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Beurteilungsgespräche in der Schule

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2.2.2 Lokale Ausrichtung am Gegenüber

Im Folgenden gilt es zu klären, welche Praktiken des Recipient Designs bzw. welche Design-Aktivitäten (Schmitt & Knöbl 2014: 95ff.) von den Gesprächsteilnehmenden eingesetzt werden. Schmitt und Knöbl (2014: 96) führen den Begriff der Design-Aktivitäten ein, um zwischen den „einzelnen lokalen, im Zweifelsfall gut isolierbaren Aktivitäten mit Design-Relevanz“ und dem „Recipient Design als kohärentes und konsistentes Gesamt einzelner lokaler Design-Aktivitäten“ zu differenzieren. Demnach sind es die konkreten Design-Aktivitäten, die sich in der Interaktion im spezifischen Kontext untersuchen lassen. Das Recipient Design hingegen ist u.a. das Ergebnis dieser dynamischen, situierten Aktivitäten und umfasst eine „ganzheitliche Konzeption des Anderen mit unterschiedlichen sozial-kategorialen Facetten und Implikationen“ (Schmitt & Knöbl 2014: 96). Die Ausprägung des Recipient Designs lässt sich somit erst auf einer Makroebene, und dies jeweils fallbezogen, beantworten.

In der ursprünglichen Konzeption des Recipient Designs von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974: 727) bleiben die Ausführungen in Bezug auf die relevanten Praktiken mit der Formulierung „a multitude of respects“ noch sehr allgemein. In den weiteren Ausführungen wird – allerdings erst unspezifisch – darauf verwiesen, dass sich die Hinwendung zu den Rezipierenden auf verschiedenen Ebenen der Ausgestaltung des Turns aufzeigen lässt, wie beispielsweise bei der Wortwahl, der Abfolge von Äusserungen sowie der Art und Weise der Gesprächseröffnung und -beendigung. Welche spezifischen Praktiken hierbei eine Rolle spielen, zeigen die im Folgenden vorgestellten Forschungsarbeiten, die sich mit Aspekten des Recipient Designs beschäftigt haben.

Frühe Untersuchungen zum Recipient Design beschäftigen sich insbesondere mit Personenreferenzen (vgl. z.B. Goodwin 1981; Lerner 1996a; Malone 1997; Sacks & Schegloff 1979; Schegloff 1996a). So kann je nach Verwendung der Referenzen angezeigt werden, wer aktuell mit einer Äusserung erreicht werden möchte, in welchem Verhältnis Personen zueinander stehen und wem welche Beteiligungsrollen zugestanden werden (vgl. z.B. Malone 1997: 42ff.).

Weiter zeigt Maynard (1991a; 1991b; 1992; 1996; 2003) in seinen Studien zur Übermittlung guter und schlechter Nachrichten im medizinischen Bereich, wie ÄrztInnen in mehrschrittigen Verfahren die Perspektive der Rezipierenden bearbeiten. Durch diese Perspektivenübernahmen oder sogenannten perspective display series beziehen sie die Sicht der Rezipierenden im Design ihrer nachfolgenden Nachricht mit ein. Ebenfalls im Zusammenhang mit verzögertem Überbringen von Nachrichten und dadurch starker Ausrichtung am Gegenüber, lassen sich schliesslich Schegloffs (1980) frühe Untersuchungen zu preliminaries to preliminaries betrachten. Und Pomerantz (1984) untersucht in ihrem vielrezipierten Aufsatz, dies jedoch ohne Bezugnahme auf das Konzept des Recipient Designs, die interaktive Herstellung und Bearbeitung von Bewertungen. An diese Studien knüpft Malone (1995; 1997) an und schlägt vor, das Identitätskonzept altercasting (vgl. Weinstein & Deutschberger 1963) als Form des Recipient Designs zu betrachten. Mit altercasting werden Selbst- und Fremdpositionierungen projiziert und dadurch intersubjektiv hergestellt.1 Malone (1997: 106ff.) beobachtet dabei Mechanismen der perspective display series, die es ermöglichen, eigene Positionierungen erst nach gemeinsam etablierten Perspektiven anzubringen. Damit zeigt Malone erstmals die Verbindung zwischen Positionierung und Recipient Design auf.

Grundsätzlich sind all diejenigen Praktiken in den Zusammenhang mit dem Recipient Design zu setzen, die dazu dienen, gemeinsames Verstehen auszuhandeln und sicherzustellen, dass das Gesagte als Teil des Common Grounds gelten kann (vgl. Deppermann & Blühdorn 2013: 10; vgl. auch Deppermann 2008b; Hitzler 2012: 131ff.). Dazu gehören Rückmeldeverhalten, Reparaturen2 und Reformulierungen, die vielfach in der konversationsanalytischen Forschung thematisiert werden, wenn auch häufig keine explizite Verbindung zu dem Konzept des Recipient Designs hergestellt wird. Deppermann und Blühdorn (2013) zeigen beispielsweise in ihrer Studie, dass Negation als verstehenssteuerndes Verfahren und damit als spezifische Design-Aktivität betrachtet werden kann. So können durch Negationen mögliche Interpretationen des Gesagten, die jedoch nicht intendiert sind, bei den Gesprächsteilnehmenden ausgeschlossen werden.

Schmitt und Knöbl (2013; 2014) stellen schliesslich erste Überlegungen zum multimodalen Recipient Design an und zeigen, dass zusätzlich zur Verbalität weitere Ressourcen wie Blickverhalten, Körperausrichtung und Gestik das Recipient Design beeinflussen. Für die multimodale Interaktionsforschung muss daher auch die bisherige Konzeption überdacht und erweitert werden. Schmitt und Knöbl nehmen Präzisierungen des Konzepts vor, die auch für die folgenden Überlegungen wichtig sind, obschon die vorliegenden Daten keine multimodale Analyse zulassen.

Die Ausführungen zu Design-Aktivitäten können nicht als abschliessende Zusammenschau verstanden werden, sondern es soll damit aufgezeigt werden, welche Breite das Konzept des Recipient Designs abdeckt und welche Aspekte als für das Konzept konstitutiv betrachtet werden. In der empirischen Analyse der vorliegenden Studie sollen Praktiken der Adressierung und des Gebrauchs von Referenzen in den Zusammenhang gebracht und auf ihre Funktionen hin untersucht werden. Weiter soll es darum gehen, die für schulische Beurteilungsgespräche typischen Positionierungsaktivitäten zu spezifizieren.

2.2.3 Aufgaben und Herausforderungen in der Mehrparteieninteraktion

Im Vergleich zu dyadischen Gesprächen sehen sich Gesprächsteilnehmende in Mehrparteieninteraktionen mit zusätzlichen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert, die massgeblich mit dem Recipient Design und der Gesprächsorganisation in Verbindung stehen (vgl. z.B. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974: 712ff.; Schegloff 1996b: 19ff.). Zum einen müssen sich Gesprächsteilnehmende jeweils gleichzeitig an mehreren Rezipierenden orientieren und ihre Äusserungen so gestalten, dass möglichst alle Beteiligten in Bezug auf ihre Wissensbestände, Rollen etc. optimal berücksichtigt werden (vgl. Hitzler 2012: 117ff.; 2013: 113ff.). Zum anderen kann in Gruppengesprächen im Prinzip jede anwesende Person den nächsten Turn übernehmen und so muss angezeigt werden, wer beispielsweise auf eine Frage antworten soll. Die Zuweisung des Rederechts gewinnt dadurch an zusätzlicher Bedeutung und kann durch spezifisches Turn Design und durch die Verwendung von Adressierungsformen und Referenzen verdeutlicht werden (vgl. z.B. Malone 1997: 42ff.; Schegloff 1996b: 20).

Da in Mehrparteieninteraktionen davon ausgegangen werden muss, dass die einzelnen Beteiligten über verschiedene Wissensbestände verfügen, zeigt sich eine Komplexität des Recipient Designs bei der Konstruktion von Common Ground. Wenn nicht alle Gesprächsbeteiligten über das in der Interaktion relevante Wissen verfügen, kann es zur Situation kommen, dass an verschiedenen Stellen Wissen für das Gespräch aufbereitet wird, über das mindestens eine rezipierende Person bereits verfügt und für den/die das Gesagte nur eine Wiederholung ist. Sacks beurteilt eine derartige Wiederholung vor denselben Rezipierenden als Missachtung der Maxime des Recipient Designs, welches bei ihm lautet: „A speaker should, on producing the talk he does, orient to his recipient“ (Hervorhebung im Original entfernt) und woraus er die logische Konsequenz zieht, dass „if you’ve already told something to someone then you shouldn’t tell it to them again, or if you know in other ways that they know it then you shouldn’t tell it to them at all“ (Sacks 1995: II: 438 [Fall 1971, lecture 4]). So formuliert mag die Maxime auf dyadische Interaktionen zutreffen, wo die Orientierung am Gegenüber implizieren kann, dass Wissen nicht wiederholt für diese Person aufbereitet wird. In der Mehrparteieninteraktion scheint es jedoch fast unmöglich zu sein, dieser Maxime gerecht zu werden, da unterschiedliche Rezipierende nicht denselben Wissensstand aufweisen. Die Maxime macht insofern nur dann Sinn, wenn davon ausgegangen wird, dass eine Äusserung einen Neuigkeitswert für mindestens eine anwesende Person aufweist. M.E. lässt Sacks’ Formulierung diese Lesart offen, im Gegensatz dazu geht jedoch Hitzler (2013: 113) davon aus, dass gemäss Sacks „nicht problemlos eine Erzählung wiedergegeben werden [kann], wenn unter den anwesenden Empfängern eine Person ist, die diese Erzählung bereits kennt“. Folgt man dieser Interpretation, so hat die Maxime in vielen Mehrparteieninteraktionen keine Geltung. In den folgenden Analysen soll aber weniger von einer Missachtung der Maxime ausgegangen werden, sondern die Maxime soll als Ausgangspunkt der Betrachtung genommen werden. Interessant ist etwa, diejenigen Kontexte zu untersuchen, in denen Wissen aufbereitet wird, welches mindestens einer anwesenden Person schon bekannt ist.

In Bezug auf die Adressierung drängt sich in Mehrparteieninteraktionen eine begriffliche Differenzierung auf, um zwischen gemeinten und tatsächlichen Rezipierenden zu unterscheiden. In den unterschiedlichen Untersuchungen und Konzeptionen des Recipient Designs tauchen die Begriffe AdressatInnen, RezipientInnen und Gesprächsteilnehmende mit teilweise anderen Implikationen auf. In Anlehnung an Levinson (1988: 171ff.) werden als Adressierte diejenigen Rezipierenden verstanden, die direkt adressiert werden. Die Adressierung kann auf drei Ebenen erfolgen: durch sprachliche Adressierungsformen, durch ein spezifisches Recipient Design sowie durch die Körperorientierung (Gesten, Blickverhalten) bzw. durch eine Kombination der verschiedenen Verfahren (vgl. Hartung 2001: 1348ff.; Levinson 1988: 174), wobei allerdings in den vorliegenden Audiodaten nur erstere Verfahren untersucht werden können. Als sprachliche Adressierungsformen zählen Personalpronomen, Eigennamen, Titel oder auch Code-Switching (vgl. Hartung 2001: 1351; Levinson 1988: 179). Der Begriff der Rezipierenden gilt für all diejenigen, die mit dem Gesagten erreicht werden wollen, für die also eine Äusserung gestaltet wird (vgl. Konzeption des Recipient Designs). Gesprächsteilnehmende schliesslich sind ratifizierte Beteiligte der Interaktion. Die weitere Ausdifferenzierung der Beteiligungsrollen ist Bestandteil der folgenden Überlegungen (vgl. v.a. Kap. 2.3.1).

 

2.3 Organisation interaktiver Beteiligung

Mit dem Recipient Design hängt auch unmittelbar die Ausgestaltung und Organisation interaktiver Beteiligung zusammen, denn bei der gemeinsamen Aushandlung der jeweiligen Beteiligungsrolle ist die Ausrichtung am Gegenüber unumgänglich. Grundsätzlich lässt sich für die Beteiligungsrollen festhalten, „dass Sprecher – in ihrer Sprecherrolle – auch hören und dass Hörer, während sie zuhören, auch sprechen“ (Schwitalla 1993: 69). Im Folgenden werden die Beteiligungsrollen zuerst isoliert auf Rezeptions- und Produktionsseite betrachtet, um schliesslich das Zusammenwirken der Gesprächsteilnehmenden in der Interaktion zu diskutieren.

2.3.1 Beteiligungsrollen in der Interaktion

Von Goffman (1981), und später ausführlicher von Levinson (1988), wird eine begriffliche Ausdifferenzierung der Kategorien HörerIn und SprecherIn vorgeschlagen, die der Komplexität der möglichen Aktivitäten gerecht werden soll. Seine Überlegungen zu den verschiedenen Rollen der Beteiligten beginnt Goffman (1979; 1981)1 mit der Einführung des Begriffs footing, was soviel bedeutet wie „the alignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance“ (Goffman 1981: 128). Levinson (1988: 163) ersetzt footing durch den Begriff participant role, welcher hier mit Beteiligungsrolle übersetzt wird. Während die Ausführungen von Goffman theoretischer Natur sind, versucht Levinson (1988: 164f.) empirische Evidenzen für die vorgeschlagenen Konzeptionen zu liefern und präsentiert weitere Einteilungen, die auf seinen Analysen zu grammatischen Kategorien in verschiedenen Sprachen und zum tatsächlichen Sprachgebrauch basieren.

Im Folgenden werden zuerst die Beteiligungsrollen aufseiten der Rezipierenden dargestellt. Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass in der Mehrparteieninteraktion die Anwesenden unterschiedliche Rollen einnehmen. Die Beteiligungsrollen aufseiten der Sprechenden sind im ersten Moment hingegen nicht so klar ersichtlich wie diejenigen aufseiten der Rezipierenden. Gemeint ist unter anderem, dass Sprechende nicht nur ihre eigenen Positionen vertreten, sondern auch Redeanteile von anderen Figuren in die eigene Rede einbetten. Es geht in dieser Diskussion also u.a. um verschiedene Arten der Redewiedergabe.

Beteiligungsrollen der Rezipierenden

Rezipierende können auf ganz unterschiedliche Art in einer Interaktion beteiligt sein, weshalb Goffman (1981: 131ff.) den Beteiligungsrahmen (participation framework) entwickelt und unterschiedliche Beteiligungsrollen unterscheidet. Dadurch wird erstmals eine Differenzierung der Gesprächsbeteiligten vorgenommen, die eine Untersuchung dessen erlaubt, welche Rezipierenden die hauptsächlich gemeinten und welche eher zufällige Mithörende einer Äusserung sind. Grundsätzlich nimmt er eine Unterteilung in ratifizierte und nicht-ratifizierte Beteiligte vor, wobei erstere einen ‚offiziellen’ Teilnahmestatus haben und letztere eher zufällige Rezipierende einer Aussage werden.

Bei den ratifizierten Beteiligten unterscheidet Goffman (1981: 133) im Falle von Mehrparteieninteraktionen die adressierten und die nicht-adressierten Rezipierenden. Adressierte Rezipierende sind

oriented to by the speaker in a manner to suggest that his words are particularly for them, and that some answer is therefore anticipated from them, more so than from the other ratified participants (Goffman 1976: 260).

Sie zeichnen sich also einerseits dadurch aus, dass von ihnen gelegentlich die Turnübernahme erwartet wird. Andererseits sind die adressierten Rezipierenden auch diejenigen, für die eine optimale Ausgestaltung des Recipient Designs vorliegt ( „oriented to by the speaker in a manner to suggest that his words are particularly for them“). Diese Verbindung von Beteiligungsrollen und Recipient Design wird von Goffman nicht hergestellt, jedoch ist die Nähe der beiden Konzeptionen kaum zu übersehen. Was Goffman hier unter Adressierung versteht, kann m.E. als Design-Aktivitäten verstanden werden (vgl. Kap. 2.2).

Während die Adressierung zwar teilweise sprachlich realisiert wird, spielen Blickverhalten und Körperzuwendung eine wichtige Rolle und so muss bei einer umfassenden Analyse der Adressierung die multimodale Umsetzung mitbeachtet werden (vgl. Goffman 1981: 133; Lerner 2003: 178). Vor diesem Hintergrund werden für die Analysen zu den Beteiligungsrollen (vgl. Kap. 6) insbesondere Sequenzen gewählt, die beispielsweise aufgrund ihrer expliziten verbalen Adressierung eine Aussage zulassen. Als explizite Adressierung werden die namentliche Adressierung sowie die Anredepronomen gezählt (vgl. Lerner 2003: 178, 182ff.), welche im Falle des Deutschen eine eindeutige Referenz sein können, wenn beispielsweise eine Lehrperson zu einem Kind (Verwendung von du) oder zu einer anderen erwachsenen Person (Verwendung von Sie) spricht.1

Die Kategorie der nicht-ratifizierten Beteiligten nennt Goffman (1981: 132) bystanders und gliedert sie in zufällig Mithörende (overhearers) und absichtlich Lauschende (eavesdroppers). Bei beiden Untergruppen betont er den nicht-offiziellen Status der Teilnehmenden. Allerdings können Sprechende die nicht-ratifizierten Beteiligten unter Umständen auch wahrnehmen, beispielsweise wenn sich Personen in Hörweite befinden, sie aber dennoch nicht zu den ratifizierten Beteiligten der fokussierten Interaktion gehören. So ist bei vielen Gesprächen im öffentlichen Raum die Anwesenheit von nicht-ratifizierten Beteiligten durchaus die Regel (vgl. Goffman 1981: 132). Hingegen kann bei den vorliegenden Daten von schulischen Beurteilungsgesprächen in jedem Fall von offiziellen Gesprächsteilnehmenden gesprochen werden, da die Gespräche in geschlossenen Räumen stattfinden und alle Teilnehmenden auch ratifizierte Beteiligte des Gesprächssettings sind.

Levinson (1988) hat in Bezug auf Goffmans Beteiligungsrahmen eine wichtige Ergänzung angebracht. So zeigt er, dass die Beteiligungsrollen aufseiten der Rezipierenden (participant roles) in ein sehr viel komplexeres Gefüge einbezogen werden können, nämlich beispielsweise wenn nicht-adressierte Rezipierende der Interaktion die eigentlich gemeinten Adressierten sind (indirect target) (vgl. Levinson 1988: 173, 210ff.). In Beispielen zeigt Levinson (1988: 211f.), dass typischerweise indirekt adressierte Rezipierende unmittelbar auf Äusserungen, die an eine andere Person gerichtet, aber für sie gemeint sind, antworten. Dies wiederum bestätige, dass die Adressierung gelegentlich eine Turnübergabe an die adressierte Person bewirkt. Die Schwierigkeit, die sich bei der Analyse (aber v.a. auch für die Interagierenden selbst) ergibt, ist es, die gemeinten Beteiligungsrollen in der Interaktion zu erkennen. Levinson (1988: 212f.) nennt als Indikatoren u.a. die sequenzielle Umgebung der Äusserung, das Turn Design, Referenzen der dritten Person auf die indirekt adressierte Person oder Blickzuwendungen nach der Äusserung. Hier wird deutlich, dass die Kategorie der ratifizierten Adressierten ungenügend definiert ist, wenn nicht auch die indirekt adressierten Rezipierenden beachtet werden.

Beteiligungsrollen beim Produzieren von Äusserungen

Goffman (1981: 145) kritisiert, dass beim Gebrauch des Begriffs SprecherIn meist nicht unterschieden wird, ob beim Sprechen bloss die eigene Stimme geliehen wird oder ob es sich auch um die eigenen Worte und/oder die eigene Position handelt. Vielmehr werden alle drei Rollen in einem Begriff impliziert – eine Vereinfachung, die jedoch nicht grundsätzlich überrasche, da sie häufig auch zutreffe.1 Für einige Fälle des Sprechens sei jedoch eine Differenzierung nötig und so führt Goffman (1981: 144ff.) in der Kategorie des Produktionsformats (production format) die Begriffe AnimatorIn (animator), AutorIn (author) und AuftraggeberIn (principal) ein. Der bzw. die AnimatorIn übernimmt die physische Produktion einer Äusserung und ist in Goffmans Worten eine sounding box oder talking machine (Goffman 1981: 144).2 In Fällen, in denen die geäusserten Worte jedoch inhaltlich und formell von einer weiteren Person zu verantworten sind, trifft die Rolle des Autors bzw. der Autorin zu. Und schliesslich nennt Goffman Situationen, in denen die soziale Verantwortung weder bei der sprechenden, noch bei der formulierenden Person liegt, sondern bei dem bzw. der AuftraggeberIn: „someone whose position is established by the words that are spoken, someone whose beliefs have been told, someone who is committed to what the words say“ (Goffman 1981: 144). Diese Rolle äussere sich beispielsweise dadurch, dass Personen von wir anstatt ich sprechen und dadurch nur als Vertretende einer grösseren Gemeinschaft auftreten, was gerade in institutioneller Kommunikation typisch ist (vgl. z.B. Drew & Heritage 1992a: 30f.; Levinson 1988: 203).

Diese drei Beteiligungsrollen auf der Produktionsseite können dahingehend verändert werden, dass Sprechende sich selbst oder andere Personen als Figuren in der Rede einbetten können:

[A]s speaker, we represent ourselves through the offices of a personal pronoun, typically ‚I’, and it is thus a figure – a figure in a statement – that serves as the agent, a protagonist in a described scene, a ‚character’ in an anecdote, someone, after all, who belongs to the world that is spoken about, not the world in which the speaking occurs. (Goffman 1981: 147, Hervorhebung im Original)

Sprechende können sich selbst in die Rede einbeziehen und dadurch eine eingebettete Figur animieren, was durch Redewiedergabe oder durch metakommunikative Äusserungen (z.B. Ich wollte damit ausdrücken, dass…) erreicht werden kann. Die Figur entspricht in diesem Fall dem bzw. der eingebetteten AnimatorIn, weshalb auch von zwei AnimatorInnen gesprochen werden kann:

[T]wo animators can be said to be involved: the one who is physically animating the sounds that are heard, and an embedded animator, a figure in a statement who is present only in a world that is being told about, not in the world in which the current telling takes place. (Goffman 1981: 149)

Es geht Goffman in dieser ersten Darstellung erst um das Einbetten der eigenen Figur, wenn wir nämlich beim Sprechen auf uns selbst verweisen. Dabei macht er den Unterschied zwischen dem beschriebenen Setting und dem tatsächlichen Setting der Äusserung. Jedoch zeigt Goffman an späterer Stelle, dass der Begriff der eingebetteten Figur nicht nur auf die sprechende Person zutrifft und also eine Figur nicht unbedingt dem bzw. der eingebetteten AnimatorIn entsprechen muss, sondern auch eingebettete AutorInnen und AuftraggeberInnen möglich sind:

Following the same argument, one can see that by using second or third person in place of first person we can tell of something someone else said, someone present or absent, someone human or mythical. We can embed an entirely different speaker into our utterance. (Goffman 1981: 149, Hervorhebung im Original)

Goffman (1981: 128, 151) spricht also von einem Wechsel der Beteiligungsrollen (change in footing), wenn Sprechende durch die Wiedergabe fremder oder eigener Rede (oder Gedanken) Figuren einbetten. Dieser Wechsel zeigt sich insbesondere darin, dass die drei vorgestellten Rollen (AnimatorIn, AutorIn und AuftraggeberIn) nicht mehr durch dieselbe Person ausgeführt werden, sondern teilweise an die Figur übergehen. Wie aus den zitierten Stellen hervorgeht, kann es sich bei der eingebetteten Figur um die eigene Person handeln, um eine andere – anwesende oder abwesende – Person, oder gar um eine fiktive Person.

 

Für Levinsons leicht abweichende Aufgliederung der Beteiligungsrollen auf der Produktionsseite – bei ihm production roles genannt – sei auf seine Darstellungen verwiesen (Levinson 1988: 170ff.). Hier möchte ich v.a. auf einen Punkt eingehen, nämlich auf seinen Hinweis, dass sich bei der indirekten Redewiedergabe auch die übermittelnde Person (AnimatorIn bzw. transmitter bei Levinson) an der Ausgestaltung des Gesagten beteiligt und eine Trennung der Rollen folglich schwierig ist. So lässt sich nicht genau unterscheiden, bei wem die inhaltliche (AutorIn bzw. composer bei Levinson) und soziale Verantwortung (AuftraggeberIn bzw. motivator bei Levinson)3 liegt und folglich ist die eingebettete Figur nicht ohne Weiteres als Verantwortende für Form und Inhalt anzusehen (vgl. Levinson 1988: 177). Eine begriffliche Bestimmung kann in solchen Fällen kaum zufriedenstellend vollzogen werden.

Levinson bezieht seinen Hinweis auf die indirekte Redewiedergabe und vollzieht damit eine gängige Trennung zwischen direkter Redewiedergabe, welche eine wörtliche Übernahme der Originaläusserung meint, und der indirekten Redewiedergabe, welche nur den Inhalt, jedoch nicht die Form des tatsächlich Geäusserten wiedergibt. Dass sich jedoch auch bei der direkten Redewiedergabe keine klare Trennung der Beteiligungsrollen ziehen lässt und Sprechende bei der Realisierung einer direkten Redewiedergabe ebenfalls die Form und auch den Inhalt mitgestalten können, zeigt die jüngere Forschung zur Redewiedergabe (vgl. z.B. Brünner 1991; Ehmer 2011; 2013; Günthner 1997; 1999; 2000a; 2002; 2009; Imo 2009; König 2013; Kotthoff 2005; 2008; Mayes 1990). So bezweifelt beispielsweise Günthner (1997: 229), ob die exakte, wortwörtliche Redewiedergabe überhaupt möglich sei (man bedenke dabei auch die Prosodie, Stimmqualität, Pausen etc.) und betont, dass Faktoren wie Intention, Kontext und lokale Interpretation der Redewiedergabe die Äusserung beeinflussen:

[D]ie Darstellungsweise der zitierten Rede orientiert sich an den interaktiven Absichten, dem kommunikativen Kontext und der gemeinsamen Interpretationsaushandlung der Interagierenden. (Günthner 1997: 229)

Die interaktiven Absichten beim Gebrauch der Redewiedergabe können vielfältig sein und finden v.a. in den Arbeiten von Günthner Beachtung. Als eine der wichtigsten Funktionen hebt Günthner (1997; 1999; 2000a; 2002; 2009), aber auch andere AutorInnen (z.B. Bublitz & Bednarek 2006; Ehmer 2011; Kotthoff 2005), die Bewertungsleistung der Redewiedergabe hervor. Die Bewertung kann sich dabei sowohl auf die Person beziehen, die für das Gesagte ursprünglich verantwortlich war, als auch auf die Form oder den Inhalt des Gesagten:

Evaluation is the central pragmatic function of reported speech. It can be related to its three main components: the source (who is responsible for the reported proposition), the reporting expression (referring to the source’s saying), and the reported proposition(s) (what is reported). (Bublitz & Bednarek 2006: 550)

Neben der Intention spielt der Kontext eine wichtige Rolle. So spricht Günthner (1997: 229) bei der Redewiedergabe grundsätzlich von einer De- und Rekontextualisierung, da eine zitierte Äusserung jeweils aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgegriffen und in einen neuen Kontext integriert wird, was unweigerlich eine Veränderung des Gesagten mit sich bringt. Und schliesslich erfährt die neu eingebettete Rede auch eine neue Bedeutung durch die Interagierenden, die sich interaktiv dazu positionieren.

In Bezug auf die Beteiligungsrollen heisst das, dass der bzw. die AnimatorIn immer auch das Geäusserte mitverantwortet, sowohl inhaltlich als auch wertend. Um die verschiedenen Beteiligungsrollen innerhalb des Geäusserten zu markieren, verwenden Sprechende u.a. prosodische Verfahren, weshalb auch von einer „Stimmenvielfalt“ oder „Polyphonie“ gesprochen werden kann (Günthner 2002; vgl. auch Kotthoff 2008; Tannen 2007).

In den aufgenommenen Beurteilungsgesprächen sind nicht nur direkte Redewiedergaben interessant, sondern es weisen sich im Besonderen diejenigen Formen der Redewiedergabe als funktional aus, die sich nicht auf tatsächlich Geäussertes, sondern auf imaginierte Aussagen oder Gedanken beziehen. Diese Form der Redewiedergabe wird von Ehmer (2011) erstmals im Detail untersucht und mit dem Begriff animierte Rede eingeführt.4 Es handelt sich dabei um die „Einbettung einer Figur in die eigene Äusserung“ (Ehmer 2011: 63), wobei es sich nicht um reale Vorkommnisse, sondern um mögliche Szenarios oder Zuschreibungen handelt. Es werden also fiktive Dialoge, Monologe oder Gedanken meist fremder Figuren (aber auch der eigenen Figur) von den Sprechenden bzw. AnimatorInnen in der Form direkter Redewiedergabe dargestellt. Diese Äusserungen, Handlungen oder Verhaltensweisen sind fiktiv, da ihnen keine Originaläusserung vorausgeht. Unter einem Szenario verstehe ich gemäss Brünner (2005: 313) „einen verbalen Entwurf einer kontrafaktischen Situation“, wobei sie sich dabei nicht explizit auf die Redewiedergabe bezieht, jedoch die wörtliche Rede als häufiges sprachliches Mittel erwähnt (vgl. Brünner 2005: 323). Szenarios werden von Brünner und Gülich (2002: 81) als eine Form der Veranschaulichung herausgearbeitet, die insbesondere einen verbesserten Adressatenbezug herstellen und somit in direktem Zusammenhang mit dem Recipient Design zu verstehen sind. Veranschaulichung wird als Verfahren verstanden, welches „auf der Annahme bestimmter Schwierigkeiten in der Verständigung [operiert]“ (Brünner & Gülich 2002: 22) und die Hauptfunktion besitzt, dass sich die Gesprächsbeteiligten das Dargestellte besser vorstellen können (vgl. Brünner & Gülich 2002: 78; vgl. auch Beiträge in Birkner & Ehmer 2013).

Eine wichtige Leistung der Redewiedergabe, die auch für die animierte Rede gilt, ist die Involvierung der Beteiligten in das dargestellte Geschehen (vgl. z.B. Brünner 1991: 6; Ehmer 2011: 160). Brünner (1991: 2) spricht metaphorisch von der direkten Redewiedergabe als Fenstertechnik, da eine „kommunikative Handlung in Inhalt und Form vorgeführt, demonstriert“ wird und die Beteiligten am Ereignis teilhaben lässt. Ehmer (2011: 63) spricht von einer „Übernahme der Perspektive der Figur“ (vgl. aber auch Brünner 1991: 2), die sich im Falle animierter Rede in einem mentalen Raum befindet. Da es sich bei der animierten Rede um nicht real geäusserte Rede handelt, öffnen wir also keine „Fenster in die Vergangenheit“, sondern werfen vielmehr einen Blick durch die „Fenster in die Zukunft und in mögliche Welten“ (Brünner 1991: 3). Auch Ehmer (2011: 77) betont, dass man „prinzipiell jedes Ereignis – sei es ein reales vergangenes, ein in der Zukunft antizipiertes oder ein generisches – demonstrieren und dadurch Aspekte des Ereignisses vorführen“ könne.5 Ehmers (2011: 77) Verständnis der animierten Rede als die „Demonstration eines Sprechereignisses bzw. einer Sprechhandlung“, die sich auf eine „Figur in einem mentalen Raum“ bezieht, soll auch im Folgenden als grundlegende Definition verwendet werden. Es wird sich dann bei den Analysen allerdings die Frage stellen, ob diese Definition hinsichtlich der identifizierten Formen nicht zu eng gefasst ist. Zu den bisher in der Forschung dargelegten Formen der animierten Rede fasst Brünner (1991: 3) folgendermassen zusammen: „Imaginierte Äusserungen können als zukünftige, mögliche, gewünschte oder nicht gemachte wiedergegeben werden.“ Und Ehmer (2011: 432) identifiziert in seinen Analysen die Möglichkeit von Sprechenden, „Szenen [zu] imaginieren, die sie für die Zukunft planen, die fiktiv, generisch oder auch negiert sind“. Zu den Funktionen der animierten Rede liegen insbesondere die Ergebnisse von Ehmer (2011) vor, die sich aber, dies im Gegensatz zu den hier besprochenen institutionellen Beurteilungsgesprächen, auf alltagssprachliche Interaktionen beziehen. Er stellt fest, dass die animierte Rede für die Vermittlung von Gefühlen, für Identitätszuschreibungen (auch karikierend und dadurch bewertend) sowie für die Verständnissicherung genutzt wird und dies geschieht in seinem Korpus beispielsweise in humorvollen Sequenzen mit besonders hoher Expressivität (vgl. Ehmer 2011: 434f.). In den folgenden Analysen (vgl. Kap. 7) wird es darum gehen, die Anwendungsbereiche und die Funktionen anhand des Korpus institutioneller Gespräche weiter auszudifferenzieren.