Glaube Liebe Stigmata

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»Bevor sie starb, was gerade ein paar Jahre her ist, hat sie die Gnade des Herrn erfahren«, sagte Signor Caccavo und legte einen Finger zwischen die Seiten. »Er hat sie mit den Wundmalen Christi gezeichnet.«

»Wie den heiligen Franz?«, fragte Francesco gepresst. Er bekam kaum Luft.

»Ja, sie blutete an Händen und Füßen. Das nennt man Stigmata. Sie sind ein Zeichen dafür, dass jemand dem Vorbild Christi treulich folgt. Stigmata sind eine große Ehre, die Gott verleiht.«

»Tun die weh?«, fragte Serafina. Sie saß neben Francesco, hatte aber noch nie ein Wort mit ihm geredet. Eigentlich sagte sie nie etwas, wenn sie nicht gefragt wurde. Francesco spürte einen kurzen Stich in den Handflächen.

»Durch den Schmerz kommt man näher zu Gott«, sagte Signor Caccavo. »Jesus hat die Schmerzen am Kreuz ertragen und damit die Sünden der Menschen auf sich genommen. Er hat für uns gebüßt. Und ist dann zu Gott in den Himmel aufgefahren. Wer diese Schmerzen erträgt, ist ganz nah bei Gott.«

Francesco starrte auf das Buch in Signor Caccavos Händen. Auf dem dicken gelblichen Umschlag war der Name Gemma Galgani in Großbuchstaben gedruckt, darunter, kleiner, stand der von Padre Germano. Ein unscheinbares Buch, das man leicht übersehen konnte. Es rauschte ihm in den Ohren. Das Bild einer jungen Frau mit blutenden Händen und Füßen tauchte vor ihm auf. Wieder stach es in seinen Handflächen.

»Vielleicht wird sie in ein paar Jahren heiliggesprochen«, fuhr Signor Caccavo fort. »Menschen, die solche Schmerzen ertragen und Wunder wirken, werden nach ihrem Tod Heilige. Sie sind leuchtende Beispiele für alle Gläubigen. Dann wird Gemma verehrt werden wie Franz von Assisi und all die anderen Heiligen.«

Francesco holte tief Luft. Man musste also nicht vor Hunderten von Jahren gelebt haben, um ein Heiliger zu werden. Auch Menschen, die erst vor Kurzem gestorben waren, konnten heiliggesprochen werden. Aber sie mussten Wunder gewirkt haben. Und leiden. Sie mussten Schmerzen ertragen. Wie Jesus. Und die Menschen mussten diese Schmerzen sehen und davon hören. Ein Wunder hatte er schon gemacht, damals in der Kirche von San Donato. Das hatten die Leute zwar gesehen, aber sie hatten nicht verstanden, dass er es gemacht hatte. Dann machst du eben noch eines, zischte es in ihm. Nimm dir ein Beispiel an Gemma, wenn du Schmerzen erleidest wie sie, wie Franz, wie Jesus, und mehr Wunder machst, wirst du ein Heiliger. Wundmale. Er brauchte Wundmale. So würden alle sehen, dass er Jesus Christus wirklich folgte.

In den nächsten Wochen überredete Francesco Signor Caccavo immer wieder, aus Gemmas Briefen zu lesen. Signor Caccavo reichte das eine Exemplar des Buches herum, damit jeder an die Reihe kam. Francesco ließ es nicht aus den Augen, jedes Wort wollte er im Gedächtnis behalten.

»Mit der Zeit wuchs dieser Wunsch in ihr immer stärker heran und wandelte sich zu einer richtigen Passion, die sie nicht nur im eigenen Herzen bewegen konnte«, las Serafina. »Sie rief: Ich will mit Jesus Christus leiden, etwas anderes erstrebe ich nicht, ich möchte sein wie Jesus Christus, leiden, solange ich lebe, und leben allein für dieses ewige Leiden.« Serafina schüttelte sich und schlug das Buch zu. »Schrecklich! Ich will das nicht lesen.«

Signor Caccavo nickte bedächtig. »Ja, Gemma hat schlimme Schmerzen ertragen, aber sie tat es aus freien Stücken. Dafür sollten wir sie verehren und für sie beten. Wollen wir in die Kirche gehen und eine Kerze für sie anzünden?«

Serafina und die Jungen nickten. Sie legten ihre Schiefertafel übereinander und standen auf, nur Francesco starrte weiter auf das Buch. Es stach und pikste ihn in Händen und Füßen.

»Francesco, kommst du auch?« Signor Caccavo stand an der Tür.

Er schreckte hoch. »Darf ich mir das Buch ausleihen?«

Signor Caccavo sah ihn mit runden Augen an. »Warum?«

»Ich will alles darin lesen. Ich bringe es Ihnen auch bestimmt wieder«, sagte Francesco. Seine Hände zitterten, seine Knie zitterten, alles an ihm zitterte. »Ich kann bestimmt ganz viel von Gemma lernen. Und eine Kerze zünde ich auch für sie an.«

»Ja, geben Sie es ihm«, sagte Serafina und schob den Stuhl an den Küchentisch, »dann müssen wir das nicht mehr hören und können Pinocchio lesen. Das soll so lustig sein.«

»Das kommt nicht infrage. Pinocchio schickt sich nicht«, erwiderte Signor Caccavo. »Also gut, Francesco, ich leihe dir das Buch von Gemma, aber behandle es pfleglich. Dass mir da keine Flecken draufkommen oder du Eselsohren hineinknickst. Serafina, für den Unterricht suche ich ein anderes Buch aus. Doch jetzt gehen wir in die Kirche und entzünden für Gemma eine Kerze.«

Vorsichtig nahm Francesco das Buch. Mit immer noch zitternden Fingern strich er darüber und schob es in seine Jackentasche.


KAPITEL 7

Chiara hopste mit dem Korb unter dem Arm zur Piazza Santissima Annunziata. Mamma brauchte Äpfel für den Geburtstagskuchen von Papà morgen. Und Mehl hatte sie auch keines mehr. Chiara tastete nach den zwei Geldstücken in der Rocktasche, die Mamma ihr gegeben hatte. Endlich kam Chiara aus dem stinkigen, dunklen Vico Storto heraus und konnte erkunden, was es Neues im Dorf gab. Irgendwer hatte immer etwas zu erzählen. Manchmal gab es auf dem Markt auch etwas zu naschen. Der Mann vom Süßwarenstand schenkte ihr ab und zu einen Rest von dem köstlichen Mandelgebäck, das auf der Zunge zerging und köstlich schmeckte. Und vielleicht traf sie Silveria, dann konnte sie mit ihr noch ein bisschen plaudern und sich für den Nachmittag verabreden. Silveria sollte ihr doch unbedingt zeigen, wie man die Tarantella in Neapel tanzt. Neulich hatte sie davon erzählt, weil ihr Onkel aus der Stadt zu Besuch war und von dem Fest des heiligen Gennaro berichtet hatte, bei dem alle auf der Straße getanzt hatten. Silveria hatte behauptet, die Tarantella würde in Neapel ganz anders getanzt als im Dorf. Aber das sollte sie ihr erst einmal beweisen.

Es war fast Mittag, auf der dreieckigen Piazza räumten die ersten Verkäufer bereits ihre Waren zusammen. Chiara lief zum Apfelstand, wo die knochige, ewig mürrische Frau aus dem Nachbardorf Obst verkaufte. Zehn Äpfel ließ sie sich in ihren Korb legen, bezahlte rasch fünfzig Centesimi und flitzte zum Müller, der die Mehlsäcke schon zuschnürte. Ein Kilo brauchte sie. Umständlich öffnete der Mann einen Sack wieder, jammerte, er würde von einem Kilo mehr auch nicht reich und hasse es, wenn alle immer auf den letzten Drücker kämen. Seine Frau warte mit dem Essen auf ihn. Chiara bezahlte und steckte die Mehltüte zu den Äpfeln, als Geschrei ertönte.

»Francì, Francì, wieso sprichst du nie?« Eine Horde Jungen rief durcheinander und sammelte Kiesel auf, die unter den Bäumen lagen, die am Rand der Piazza ein wenig Schatten spendeten. Die Piazza war wie ein Balkon, der an den Hügel gebaut war. Von oben liefen die Straßen auf sie zu, einstöckige Häuser säumten sie, auf der anderen Seite konnte man in die Fenster der oberen Stockwerke der Häuser sehen, die weiter unten standen. Zwischen den Häusern blickte man weit in die Umgebung, über die Felder und die Hügel am Horizont. An der südlichen Seite führten ein paar Stufen vom Platz hinab. Eine Brüstung verhinderte, dass man auf die Straße stürzte, die zwei Meter unterhalb der Piazza ins Tal führte. Jeden Morgen bauten die Bauern und Händler auf diesem dreieckigen Balkon ihre Stände auf, verkauften, was sie angebaut und hergestellt hatten. Kurz vor dem Mittagessen trafen sich die Jungen unter den Bäumen gegenüber den Verkaufsständen, befühlten ihre Armmuskeln, neckten die Mädchen, rangen miteinander und suchten sich jemanden, den sie ärgern konnten.

Chiara entdeckte Francesco, der mit einem Buch unter dem Arm und gesenktem Kopf die Hauptstraße hinunterkam und an den Jungen vorbeiging. Ein Stein flog in seine Richtung. Francesco ging langsam, er rannte nicht weg, als ihn zwei Steine trafen. Er zuckte nur kurz, einer hatte ihn am Kopf getroffen. Er presste die Lippen noch fester zusammen und sagte kein Wort.

Rasch flitzte Chiara mit dem Korb zu Francesco. »Francì, warte«, rief sie, aber er ging einfach weiter und schien sie nicht zu hören.

Die Jungen liefen ihm nach. Dario, der Sohn des Bürgermeisters vorn weg. Seine schwarzen Locken klebten ihm an der Stirn, sein Hemd hing aus der Hose heraus, die er ständig über seinen runden Bauch hochzog. Er trug als einziger der Jungen feste Lederschuhe. Bei jedem Schritt knallten sie auf das helle Pflaster. »Sag mal was, sag mal was, sonst machen wir dich richtig nass«, brüllten sie. Wieder flogen Steine.

Chiara drehte sich zu ihnen um. »Haut ab«, schrie sie und versperrte ihnen den Weg, die freie Hand in die Seite gestützt.

Die Jungen blieben vor der Kirche Santissima Annunziata stehen und lachten laut. »Oh, jetzt ham wir aber Angst.«

»Hosenscheißer!«

»Mamasöhnchen!«

»Seht mal, der versteckt sich hinter dem Rock seiner kleinen Schwester«, brüllte Dario.

»Ihr sollt abhauen«, schrie Chiara noch einmal. Sie griff nach einem rotbackigen Apfel aus dem Korb und warf ihn nach den Jungen. Er zerplatzte vor ihren Füßen auf dem Pflaster, Fruchtfleisch spritzte. Francesco hielt den Kopf immer noch gesenkt und ging einfach weiter. Er sah sich nicht mal um.

»Iieh! Die spinnt wohl. Los, hinterher!«, rief Dario. Alle im Dorf wussten, wie dumm er war und dass er nichts im Kopf hatte. Diese Dummheit glich er allerdings durch seinen dicken, starken Körper aus. Chiara stand einen Moment reglos da. Dann griff sie noch einmal in den Korb und warf einen zweiten Apfel. Er traf Dario genau auf der Stirn, fiel zu Boden und rollte auf dem abschüssigen Pflaster fort. Chiara hüpfte.

 

»Aua!« Dario rieb sich mit der Faust über die Stirn. »Das kriegst du wieder.« Und schon kam er auf sie zu.

Chiara wirbelte herum und rannte hinter Francesco her, der bereits an der Kirche vorbei war und in die enge Gasse einbog. Chiara wollte schneller laufen, aber der schwere Korb schlug bei jedem Schritt gegen ihre Knie. Sie konnte ihn nicht stehen lassen, außerdem hatte sie schon zwei Äpfel geopfert. Mamma würde schimpfen, weil sie bezahlte Äpfel durch die Gegend warf. Hoffentlich reichten die restlichen noch für den Kuchen. Endlich holte sie Francesco ein. Das Buch drückte er mit beiden Armen an die Brust, sein Blick war starr auf den Boden gerichtet, als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, was gerade geschehen war.

»Francì, komm, wir müssen weg.« Sie griff ihn am Arm und zog ihn mit sich in die Gasse, die nach Hause führte. Nur langsam lief Francesco los. Er sagte kein Wort, starrte Chiara nur an. »Nun, mach doch schneller! Dario ist gleich da«, rief sie.

Francesco lief ein bisschen schneller. Da vorn war der Vico Storto. Chiara erkannte schon ihr Haus. Matteo stand in der Tür.

»Mattè, Hilfe! Hier!«, rief sie. Hinter sich, da wo die Gasse von der Piazza abbog und es ein paar Meter weit ganz dunkel war, hörte sie Dario schnaufen und seine Lederschuhe knallen.

»Ich krieg euch«, schrie Dario, wobei er noch ein paar Steine warf, die hinter Francesco auf den Boden prasselten.

Matteo trat ein paar Schritte auf die Gasse zu und stemmte die Hände in die Hüften. »Was ist denn?«

Erst da ließ Chiara Francesco los und rannte an Matteo vorbei auf ihr Haus zu. Francesco fiel in seinen langsamen Trott zurück und sagte kein Wort. Vor der Haustür drehte Chiara sich um.

Dario lief der Schweiß die Stirn herunter, seine Hose war unter seinen weißen Bauch gerutscht. Gerade wollte er an Matteo vorbeisausen, doch der packte ihn am Hosenbund und riss ihn zurück. »Halt, mein Freund. Wo willst du hin?« Er schüttelte Dario. »Haben die beiden dir was getan? Red schon.«

»Nööö.« Dario sah zu Boden. Hinter seinem Rücken ließ er die Kiesel auf die Erde fallen. »Aber die da hat mich mit einem Apfel beworfen.« Er zeigte auf Chiara. Auf seiner Stirn war ein feuerroter Fleck zu erkennen. »Das hat richtig wehgetan.«

»Petze!«, rief Chiara, stellte den Korb ab und trat neben Matteo. »Du und die Jungs, ihr habt angefangen. Ihr habt Francì mit Steinen beschmissen.«

»Stimmt das, Dario?« Matteo packte ihn an der Schulter. »Sieh mich an. Hast du Francì mit Steinen beworfen?«

Dario hob den Kopf und zuckte mit dem Kinn nach oben. »Na und?«

»Ich hab genau gehört, wie ihr Francì aufgezogen habt«, sagte Chiara. »Das ist böse. Er hat euch nichts getan.«

Francesco war in der Haustür stehen geblieben und starrte auf Matteo und Dario. Das Buch presste er immer noch an die Brust und strich mit einer Hand darüber. Nicht einmal jetzt sagte er etwas. Er verteidigte sich nie. Dabei hätte er sie gegenüber Dario in Schutz nehmen müssen. Immerhin war er älter als sie. Chiara hatte ihn schließlich auch beschützt. Eigentlich müsste er sie vor all den blöden Jungen bewahren. Aber Chiara wurde nicht gehänselt, sie vertrug sich gut mit den Kindern im Dorf und spielte mit allen. Sie brauchte keinen Beschützer. Aber Francì war anders. Chiara musste ihm einfach helfen. Sie konnte nicht anders, auch wenn es sie ärgerte.

»Francì, nun sag doch auch mal was«, rief sie schließlich.

Francesco zuckte zusammen. »Äh, ja, also … Chiara hat mit Äpfeln geworfen, aber nur weil … also … die Jungen … sie haben mich verfolgt. Ich wollte heim von der Schule. Und da waren sie … und …« Er starrte auf seine nackten Füße.

»Weiter, Francì.« Matteo verschränkte die Arme vor der Brust.

Spott lag in Darios Blick, seine Mundwinkel zuckten nach oben. Er zog sich die Hose hoch.

»Nichts. Ich bin einfach gegangen und hab nichts gemacht … Na ja, und die … die haben Steine geschmissen …«

»Also doch!« Matteo drehte sich zu Dario. »Sieh bloß zu, dass du wegkommst. Ich will so was nicht noch mal hören. Wenn ihr das noch einmal macht, kriegt ihr es mit mir zu tun, verstanden? Ich wollte schon immer mal ein Wörtchen mit dem Bürgermeister reden …«

Die Röte kroch Dario aus dem Kragen bis zu den Ohren. »Sag meinem Vater nichts, bitte. Der reißt mir den Kopf ab. Ich mach das auch nie wieder«, murmelte er. »Tschuldigung«, sagte er noch zu Chiara, drehte sich um und flitzte die Gasse zurück zur Piazza.

»Endlich ist er weg.« Chiara wandte sich zu Tür. Sie stand offen. Ein Huhn kam aus der Küche stolziert, pickte ein paar Körner von der Schwelle. Von drinnen drangen das Geschrei von Pasqualina und Mammas beruhigende Worte. Francesco war fort.

Chiara lief die Treppe hinauf zu Francescos Schlafkammer, die er sich mit den Eltern teilte. Er saß mit ausgestreckten Beinen quer auf dem schmalen Bett und las in diesem Buch. Mit dem Finger fuhr er die Zeilen mit den Buchstaben entlang, die für Chiara wie krumme Würmchen aussahen.

»Warum wehrst du dich nie, Francì?«, fragte sie. »Du kannst dir das doch nicht einfach so gefallen lassen.«

»Wenn einer dich auf deine rechte Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin.« Er sprach leise, ohne aufzusehen.

»Das ist so ungerecht! Du hast doch gar nichts getan.« Chiara setzte sich neben ihn aufs Bett.

»Aber so hat Jesus es gesagt.« Francesco blätterte um, starrte dann auf das kleine Kruzifix, das über dem Bett der Eltern hing.

»Ich würde mich trotzdem wehren.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand. »Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das steht doch auch in der Bibel, oder?«

»Ja, aber im Alten Testament. Und Jesus hat in der Bergpredigt gesagt, man soll das nicht machen. Vergeltung ist nicht gut. Buße und Vergebung sollen wir tun. Er hat uns unsere Sünden vergeben und dafür sogar gebüßt.« Francesco wies auf das Kruzifix.

»Ich habe nichts Böses getan, für das Jesus büßen muss«, erwiderte Chiara. »Überhaupt, ich finde diese Kreuze fürchterlich. Diese Nägel, all das Blut, das da aufgemalt ist. Und dann noch diese Dornenkrone. Warum soll ich so was gut finden?«

Francesco sah sie an. »Wie kannst du das nur sagen? Man darf nicht an Gott zweifeln oder an Christus. Das ist Sünde.« In seinen Augen glänzte es feucht.

»Aber warum denn nicht? Wer sagt denn das?«

»Das steht im Großen Katechismus. Und den hat der Papst geschrieben. Und der muss es ja wissen. Außerdem sieht der liebe Gott alles.« Francesco zog die Beine an und rückte das Buch auf den Knien zurecht. »Und Jesus auch. Und das tut ihm weh. Das schreibt Gemma Galgani hier.« Er tippte auf die aufgeschlagenen Seiten. »Denn Jesus hat zu ihr gesprochen und hat ihr gesagt: Beständig erfahre ich von den Menschen nur Undankbarkeit und Unwissen. Tag für Tag wächst die Gleichgültigkeit, niemand bereut.« Francesco seufzte. »Dabei lasse ich vom Himmel aus allen Lebewesen meine Gnade und Güte zuteilwerden«, las er weiter vor, »durch das Licht und das Leben der Kirche. Den Herrschenden schenke ich Tugend und Macht, Weisheit gebe ich denen, die all die Seelen erleuchten müssen, derer die im Dunkel leiden. Selbst den verborgenen Sündern in ihren dunklen Höhlen sende ich Licht und tue alles, um sie zu bekehren … doch sie stattdessen …«

»Na, und?« Diese vielen Worte sagten Chiara nichts.

»Den Sündern«, wiederholte Francesco. »Verstehst du nicht? Es ist Sünde, gleichgültig gegenüber dem Herrn zu sein und zu zweifeln. Das macht ihn wütend. Hier, hier schreibt sie weiter, was Jesus ihr noch gesagt hat: Ich brauche Opfer, starke Opfer. Um den gerechten und göttlichen Zorn meines Himmlischen Vaters zu besänftigen, brauche ich Seelen, die mit ihren Leiden und Qualen die Sünder bekehren. Sonst wird der Himmlische Vater das menschliche Volk auf grausame Art strafen.« Francesco zitterte. Dann holte er ein kariertes Taschentuch aus der Wäschekommode.

»Aber das ist ja genauso schrecklich, wie all diese Sachen aus der Bibel«, flüsterte Chiara. »Die gruseln mich immer so.« Sie holte ihren Zopf nach vorn und überprüfte, ob die Haare noch alle fest geflochten und keine Strähnen herausgesprungen waren.

»Was für Sachen denn?« Francesco drehte sich zu ihr.

»Na, zum Beispiel Herodes. Der lässt lauter kleine Kinder ermorden. Warum denn nur? Die haben ihm doch nichts getan. Oder Lazarus. Der lag schon ganz lange in der Grotte und war tot. Und dann steht er plötzlich auf und ist lebendig und gesund. Wenn man tot ist, ist man tot. Sonst bräuchten wir ja keinen Friedhof, wenn die alle wieder aufstehen. Dann hätten wir Nonno ja damals in seinem Bett liegenlassen können, bis er wieder lebendig wird.«

»Wenn wir auferstehen, leben wir im Reich Gottes weiter«, sagte Francesco. »Im Himmel, nicht auf der Erde. Verstehst du?«

»Nein.« Chiara presste die Lippen zusammen. Mamma erzählte immer Geschichten aus der Bibel, aber das passte alles nicht richtig zusammen. Francesco war keine große Hilfe, der glaubte alles und stellte nie Fragen. Er hatte auch keine Angst vor dem Kruzifix. Und las seit einiger Zeit immer in diesem Buch von dieser merkwürdigen Frau. Außerdem ging er gern in diese langweiligen Messen am Sonntag. Der Priester redete lateinisch, und sie verstand kein einziges Wort. Wieso sollte sie Sätze wiederholen, von denen sie nicht wusste, was sie bedeuteten? Aber alle anderen in der Gemeinde sprachen die Sätze nach, im ewig gleichen Tonfall. Da hörte sie gleich, dass die es auch nicht verstanden. Trotzdem wiederholten sie alles wie blökende Schafe. Und durch das Beten hatte sich für sie auch noch nichts verändert. Nichts änderte sich. Ihr Leben war so wie immer, egal ob sie betete oder nicht. Die Kätzchen hatte sie auch nicht behalten dürfen, obwohl sie so darum gebeten hatte. Papà hatte sie einfach im Bach ertränkt, weil es zu viele gewesen waren. Da hatten ihre Gebete auch nicht geholfen. Also konnte sie es auch lassen und lieber mit Silveria spielen. Warum glaubte Francesco das alles?

Chiara rutschte von Francescos Bett und ging zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um. Francesco schlug das Buch in das Taschentuch, als wäre es ein wertvoller Schatz. Das Bündel schob er in seine Jackentasche, schlug das Kreuz und küsste seine Fingerspitzen.