Glaube Liebe Stigmata

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Glaube Liebe Stigmata
Font:Smaller АаLarger Aa

ULRIKE SCHIMMING

GLAUBE

LIEBE

STIGMATA

ROMAN

Die Handlungen und die Dialoge der Figuren, die zum Teil real existiert haben, sind fiktiv und frei erfunden.

Copyright © 2017 Ulrike Schimming

Klaus-Groth-Str. 25 a, 20535 Hamburg

Covergestaltung & E-Book-Erstellung: Ingeborg Helzle, eBookerei Köln

Redaktion: Petra Wiechmann, Hamburg

Coverbild: Depositphotos

Autorenfoto: Kirsten Haarmann

E-Mail: ulrike.m.schimming@letterata.de

Web: www.ulrikeschimming.de

Facebook: ulrike.schimming

Instagram: letteraturen

Twitter: ulrikeschimming

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Der Mensch überschreitet die Schwelle zum Heiligen, er wird ein Heiliger, wenn er den ewigen Ruf hört, der alles entscheidet.

Durch diesen Ruf wird er von einer letzten Wirklichkeit eingeholt, angerührt; er vernimmt seinen Namen […] und ist damit von der Transzendenz gezeichnet. Dieser Ruf, wenn auch geschwächt, oft wie verschüttet, bleibt in ihm lebendig. Der transzendente Ruf leitet eine innere Entwicklung ein, die durch keine Rückschläge und Zweifel völlig zunichte gemacht werden kann.

Ein neuer inwendiger Mensch kristallisiert sich heraus, welcher – mittelbar – den äußeren Menschen verändert und bis in seine Entschlüsse, seine Physiognomie hinein prägt.

Hans Jürgen Baden, »Das Heilige und der Heilige«

Die Heiligen sind weder Übermenschen noch vollkommen.

Als sie die Liebe Gottes erkannt haben,

sind sie ihm mit ganzem Herzen nachgefolgt.

Papst Franziskus auf Twitter am 5. Juni 2016

PROLOG

Zwei Mönche des Kapuzinerklosters entkleideten die Leiche ihres Bruders. Vorsichtig lösten sie die Sandalen von den Füßen, streiften die Strümpfe ab. Sie zogen die fingerlosen Handschuhe von den Händen, entfernten die Kutte vom Körper des alten Mannes. Die Augen des Toten waren geschlossen. Den grauen Bart hatte er in den vergangenen Tagen nicht mehr gestutzt. Der Mund stand leicht offen.

Um die Bahre drängten sich acht weitere Mönche. Jeder wollte einen Blick auf ihn erhaschen, im besten Fall noch einmal seine Hände küssen. Die gemarterten Hände, die durchbohrten Hände. Die Hände, die seit fünfzig Jahren die Wundmale Christi trugen. Ebenso wie die Füße, durchbohrt seit einem halben Jahrhundert. Schmerzen ein halbes Jahrhundert lang. Schmerzen bei jedem Schritt, bei jeder Handreichung. Die Brüder hatten es genau gesehen, all die Jahre. Dennoch hatte der Padre bis gestern die Messe gelesen.

Am späten Abend des Vortages schleppte er sich, von zwei Brüdern gestützt, zum Altar. Seine Stimme konnte man kaum noch hören, seine Worte waren nicht mehr verständlich. Aber er zelebrierte die Messe bis zum Ende. Die Kirche war voller Menschen, die Luft stickig. Abschiedsstimmung erfüllte den Kirchenraum. Nach einer knappen Stunde geleiteten die Brüder den erschöpften Padre wieder in seine Zelle, damit er sich ausruhte.

Wenige Stunden später stöhnte er in seinem Sessel ein letztes Mal auf. Um halb drei Uhr nachts endete sein Leben, endete sein Leiden. Fünf Monate nach dem Tod seiner Seelenverwandten und Glaubenstochter Mary folgte er der Geliebten. In das Reich Gottes.

Der Abt trat an den Toten heran. Er segnete den Leichnam. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Körper.

Ein Raunen ging durch den Raum.

»Seht doch.«

»Heilige Maria, Muttergottes.«

»Ein Wunder! Ein Wunder ist geschehen!«

Dort, wo die Wundmale Christi in den vergangenen Jahrzehnten gewesen waren, schimmerte glatte, unversehrte Haut. Hände und Füße des Padre, der dem Konvent so viel Aufmerksamkeit und Wohlstand beschert hatte, waren heil.

Die Stigmata des Padre Pio von Pietrelcina waren verschwunden.


KAPITEL 1

Das Schaf blökte heiser und warf den Kopf nach hinten. Seit dem Morgen ging das schon so, seit Francesco die fünf Tiere zu seiner Lieblingsstelle getrieben hatte. Zwischen den Olivenbäumen, am Ende des holprig gepflasterten Weges, der an dem kleinen Bach endete. Das Schaf würde heute ein Lämmchen gebären. Es bewegte den breiten Schwanz unruhig hin und her. Laticaudas gaben fette Milch, aus der sie zu Hause Käse herstellten. Papà war stolz auf seine Tiere. Jeden Morgen schärfte er Francesco ein, dass er gut auf sie aufpassen sollte. Auf Schafe lauerten überall Gefahren, Gräben, in die sie fallen und sich die Beine brechen konnten, Dornmyrte oder Aronstab, deren glänzende rote Beeren weithin leuchteten, aber giftig waren. Auch Wölfe hatte Papà nachts schon in der Gegend gesehen. Francesco musste gut aufpassen, wenn er die Schafe so früh auf die Weide trieb. Die Wölfe konnten auch im Morgengrauen noch zuschlagen. Er entdeckte jedoch nur ein Rotkehlchen, eine Mönchsgrasmücke, zwei Blaumeisen und hörte einen Buntspecht schlagen. Auf den Steinen der Trockenmauern ruhten ein paar Eidechsen.

Das Schaf blökte lauter und drehte sich langsam auf der Stelle. Die anderen Tiere grasten unter den knorrigen Olivenbäumen. Ein weiteres Tier war trächtig, aber sein Bauch war noch nicht dick genug. Es würde vermutlich in der nächsten Woche sein Junges zur Welt bringen. In diesem Frühjahr würden sie also zwei Lämmer mehr in der Herde haben und genügend Milch. Wenn Papà sie nicht verkaufte oder an Ostern eines schlachtete. Im vergangenen Jahr hatte er die Lämmer, da waren es sogar vier gewesen, verkauft und den Käse auch. Francesco trat zu dem blökenden Schaf. Es hatte den Schwanz leicht gehoben, die Fruchtblase wölbte sich schon heraus. Er erkannte zwei winzige Hufe. Papà hatte ihm eingebläut, gebärende Mutterschafe nicht anzurühren, solange alles seinen geregelten Gang ging. Die Tiere hatten von alters her ihre Jungen allein zur Welt gebracht, und so würde dieses Schaf es auch tun. Die Vorderläufe kamen immer zuerst heraus, die Hinterläufe zum Schluss. Lief die Geburt so ab, war alles in Ordnung. Selbst wenn das Lamm etwas länger aus dem Mutterschaf heraushing. War aber der Kopf zur Seite gebogen, musste man eingreifen und ihn mit der Hand gerade drehen. Papà hatte das schon einmal machen müssen. Das Mutterschaf hatte so laut geblökt, als würde die Welt untergehen. Aber er hatte beide gerettet, das Lamm und die Mutter.

Die kleinen Hufe schoben sich immer weiter aus dem Schaf. Es blökte lauter, immer heiserer. Langsam knickte es die Vorderbeine ein und ließ sich auf dem kurzen Gras nieder. Ein Zittern ging durch seinen Leib, wieder riss es den Kopf nach hinten. Da rutschte das Lamm aus ihm heraus. Die Fruchtblase platzte, und die dünne Hülle legte sich wie eine zweite, durchscheinende Haut über das Neugeborene. Es schüttelte den Kopf, zerriss dabei die Hülle und blinzelte ins Licht. Francesco stand ein paar Meter entfernt, er rupfte etwas von dem vertrockneten Gras aus dem Vorjahr ab, mit dem er das Junge trocken reiben konnte, falls das Mutterschaf sich nicht um es kümmerte. Das Schaf legte den Kopf auf die Erde und atmete dreimal, viermal, dann rappelte es sich hoch. Die Nabelschur hing unter seinem Schwanz heraus. Mit einem Ruck drehte das Tier sich um, die Schnur zerriss. Sorgfältig leckte es sein Junges ab.

Francesco warf das Gras über die Trockenmauer. Eine Äskulapnatter, die in der Sonne auf den Steinen geschlafen hatte, rollte sich auf, die orangeroten Augen blitzten. Francesco konnte ihr gelblich-braunes Muster am Bauch erkennen, bevor sie sich durch die weiß blühende Baumheide davon schlängelte.

Es war erst Ende März, doch die Sonne brannte zur Mittagsstunde schon so kräftig, dass Francesco sich in den Schatten unter den dicksten, verwachsensten Olivenbaum setzte. Von dort warf er kleine Steinchen in den Bach. Der Schopflavendel trieb schon die ersten violetten Blüten. In der Ferne erkannte er die grauen Steinhäuser von Pietrelcina. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er sogar das Haus seiner Familie in dem verwinkelten Vico Storto ausmachen. Die Sonnenstrahlen flirrten durch das silbriggrüne Laub über ihm. Unzählige weiße Blüten sprossen an den dünnen Ästen. Es versprach eine reiche Olivenernte zu werden. Am Himmel kreiste ein Greifvogel, deutlich erkannte Francesco seinen Schnabel und die gelben Krallen, hörte die schnellen, hohen Schreie. Ein Wanderfalke.

Auch das Mutterschaf vernahm wohl das Kreischen und stellte sich dichter neben ihr Junges. Die anderen Schafe drehten nur kurz die Ohren, vertrieben mit den breiten Schwänzen die Fliegen und grasten weiter. Strahlend weiß, mit unbeflecktem lockigem Fell lag das Lamm neben seiner Mutter und stupste sie ein paarmal. Da drehte sich das Schaf, bis das Lamm die Zitzen fand und zu saugen begann.

Francesco griff nach seinem Rucksack und zog eine Keramikflasche heraus. Seine Kehle war auf einmal ganz trocken. Den ganzen Morgen hatte er nichts getrunken, so sehr hatte er auf dieses Lamm gewartet. Mit großen Schlucken rann das kühle Wasser seine Kehle hinunter, bis die Flasche leer war. Er lief zum Bach, legte sich flach ans Ufer und hielt sie in das sprudelnde Wasser. Kleine Fische schwammen gegen die Strömung an, am anderen Ufer saß ein Springfrosch und blähte die Backen auf. Francesco verharrte unbeweglich. So viele Tiere, die er nicht erschrecken durfte. Und so viele Blüten. Alles blühte schon, Gänseblümchen, Thymian, Salbei. Der Weißdorn war aufgebrochen, die Ranunkeln streckten zarte Knospen aus, auch die Steineichen bekamen Blätter. Am anderen Ufer des Baches, dort, wo der Wald begann, breitete sich ein Teppich aus weiß-rosa Veilchen aus. Der Frosch sprang davon.

 

Francesco zog die volle Flasche aus dem Bach, ging zurück und setzte sich wieder an den rauen Olivenbaum. Um ihn herum knisterte, raschelte, quakte, zirpte und klopfte es. Immer mehr Grün spross, immer mehr Blüten öffneten sich. Die Blässe des Winters wich, nur die Felder in der Umgebung waren noch braun, von diesem satten Dunkel gepflügter Felder, auf denen die Saat bereits ausgebracht war und auf denen in jedem Moment die Keimlinge die Krumen durchbrechen konnten. In den Bäumen entdeckte Francesco die Nester der Vögel. Zum Wanderfalken am Himmel hatte sich ein Weibchen gesellt. Zwei Eichhörnchen jagten sich um den Stamm einer Linde. Das Lamm stellte langsam die Vorderläufe auf und stemmte sich hoch. Es wackelte. Das Mutterschaf wich keinen Schritt von seiner Seite, stützte es, sodass es nicht umfiel. Die Ohren des Lamms zuckten, es fuhr sich mit der Zunge über das Maul. Zögernd machte es die ersten Schritte.

Als die Sonne sich den Hügeln näherte und die Schatten länger wurden, packte Francesco seine Flasche wieder ein. Das Brot und die Zwiebel, die Mamma ihm als Vesper eingepackt hatte, lagen unberührt. Er griff nach seinem Hirtenstock und trieb mit lautem Schnalzen die Schafe zusammen. Das Lamm lief neben seiner Mutter, reckte den Kopf nach ihr, doch nach einer Weile fiel es zurück. Es wurde langsamer, blieb stehen, meckerte mit seinem hohen Stimmchen, als die Mutter weitertrottete. Da kehrte Francesco zu ihm zurück, packte es an den dünnen Beinen und legte sich das Tier quer über die Schultern. Das Mutterschaf sah zu ihm und wartete, bis er mit dem Lamm bei ihm war. Es wich nicht von Francescos Seite bis zum Stall, kurz vor den Mauern Pietrelcinas, während die anderen Tiere gemächlich vorneweg liefen. Sie kannten den Weg.

Als Francesco in die Wohnküche ihres kleinen Hauses trat, wusch sich Papà am Spülstein den Staub von Gesicht und Armen. Er kam vom Feld in Piana Romana, eine Dreiviertelstunde zu Fuß von hier. Matteo schleppte einen vollen Eimer mit Wasser herein. »Steh nicht so im Weg rum.« Er drängte sich an Francesco vorbei. Das neue Leinenhemd, das Matteo vor zwei Wochen zum fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte, war mit Schlammflecken überzogen.

»Spiel dich bloß nicht so auf, Matté, zieh dir lieber ein sauberes Hemd an. Eine Schande, was du daraus gemacht hast«, sagte Mamma, während sie in der Pfanne Tomatensoße köchelte. Der Duft von angebratenem Knoblauch und Zwiebeln erfüllte den Raum. »Francì, endlich. Wasch dir die Hände. Die Pasta ist gleich fertig. Chiara, deck den Tisch.« Mamma streute Salz in die Soße und rührte heftig.

»Warum denn immer ich? Kann das nicht mal Flora machen.« Mit vorgeschobener Unterlippe rutschte Chiara von der Bank und stopfte sich ihre Stoffpuppe mit den abstehenden Strohhaaren in die Schürze. Francesco war immer, als blickte er in einen Spiegel, wenn er Chiara ansah, die gleichen dunkelbraunen Augen, die gleichen fast schwarzen Haare, die hohe Stirn mit den markanten Brauen, die bei ihr nicht ganz so dicht waren wie bei ihm, die weichen Lippen. Allerdings war sie zwei Jahre jünger als er.

»Flora ist erst vier und lässt nur die Teller fallen«, sagte Mamma. »Außerdem hat hier jeder seine Aufgabe. Matteo geht Vater auf dem Feld zur Hand, Francì kümmert sich um die Schafe. Und du hilfst mir im Haus. Ganz einfach. Bald ist Flora dran und später Pasqualina. So Gott will. Ach, Amore, Vorsicht!« Mamma ließ den Holzlöffel in die Pfanne fallen und griff nach Pasqualina, die sich an der Bank hochzog und hin- und herschwankte.

Wie das Lämmchen heute, dachte Francesco. Nur dass es nicht anderthalb war, sondern bloß ein paar Stunden alt. »Das eine Schaf hat heute ein Lamm geboren«, sagte er und streckte die Brust heraus.

Alle drehten sich zu ihm. Die Furchen in Papàs braun gebrannten Gesicht verzogen sich zu einem Lächeln. »Ist es gesund?«, fragte er, während er sich mit einem dünnen Leinentuch Hals und Gesicht abtrocknete. »Ist die Geburt gut verlaufen?«

Francesco nickte und berichtete.

»Schön, dann haben wir die nächsten Wochen wieder mehr Milch.« Mamma wiegte Pasqualina auf dem Arm, mit der anderen Hand rührte sie wieder die Soße. »Ich mache nach dem Essen gleich mal die Käseformen sauber.«

»Welche Farbe hat es denn?«, fragte Chiara mit einem Stapel Teller in den Händen. Scheppernd stellte sie ihn auf den Tisch.

»Weiß natürlich. Was denn sonst?«, sagte Matteo und wusch sich.

»Kommt zu Tisch!« Papà setzte sich an das Kopfende.

Chiara verteilte das Besteck und holte eine Karaffe mit Wasser und sechs Gläser. Francesco tauchte rasch die Hände in das trübe Wasser im Spülstein, strich sich durch die verschwitzten Haare und setzte sich neben Chiara.

Endlich verteilte Mamma die Nudeln auf den Tellern und schöpfte jedem eine Kelle Soße darüber. Sie schnitt ein paar Scheiben Brot ab und stellte sie in die Mitte des Tisches. Matteo saß Francesco gegenüber, an die Wand gelehnt auf der Bank. Flora griff nach der Gabel.

»Noch nicht, Flora, erst wird gebetet«, sagte Papà und faltete die knotigen Hände. Als auch Mamma saß, mit Pasqualina auf dem Schoß, senkten alle die Köpfe.

Papà sprach: »Segne, o Herr, diese Speisen, die wir mit deiner Hilfe und deiner Gnade erhalten haben. Schenke allen das tägliche Brot, vor allem den Armen und den Kindern. Wir danken dir heute außerdem für die Gabe des neuen Lamms. Amen.«

»Amen«, wiederholten alle im Chor.

Francesco schlug das Kreuzzeichen und griff nach der Gabel.


KAPITEL 2

Adelia zupfte sich das weiße Kleid mit den Spitzenärmeln gerade. Die weißen Lackschuhe scheuerten an den Hacken und drückten an den kleinen Zehen, aber das wollte sie heute aushalten. Schließlich musste sie hübsch sein. Nanny hatte ihr zwar ein wenig Watte hineingestopft, aber die half nicht viel. Adelia ging durch den breiten Flur von Rockwood Hall, bei jedem Schritt pikte es an ihren Zehen. Am Treppenaufgang blieb sie stehen. Dieses Haus war riesig. Es hatte mehr als zweihundert Zimmer. Zumindest hatte Mutter das auf der Zugfahrt von Manhattan erzählt. Nur was hieß das? Ihr eigenes Haus in New York an der Fifth Avenue war schon so groß, dass Adelia gar nicht alle Zimmer kannte, aber dieses glich einem Schloss. Allerdings keinem Prinzessinnenschloss, sondern einem, vor dem man sich fürchtete, so dunkel hatte es bei ihrer Ankunft von außen ausgesehen. Vermutlich würde sie sich in diesen vielen Räumen rettungslos verlaufen. Aber nicht jetzt, schließlich sollte sie mit Lizzy gleich Blumen streuen.

»Lizzy«, rief sie. »Komm endlich!«

Ihre Schwester war schon wieder zu spät. Sie hatte immer noch nicht begriffen, dass Mutter Wert auf Pünktlichkeit legte. Dabei war sie schon fünf und kein Baby mehr. Adelia streckte die Brust heraus und hob den Kopf. Sie war eben schon viel erwachsener. Wenn nur die Schuhe nicht so drücken würden.

Langsam schritt Adelia die Treppe hinunter und legte die rechte Hand auf das dunkle Holzgeländer. In der Halle standen unzählige Menschen, die sie nicht kannte, und alle waren überaus elegant gekleidet. Auf den Hüten der Damen wippten Blumen und Federn. Ihre Roben waren aus Seide und Atlas, mit bauschigen Ärmeln und jeder Menge Rüschen. Es war die neueste Mode aus Paris, hatte Nanny ihr vorgeschwärmt. Gab es in New York keine schönen Kleider? Adelias weißes Kleid war ebenfalls aus Atlas und mit Rüschen und Spitzen besetzt, es war auch aus Paris gekommen. Es gehörte sich wohl so, wenn man zu einer wichtigen Hochzeit eingeladen war.

Lizzy kam angerannt und hopste die Treppe hinunter.

»Sei doch nicht so wild«, zischte Adelia. »Mutter sieht schon ganz böse zu uns rauf.« Inmitten all der Fremden hatte sie Mutters funkelnde Augen entdeckt. Mutter krauste die Stirn und kniff den Mund zusammen. Dabei sollte sie glücklich sein, schließlich heiratete gleich ihr Bruder, also Onkel David. Mutter wandte sich wieder John und Victor zu, zog ihre Krawatten gerade, ermahnte sie mit leisen Worten. Adelias zwei älteren Brüder stellten sich gerade hin. Chester und Gordon, die beiden kleinen Brüder, entdeckte sie nirgends, vermutlich hatte Nanny sie in eines der vielen Zimmer gebracht, damit sie mit ihrem Geschrei nicht die Gäste störten. Vater stand etwas abseits und unterhielt sich mit einem fremden Herren. Er gab sich geschäftsmäßig und hatte gerötete Wangen, wie immer, wenn er kurz vor einem Vertragsabschluss stand.

Adelia nahm Lizzy bei der Hand und schritt mit ihr die letzten Treppenstufen hinunter.

»Ah, Mädchen, da seid ihr ja«, sagte eine junge Frau, deren schlichtes dunkelblaues Kleid sie als Hausdame von Rockwood Hall auswies. »Kommt mit, ich bringe euch zur Braut. Gleich beginnt die Zeremonie. Die Gäste begeben sich dann zu ihren Plätzen, und ihr dürft dabei nicht im Weg stehen.«

Kerzengerade ging sie vor Adelia und Lizzy her, immer am Rand der großen Empfangshalle, und führte sie in einen kleinen Salon.

In dem mit Seidentapeten ausgeschlagenen Raum stand eine Frau im langen champagnerfarbenen Brautkleid, das überall mit kleinen Perlen bestickt war. Schultern und Hals waren in Spitze gehüllt. Es war die gleiche Spitze wie an Adelias und Lizzys Kleidern. Die Schleppe knäuelte sich zu ihren Füßen. Mit ihren schmalen Fingern fuhr die Frau über die Befestigung des Schleiers.

»Achte darauf, dass man die Nadeln nicht sieht, Maggie«, sagte sie zu ihrer Zofe. Diese befestigte gerade die letzten Haarnadeln.

»Keine Sorge, Ma’am, die Blüten verdecken sie ganz vorzüglich.«

Adelia starrte die Frau an. Im Gegenlicht, das durch die hohen Fenster fiel, leuchtete ihre Gestalt wie ein Engel.

»Das ist aber ein schönes Kleid«, rief Lizzy. »So eins möchte ich auch mal anziehen.«

»Kind, bist du wohl still«, fuhr die Hausdame sie an. »Du hast hier nicht zu reden. Komm stell dich da in die Ecke und nimm schon mal diesen Korb mit den Blüten. Aber gestreut wird erst im großen Saal, verstanden?«

»Ach, Miss Bell, seien Sie nicht zu streng. Das ist doch schön, wenn dem Kind das Kleid gefällt«, sagte die Braut und drehte sich zu ihnen um. »Ihr seid die Blumenmädchen?«

»Ja, Ma’am.« Adelia machte einen Knicks.

»Und wie heißt ihr? Ihr seid die Nichten von David, nicht wahr?«

»Das ist meine Schwester Lizzy, und ich bin Adelia McAlpin Pyle.«

»Stimmt. Ihr seid die Pyle-Schwestern. David hat mir von euch erzählt. Wie schön, dass ich euch kennenlerne.« Sie reichte erst Adelia die Hand, dann Lizzy. »Und nun kommt, stellt euch dort auf. Miss Bell hat euch alles genau erklärt, oder?«

»Ja, Ma’am.« Adelia nickte.

»Ach, nenn mich Emma. Schließlich werde ich gleich eure Tante.« Sie lachte.

»Ist gut, Tante Emma«, rief Lizzy und griff in den weißen Korb mit den Rosenblättern.

»Noch nicht!« Miss Bell packte Lizzys Hand und hielt sie davon ab, die Blütenblätter auf den Boden zu werfen. »Gleich darfst du. Wenn du zwischen den Sitzreihen im großen Saal auf den Reverend zugehst. Das weißt du noch, oder?«

»Natürlich«, sagte Lizzy und nickte. »Ich bin doch schon groß.«

»Ich will es hoffen.« Miss Bell seufzte.

»Komm, Lizzy.« Adelia nahm die Hand ihrer Schwester und trat mit ihr an die Salontür.

Die Eingangshalle war verwaist. Nur am Treppenabsatz und in den Ecken standen Diener in dunkler Livree, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Feierliche Stille breitete sich aus.

Ein älterer Herr betrat den Salon und ging auf Tante Emma zu. »Nun, mein Kind, bist du bereit?«, fragte er sie. Seine dünnen Haare hatte er zu einem strengen Scheitel gekämmt, sein Schnauzbart war akkurat gestutzt. Aus dem Augenwinkel betrachtete Adelia die weichen, breiten Wangen und das kräftige Kinn. Darunter prangte eine weiße Seidenfliege, die gestärkte Hemdbrust wölbte sich glatt und ohne Falten unter einer silbergrauen Weste. Darüber trug der Herr einen schwarzen Frack. Seine Lackschuhe glänzten, Adelia entdeckte die Umrisse der Fenster darin.

 

»Ja, Paps, ich bin bereit«, sagte Tante Emma und hakte sich bei ihm unter. Die Zofe zog flink die Schleppe gerade, und schon schritten Vater und Tochter Arm in Arm auf die Tür zu.

»Mädchen, los!«, zischte Miss Bell, und Adelia machte die ersten Schritte. Lizzy trippelte eilig neben ihr her.

In gemäßigtem Schritt, so wie sie es in den vergangenen Wochen zu Hause in New York im Wohnzimmer unzählige Male geübt hatten, traten Adelia und Lizzy in den großen Saal. Klaviermusik setzte ein, die Kleider der Damen rauschten, als sich die versammelten Gäste von den Stühlen erhoben. Adelia streute die erste Handvoll Blütenblätter auf den roten Teppich, der zwischen den mit Rosen und Lilien geschmückten Sitzreihen verlief. Die weißen Rosenblätter fielen wie große Schneeflocken zu Boden. Adelia blickte nach vorn. Am Ende des Ganges zwischen den Sitzreihen, stand Onkel David, auch er im Frack mit Fliege und dieser glattgebügelten Brust. Er lächelte so, dass sich lauter Fältchen um Augen und Mund bildeten. Immer weiter schritten Adelia und Lizzy durch die Reihen, immer näher kam Onkel David, rechts neben ihm standen zwei andere Herren, die Adelia nicht kannte. Der Reverend wartete links von Onkel David. Eine kleine Kniebank war vor ihm aufgestellt, auch sie war mit weißen Rosen und Lilien geschmückt. Die Lilien verströmten einen schweren Duft. Es roch süßlich, wie verfaulendes Obst, und nahm Adelia fast den Atem.

Kurz vor dem Reverend und der Kniebank bogen Adelia und Lizzy nach links. Auch das hatten sie geübt. Am Rand der ersten Reihe nahmen sie auf zwei Stühlen Platz. Von hier aus konnten sie alles beobachten. Später, wenn die Trauung vorbei war, sollten sie vor dem Brautpaar beim Auszug noch einmal Blumen streuen.

Der Saal war hoch, mit wuchtigen Säulen, glänzenden Spiegeln und vergoldetem Stuck. Dicke geschnitzte Balken und dunkle Holzpaneele bildeten die Decke. Ein bisschen erdrückend und düster kam es Adelia vor. Bunter Marmor bildete auf dem Boden verschlungene Muster. In einer Ecke stand ein schwarzer Flügel.

»Wir sind hier versammelt, um diesen Mann …«

Vor den Fenstern hingen duftige Gardinen und Brokatvorhänge, dahinter konnte sie den riesigen Park erspähen. Üppige Palmen standen in den Erkern und übertünchten das winterliche Braungelb des Rasens draußen. Die Fläche war so riesig, dass der Fluss am hinteren Ende, von dem Mutter gesagt hatte, dass es der Hudson war, nur wie ein dünner grauer Strich aussah. Die Stühle waren aus dunklem Holz gemacht und mit blumengemusterter, lindgrüner Seide bezogen. An den Wänden hingen Portraits in Öl von Menschen mit merkwürdigen Kleidern und Röcken. Vermutlich waren es die Urahnen von Tante Emmas Familie. Bei ihnen zu Hause hatten sie im Salon zwei Bilder von Vaters Großeltern hängen, von Mutters Familie gab es keine gemalten Portraits, dafür aber schon eine Photographie. Würdevoll blickten die gemalten Gesichter über die versammelten Gäste. Rockwood Hall war wirklich sehr geschmackvoll. Es war sogar noch eleganter als bei ihnen zu Hause in New York oder auf ihrem Landsitz. Und doch fehlte Adelia etwas.

»Willst du, David Hunter McAlpin, die hier anwesende Emma Rockefeller zu deiner Frau nehmen? Sie lieben und ehren …«

Rockefeller. Mutter hatte erzählt, dass diese Familie unglaublich reich war. Es war eine der ersten Familien in New York, ach was, in ganz Amerika. Onkel David hatte richtiges Glück, dass er in so eine angesehene Familie einheiratete.

»Aber wir müssen uns gar nicht klein machen«, hatte Mutter gesagt. »Großvater McAlpins Werk kann sich genauso sehen lassen. Tabak ist ein wichtiger Teil der Wirtschaft. Und Vater hat Großpapa Pyles Seifengeschäft zu einem weltweiten Unternehmen ausgebaut. Pearline ist nicht weniger wichtig als Standard Oil. Schließlich müssen sich die Menschen, die Öl fördern, ja auch von dem Schmutz wieder befreien. Und das machen sie mit Pearline. Nein, nein, wir müssen uns nicht verstecken. Im Gegenteil, den Rockefellers wird diese Verbindung genauso nutzen wie den McAlpins und den Pyles. Also Mädchen, benehmt euch, schließlich wollen wir in diesen Kreisen auch für euch die richtigen Ehemänner finden.«

Was Mutter bloß hatte? Sie hatte so einen verbissenen Zug um die Lippen gehabt und mit den Händen über ihre Handtasche gestrichen. Eigentlich war sie immer viel fröhlicher. Doch auf der Fahrt hierher hatte sie ständig geseufzt und geflüstert: ›O Gott, hoffentlich blamieren wir uns nicht.‹ Oder auch: ›Habt ihr gesehen, wie elegant die Einladungen waren? Mit Goldrand.‹

»Willst du, Emma Rockefeller, den hier anwesenden David Hunter McAlpin …«

Nun also nahm Emma Rockefeller Onkel David zum Mann. Er drückte ihre Hände, zärtlich, sie lächelte unter dem Schleier, sagte Ja. Und war damit ihre Tante. Das war schön. Trotzdem. Irgendetwas fehlte. Adelia sah die Blumen, den Marmor, die edlen Möbelstücke, die feinen Stoffe, die Gemälde. Der Moderduft der Lilien schnürte ihr die Luft ab, noch stärker als zu Beginn der Zeremonie. Er vermischte sich mit den Parfüms der Damen und den Aftershaves der Herren. Leicht duftete es nach Bohnerwachs. Ein warmer, trockener Geruch. Da erkannte Adelia, was fehlte. Es roch nicht nach Kirche. Diese Hochzeit fand nicht in einer Kirche statt. Das Erhabene und Würdevolle eines Gotteshauses gab es nicht. Obwohl da vorn ein Reverend stand. In Adelias Taufkirche in der 42. Straße war es immer kühl und klamm, schon deshalb erschauerte man. In jeder Messe spürte sie, dass Gott bei ihr war.

»Somit erkläre ich Euch zu Mann und Frau …«

Gott fehlte. Geld und Eleganz waren da, aber nicht Gott. Hier erschauerte niemand vor Ehrfurcht, höchstens vor Rührung. Aber das war nicht das Gleiche. Ob die anderen das auch merkten? Adelia sah sich um. Eine ältere Dame tupfte sich mit einem Spitzentüchlein Tränen ab. John und Victor rutschten auf den Stühlen herum. Mutter funkelte die beiden böse an. Irgendjemand zog die Nase hoch. Manche der Damen hatten rote Wangen. Scheinbar waren alle, selbst die Herren, ergriffen und merkten nicht, dass Gott nicht da war.

Das Brautpaar löste sich voneinander. Gerade hatten sie sich geküsst, und nun drehten sie sich zu den Gästen. Sie strahlten.

Adelia zuckte zusammen. »Komm, Lizzy.« Sie stieß die Schwester an, die mit den Füßen baumelte. Sie ergriffen ihre Blumenkörbe und traten wieder vor das Brautpaar. Am Ende des Ganges lächelte Miss Bell zufrieden und machte eine winkende Bewegung. Lizzy und sie sollten losgehen und Blumen streuen. Wieder erklang Klaviermusik. Die Gäste erhoben sich und lachten dem Brautpaar zu.

Niemand vermisste Gott.