Fähigkeit bzw. den Versuch eines Individuums, sich in andere hineinzuversetzen, um deren Wahrnehmungen, Gedanken und Absichten zu verstehen“ (Förstl 2012b: 4). Auch hier geht es also um die intersubjektive Kooperation in der Interaktion. Und schliesslich spielen geteilte Wissensbestände, wie dies den kognitionswissenschaftlichen und psycholinguistischen Konzeptionen von common ground (z.B. Clark 1996) zugrunde liegt, ebenfalls eine wichtige Rolle bei gesprächslinguistischen Überlegungen zur Interaktion und Kooperation.

Im Folgenden wird Recipient Design zunächst aus konversationsanalytischer Perspektive betrachtet und dann in den Zusammenhang mit den Theorien des Common Grounds und der Positionierung gestellt, welche als konstitutive Merkmale des Konzepts gelten (Kap. 2.2.1). In einem weiteren Teil werden die Praktiken des Recipient Designs unter Einbezug aktueller Untersuchungen dargestellt (Kap. 2.2.2) und abschliessend werden im Hinblick auf das untersuchte Datenmaterial die Spezifika der Mehrparteieninteraktion diskutiert (Kap. 2.2.3).

2.2.1 Recipient Design, Common Ground und Positionierung

Schon in den 1970er Jahren tauchen in den Vorlesungen von Sacks Hinweise auf die Konzeption des Recipient Designs auf, beispielsweise wenn er von der ständigen Fokussierung auf das Gegenüber als „orientation to co-participants“ (Sacks 1995: II: 564 [Spring 1972, lecture 5]) spricht. Später wird der noch heute verwendete Begriff von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974: 727) eingeführt und folgendermassen definiert:

By ‚recipient design’ we refer to a multitude of respects in which the talk by a party in a conversation is constructed or designed in ways which display an orientation and sensitivity to the particular other(s) who are the co-participants.

Recipient Design verweist also auf eine Vielzahl an Ressourcen und Praktiken, die im Gespräch eine Orientierung an den Gesprächsteilnehmenden aufzeigen. Es bleibt bei dieser Definition jedoch weitgehend unklar, was unter einer Orientierung an den Gesprächsteilnehmenden („orientation and sensitivity to the particular other(s)“) genau zu verstehen ist und wie sie untersucht werden kann.

Eine Orientierung an den Gesprächsteilnehmenden bedingt, dass Sprechende einschätzen können, in Bezug auf welche Aspekte der Redebeitrag auf eine Person zugeschnitten werden muss. Diese Einschätzungen können je nach Bekanntheitsgrad ad hoc oder erfahrungsbasiert gebildet werden. Jedoch kann eine Orientierung an den Anwesenden nur auf mehr oder weniger zutreffenden Annahmen basieren, die von Sprechenden über die Rezipierenden getroffen werden (vgl. Bergmann 1988: 41f.; Deppermann & Blühdorn 2013: 8f.; Hitzler 2013: 112f.). Bei der weiteren Ausdifferenzierung des Begriffs müssen gemäss Deppermann und Blühdorn (2013: 8f.) sprachlich-interaktive, kognitive und ontologische Aspekte betrachtet werden.

Recipient Design bezeichnet sprachlich-interaktive Praktiken, die von Sprechenden verwendet werden, um sich an erwartbaren Merkmalen der Gesprächsteilnehmenden zu orientieren. Diese Merkmale sind nur erwartbar, denn sie stützen sich auf Annahmen über „Wissen, Motive, Emotionen, Einstellungen, Erwartungen, wahrscheinliche Reaktionen etc.“ (Deppermann & Blühdorn 2013: 8) der Gesprächsteilnehmenden. Die interaktive Zuschreibung von Eigenschaften steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Positionierung und wird insbesondere unter dem Aspekt der Fremdpositionierung betrachtet (vgl. z.B. Deppermann & Blühdorn 2013: 8; Hitzler 2013). Schmitt und Knöbl (2013: 267f.) weisen jedoch auf die „strukturelle Reflexivität“ von Positionierungsaktivitäten hin:

Der eine Interaktionsbeteiligte repräsentiert durch sein recipient design nicht nur sein Gegenüber in der Interaktion in der Weise, dass er ihn/sie in interaktiv und sozial relevanter Weise positioniert. Der ‚Designer’ positioniert sich selbst in unmittelbar vergleichbarer Weise und macht auch sich selbst – vielleicht sogar in erster Linie – als spezifischen Teilnehmer mit bestimmten sozialen, kulturellen und interaktiven Besonderheiten sichtbar.

Aufgrund der Eigenschaft dieser doppelten Positionierungsleistung1 schlagen die Autoren dann auch vor, den Begriff participant design2 einzuführen und jeweils in der Analyse zu spezifizieren, welche Aspekte als fremdbezogen oder selbstbezogen betrachtet werden. Auch wenn diese begriffliche Neubestimmung durchaus überzeugend ist, soll in dieser Arbeit dennoch der Kontinuität zuliebe der in der Forschungsliteratur verankerte Begriff des Recipient Designs beibehalten werden. Die Konzeption der strukturellen Reflexivität von Positionierung und demnach von Recipient Design wird aber im Rahmen der Analysen weiterverfolgt (vgl. Kap. 2.4 zur Positionierung).

Weiter muss beachtet werden, dass es sich bei getroffenen Annahmen über das Gegenüber um kognitive Entscheidungen handelt, die durch ein entsprechendes Recipient Design erst sichtbar werden. Deppermann und Blühdorn (2013: 9) erfassen diesen Aspekt des Recipient Designs unter dem Begriff Partnermodell, da es sich um gegenseitige Partnerannahmen handelt, die sich auf die Ausgestaltung der Gesprächsbeiträge auswirken (können). Die Autoren betonen, dass nicht alle Annahmen, die über die Gesprächsteilnehmenden getroffen werden, auch in der Interaktion ersichtlich werden. Bei der Analyse ist also nur der Blick auf die tatsächlichen Praktiken des Recipient Designs möglich, die durch ihre indexikalische Funktion auf die Annahmen verweisen.

Unter dem ontologischen Aspekt diskutieren Deppermann und Blühdorn (2013: 9) schliesslich die Problematik der Perspektivität des Partnermodells. So handelt es sich bei den Annahmen immer um subjektive Zuschreibungen vonseiten der Sprechenden, die sich im besten Fall mit den Selbstzuschreibungen von Rezipierenden decken. So kommen Deppermann und Blühdorn (2013: 9) zum folgenden Schluss:

Ob das Partnermodell korrekt ist bzw. vom Partner akzeptiert wird, kann oft nur im Zuge interaktiver Aushandlung geklärt werden. Das Partnermodell ist nicht statisch, sondern wird im Lauf der Interaktion permanent aktualisiert.

Für Analysen des Recipient Designs bedeutet das also, dass wir sprachliche Praktiken untersuchen können, die Interpretationen der Annahmen und Zuschreibungen von Sprechenden über Rezipierende zulassen. Da die Annahmen interaktiv ausgehandelt werden und von den Gesprächsteilnehmenden gegebenenfalls akzeptiert oder abgelehnt werden, muss von ständig wechselnden Zuschreibungen ausgegangen werden. Schmitt und Knöbl (2013: 248) sprechen im Zusammenhang mit der interaktiven Aushandlung des Recipient Designs auch von der „sequenzielle[n] Intersubjektivierung“ und beobachten, dass sich das Recipient Design in gemeinsam ausgehandelten Sequenzen über drei Phasen hinweg manifestiert, nämlich über Angebot, Reaktion und Ratifikation.

Wenn davon ausgegangen wird, dass Gesprächsbeiträge jeweils ausgehend von eigenen Annahmen über das Gegenüber gestaltet werden, so geht es beim Recipient Design in anderen Worten darum, Annahmen zum gemeinsamen Wissen zu bilden und laufend zu aktualisieren. Dieses gemeinsame Wissen ist auch unter dem Konzept common ground oder grounding bekannt (vgl. Clark 1996; Clark & Brennan 1991; Clark & Schaefer 1989; Stalnaker 2002) und lässt sich mit der Konzeption des Recipient Designs vergleichen (vgl. zum Zusammenhang von Recipient Design und Common Ground auch Deppermann & Blühdorn 2013: 9f.). Auch Clark (1996: 92) erkennt die Problematik des tatsächlichen und des nur vorausgesetzten Wissens:

 

Everything we do is rooted in information we have about our surroundings, activities, perceptions, emotions, plans, interests. Everything we do jointly with others is also rooted in this information, but only in that part we think they share with us. The notion needed here is common ground.

Aus dieser Einführung zum Common Ground geht deutlich hervor, dass wir uns bei Interaktionen (als Form einer gemeinsamen Aktivität) grundsätzlich auf das als geteilt angenommene Wissen verlassen und dabei keine Aussage über tatsächlich vorhandene Wissensbestände beim Gegenüber machen können. Gemäss Jucker und Smith (1996: 2) umfasst Common Ground einerseits das vermutete gemeinsame Wissen und andererseits auch die lokalen Entscheidungen bei der sprachlichen Ausführung, wie z.B. die Einschätzung, welche Referenzen im gegebenen Kontext für die Rezipierenden klar und unmissverständlich sind. Beispielsweise reicht in einer denkbaren Situation in einem Beurteilungsgespräch die Namenreferenz Frau Schütz aus, wenn allen Anwesenden bekannt ist, wer Frau Schütz ist. Sollte dieses Wissen jedoch nicht allen bekannt sein, müsste weiter präzisiert werden, dass es sich bei Frau Schütz z.B. um die Klassenlehrerin der Parallelklasse handelt. Ist dieses Wissen im Gespräch etabliert und ratifiziert, kann im späteren Verlauf des Gesprächs eine unkommentierte Namenreferenz ausreichen. Jede Äusserung in der Interaktion ergänzt und bestätigt die Annahmen über vorhandene Wissensbestände beim Gegenüber. Deppermann und Blühdorn (2013: 10) sprechen zur weiteren Differenzierung von individual ground, um die vermuteten Wissensbestände bei Adressierten zu bezeichnen. Demnach ist es eine der Hauptaufgaben des Recipient Designs, die Inhalte der individuellen Wissensbestände von Sprechenden und Rezipierenden als Common Ground zu etablieren und auszuhandeln.

Wie die Definitionen zeigen, umfasst Recipient Design als Konzept sowohl die Aushandlung von Wissensbeständen als auch die Zuschreibung von Identitäts- und Beziehungsmerkmalen. Dadurch steht das Konzept des Recipient Designs den Theorien des Common Grounds und der Positionierung sehr nahe.

Es stellt sich hier abschliessend die Frage, ob es sich beim Recipient Design um eine grundsätzliche Charaktereigenschaft eines jeden Gesprächsbeitrags handelt oder ob eine Äusserung auch ‚nicht recipient designed’ sein kann. In der ursprünglichen Konzeption des Begriffs wird diese Frage offen gelassen, allerdings wird in derselben Publikation vermerkt, dass Recipient Design „perhaps the most general principle which particularizes conversational interactions“ (Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 727) sei. Auch Deppermann (2008a: 81) bezeichnet Recipient Design als nicht vermeidbare Aufgabe bei jedem Gesprächsbeitrag. Diesen Feststellungen sowie den Überlegungen von Schmitt und Knöbl (2013) schliesse ich mich an und verstehe Recipient Design als grundlegendes Prinzip mündlicher Kommunikation. Demnach sind Gesprächsbeiträge „nicht-hintergehbar recipient designed“ (Schmitt & Knöbl 2013: 247),3 da sie in der Interaktion entstehen und dadurch immer an jemanden gerichtet sind. Es sollte also nicht in erster Linie um die Frage gehen, ob ein Gesprächsbeitrag ‚recipient designed’ ist oder nicht, sondern es handelt sich beim Recipient Design um eine mögliche Analyseperspektive4 auf ein Phänomen, welches theoretisch in jedem Gespräch untersuchbar wäre.