Glaube Liebe Stigmata

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KAPITEL 3

Francesco saß im Schatten unter dem knorrigen Olivenbaum und malte mit einem Stöckchen Striche in den trockenen Sandboden. Die Schafe rupften am verdorrten Gras. Die Herde war nicht größer geworden, Papà hatte die Lämmer, das zweite war eine Woche nach dem ersten auf die Welt gekommen, zu Ostern verkauft. Da hatten sie noch gedacht, sie würden eine gute Ernte einfahren und einen Vorrat für den Winter anlegen können. Doch in den folgenden Monaten hatte es so gut wie nicht geregnet. Der Mais verdorrte auf den Feldern. Papà klagte, redete ständig über das vergangene Jahr, was sie für ein gutes Geschäft gemacht hatten. Damals hatten sich grüne und gelbe Flächen auf den Hügeln abgewechselt. Jetzt waren da nur braune Einöden. Und Stille. Niemand arbeitete auf den Feldern, niemand rief, niemand sang oder schimpfte oder lachte. Wo nichts wuchs, gab es nichts zu tun. Selbst der Bach war ausgetrocknet. Die Vögel waren verstummt.

Francesco blinzelte durch die verstaubten Blätter des Olivenbaums nach oben. Aus den vielen Blüten des Frühlings waren nur wenige Früchte entstanden, und die waren klein und verschrumpelt. Der Wanderfalke zog in der Höhe weite Kreise, schoss manchmal im Sturzflug herab und erlegte eine Maus. Fliegen surrten um die Schafe, neben Francesco liefen Ameisen in einer Reihe. Mit seinem Stöckchen lotste er sie von seinem Beutel mit dem Brot und der Zwiebel fort, zu einem Lavendelstrauch hin.

Beim Frühstück hatten sich Mamma und Papà gestritten, wie so oft in diesen Tagen, über die Schafe, die kaum noch Milch gaben, über die mickrige Ernte, die Papà und Matteo einholten. Mamma hatte Papà vorgeworfen, er hätte nicht genug gebetet. Oder nicht richtig. Sonst hätte Gott sie nicht so gestraft. Sie hatte ihn daran erinnert, dass er vor Jahren sonntags immer in die Kirche gegangen war, auch in die entfernteren Wallfahrtskirchen, um die Heiligen um Hilfe bei der Ernte zu bitten. Damals hatten sie viele Säcke Getreide ins Lager geschleppt. Doch in diesem Jahr, da war er immer nur im Dorf geblieben, hatte nur hin und wieder am Samstag die kurze Frühmesse besucht, aber nicht das Hochamt am Sonntag. Er hatte die Heiligen vernachlässigt. Nun folgte die Strafe. So Gott will, könne er das nur noch durch zusätzliches Beten und sonntäglichen Kirchgang wiedergutmachen. Sie brauchten ein Wunder und nur mit Gebeten würden sie eines bekommen.

Ave Maria, gratia plena, betete Francesco in Gedanken, dominus tecum. Vielleicht konnte er zu dem Wunder beitragen, wenn er durch mehr Gebete mithalf. Benedicta tu in mulieribus. Früher hatte er Papà zu den Sonntagsmessen begleitet. Ihm war, als würde er hier unter dem Olivenbaum den Weihrauchduft aus den Kirchen riechen. Damals hatte er auch gebetet. Et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Damals in San Donato hatten Papà und er ziemlich weit vorn gesessen, Francesco genau am Mittelgang. Es war der Tag des heiligen Donatus gewesen, ein heißer Augusttag, so wie heute. Padre Antonio hatte am Altar gestanden, den Rücken zur Gemeinde gewandt. Er sprach die lateinischen Worte, und Francesco antwortete zusammen mit den Bauern, Handwerkern, Hausfrauen, Alten und Kindern. »Et cum spiritu tuo« oder »Deo gratias«. Über dem Altar hing ein Holzkreuz mit dem Herrn Jesus. Kantige Nägel durchbohrten ihm Hände und Füße. Blut lief an ihm herunter. Den Kopf ließ er hängen, die Dornenkrone stach ihm in die Stirn. Blut lief ihm auch über die Wangen wie Tränen.

»Confiteor Deo omnipotenti, beatae Mariae, semper virgini.« Rechts an der Wand blickte der heilige Donatus mit verdrehten Augen in den Himmel. Er hielt einen Kelch in den Händen, und auf seiner Schulter saß ein Drache. Links predigte der heilige Franz den Vögeln. Das Gemälde war vom Kerzenruß schon fast schwarz, dennoch erkannte Francesco unter einem Baum unzählige Vögel, in weiß und schwarz, mit hellen Flügeln. Der Heilige in der braunen Kutte streckte ihnen die rechte Hand entgegen, Zeige- und Mittelfinger waren ausgestreckt. Er sah zu den Vögeln hinunter. Die Vögel flogen sicher nicht weg, weil der Mönch freundlich zu ihnen war. Um seinen Kopf mit dem Haarkranz schimmerten die Reste eines Heiligenscheins, unter dem Kinn sprossen ihm ein paar Barthaare. Auf der linken Hand und an den Füßen hatte Franz dunkle Flecken. Dieser Franz konnte mit den Tieren sprechen und half den Armen. Das hatte Mamma ihm erzählt, denn Franz war ihr Lieblingsheiliger. Sie hatte den ersten Francesco nach ihm benannt, und dann ihn, als der erste Francesco gestorben war. Hinter dem Heiligen stand noch jemand. Auch der trug eine Mönchskutte, aber das musste eine Frau sein, denn sie hatte keinen Bart und trug einen Schleier.

»Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus bonae voluntatis.«

Weihrauchschwaden waberten durch die Kirche. Über Donatus, dem an diesem Tag gehuldigt wurde, hatte Mamma nie viel erzählt. Er war Bischof gewesen, enthauptet worden und konnte Menschen mit Fallsucht und Geisteskrankheit gesund machen. Möglicherweise konnte er auch für eine gute Ernte sorgen. Vielleicht sollte Francesco sich besser an den heiligen Donatus wenden. Und so betete er für eine gute Ernte und dass die besessenen Menschen gesund werden mögen. Zur Sicherheit wandte er sich aber noch an Gott und bat den Herrn, er möge den heiligen Donatus unterstützen bei der Ernte und bei der Heilung aller Kranken. Oder er, der Herr, möge es selbst tun, wenn der Heilige dazu nicht in der Lage war. Amen. Francesco seufzte.

»Sanctus, sanctus, sanctus Dominus Deus. Pleni sunt coeli et terra gloria tua.« Francesco sah nach vorn. Padre Antonio öffnete den Tabernakel über dem Altar und holte einen goldenen Kelch hervor, in dem der Leib Christi lag. Francesco fröstelte. Noch durfte er nicht mit zur Kommunion. Wie wohl der Leib Christi schmeckte? Nächstes Jahr würde er es erfahren.

Da stand Severina auf. Sie trug ein großes Bündel auf dem Arm und eilte zum Altar. Elisa. Severina trug sie immer herum, denn das Mädchen konnte nicht laufen und auch nicht sprechen. Dabei war sie schon vier. Alle Leute in der Gegend redeten über Severina. Tagsüber wusch sie die Wäsche für die, die genug Geld hatten und für so etwas bezahlen konnten. Das war eigentlich nichts, worüber sich besonders viel reden ließ, aber abends empfing Severina in ihrem Zimmer angeblich Männer. Mit keinem von ihnen war sie verheiratet. Die Frauen auf dem Markt tuschelten immer, sagten, sie würde ein liederliches und sündiges Leben führen, deshalb hatte Gott sie mit der kranken Elisa gestraft. Severina hatte zu viel geschwatzt, und nun war ihre Tochter eben stumm. Severina hatte einen Fehltritt begangen, und nun tat Elisa keinen Schritt. Das sagten die Leute. Elisa bekam manchmal Anfälle, so wie Besessene sie bekamen.

»Heiliger Donatus, da, mach dieses Kind gesund oder nimm es zu dir …«, rief Severina und warf Elisa in den Altarraum. Rechts und links standen Vasen mit Sonnenblumen, die Köpfe hingen. Die Kerzen auf den Messingständern waren fast heruntergebrannt, die Flammen flackerten im leichten Windzug. Die Kreuzigung auf dem Gemälde über dem Altar war unter dem Kerzenruß fast vollständig schwarz geworden, nur schemenhaft erkannte man noch die Figuren am Fuß des Kreuzes. Durch ein kleines Fenster, oben auf der rechten Seite, fiel ein Lichtstrahl herein und traf Elisa, die über den Terrakottaboden rutschte. Severina fiel auf den Stufen vor dem Altar schluchzend auf die Knie. Die Leute reckten die Köpfe, sagten noch ein paar lateinische Worte.

Francesco starrte Severina an. »Herr, mach Elisa gesund«, murmelte er, »ich bitte dich.«

Hoch oben im Glockenturm fiepten frisch geschlüpfte Meisen. Eine Fliege summte durch den Kirchenraum. Niemand rührte sich, alle blickten zum Altar. Der Padre, mit der Hostie in den erhobenen Händen, drehte sich langsam um.

Elisa zuckte auf dem Boden. Sie zappelte, und ihre Arme und Beine schlugen auf die Fliesen. Ihr altes, aber ganz sauberes Kleid rutschte hoch, die knochigen Beine waren verdreht. Sie warf den Kopf von einer Seite auf die andere, immer und immer wieder, ihre kurzen Zöpfe lösten sich und die braunschwarzen Locken standen wild vom Kopf ab. Ein paar Meter rollte sie durch den Altarraum. Da, wo sie den Staub mit ihrem Kleid wegwischte, leuchteten die Fliesen im kräftigen Terrakottarot. Elisa kniff die Augen zusammen, ihr Mund verzog sich. Dann riss sie sie wieder auf und rief: »Mamma! Mamma!«

Mühsam rappelte sie sich auf und stand auf den dürren Beinen, wie ein neugeborenes Lamm. Weinend sah sie sich um und stolperte zu der knienden Severina. Staksig und schwankend, aber Elisa lief.

»O Jesus Christus! Seht nur! So seht doch! Ein Wunder! Ein Wunder!«

»Heilige Maria, Muttergottes, sie läuft! Sie spricht!«

Ein Rauschen, Stimmengewirr, das Scharren von Schuhen auf dem Steinboden erfüllten die Kirche.

»Habt ihr gesehen? Ein Wunder!«

»Lobet den Herren! Lobet den Herren!« Einige Frauen stießen spitze, trillernde Schreie aus. Sie hallten von den Kirchenwänden wider wie ein Siegesruf. Francesco reckte den Hals zum Gang hinaus, die Leute sprangen von den Kniebänken auf und bekreuzigten sich ohne Unterlass. Elisa schlang die mageren Arme um Severinas Hals und wimmerte. Die Gebete, Schreie und Rufe schwollen zu einem Brausen an.

Francesco schwieg. Sein Gebet war erhört worden. Gott hatte ihn erhört. Gott hatte ihm geantwortet. Gott hatte ihm dieses Zeichen gesandt. Gott hatte Elisa gesund gemacht, weil er ihn darum gebeten hatte. Das war ein Wunder, das er ganz allein gemacht hatte. Nur mit Gottes Hilfe.

Die Ernte war in jenem Jahr ordentlich ausgefallen. Die Familie hatte genug zu essen gehabt, und es hatte Frieden im Haus geherrscht.

Francesco lächelte bei dieser Erinnerung und sah wieder hoch in die Olivenblätter. Er würde beten, damit die Eltern nicht mehr stritten.

 

»Grüß Gott, mein Sohn«, ertönte die Stimme eines Mannes. »Kannst du mir sagen, ob es noch weit ist bis Pietrelcina?«

Ein paar Meter vor Francesco stand ein Mönch auf dem Weg. Er trug eine braune Kutte mit einer weißen Kordel, in die drei Knoten geschlagen waren. Seine Füße steckten in Ledersandalen. Und er hatte einen Bart.


KAPITEL 4

Während Francesco die Tiere heimwärts trieb, schielte er immer wieder zu dem jungen Mönch mit den dunklen Augen und der geraden Nase. Er ging neben Francesco, hatte die Hände in die Ärmel seiner Kutte geschoben und lächelte. Langsam marschierten sie über die glatt gewetzten Pflastersteine zum Stall. Aus den niedrigen Trockenmauern entlang des Weges zupften sich die Schafe hin und wieder einen frischen Grashalm. Die tief stehende Sonne tauchte alles in ein goldenes Licht, Francesco vergaß beinahe, dass auf diesem Boden keine Früchte mehr wachsen würden.

»Wart Ihr schon immer Mönch?«, fragte Francesco und schlug mit dem Hirtenstock ein paar vertrocknete Gänseblümchen ab.

Der Mönch war natürlich nicht immer Mönch gewesen, sondern ein normaler Junge wie Francesco. Nach der Schule war er auf Wunsch seiner Eltern in ein Kloster eingetreten, wie es in Familien mit vielen Kindern üblich war, damit alle versorgt und ein Auskommen hatten. »Ich habe dem Wunsch meiner Eltern aber mit Freuden entsprochen«, sagte er.

Francesco trieb die Schafe weiter. »Muss man in der Schule gewesen sein, um Mönch zu werden?«

Der Mönch blieb stehen. »Ja, man muss doch lesen und schreiben können. Kannst du lesen und schreiben?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Aber ich bete jeden Tag.«

»Das ist gut, mein Sohn, aber als Mönch muss man lesen und schreiben können. Sonst kann man nicht in der Heiligen Schrift lesen und keine Messe halten. Beten ist nur ein Teil des Tagwerks eines Mönches.« Er legte Francesco eine Hand auf die Schulter und berichtete vom Studium der Bibel, der Arbeit in Küche und Garten, dem Feiern von Vesper und heiliger Messe, von der Betreuung der Gläubigen, dem Abnehmen der Beichte, dem Spenden der Sakramente. Von Besinnung und Einkehr, von der Freude, Gott ganz nah zu sein, von der Gemeinschaft der Brüder und den Wohltaten für Geist und Seele. Er schob seine Hand wieder in den Ärmel der Kutte.

»Schön.« Francesco seufzte. So ein Leben hörte sich ruhig und sorgenfrei an. »Könnt Ihr auch Wunder machen?«, fragte er.

»Wie kommst du darauf?«

»Na ja, ich dachte. Ihr seht so aus wie der heilige Franz, und der hat Wunder gemacht. Er hat mit den Vögeln geredet. Und da dachte ich, Ihr könnt das vielleicht auch.« Francesco biss sich auf die Zunge. Gleich würde der Mönch böse werden, weil er so etwas Dummes gesagt hatte.

Aber er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nur ein einfacher Mönch. Wunder kann ich nicht vollbringen. Wunder sind nur sehr gottesfürchtigen Menschen vorbehalten, die tugendhaft leben und Gott dienen. Sollten sie wirklich Wunder gewirkt haben, werden sie später heiliggesprochen. So wie Franz von Assisi. Ein Wunder vollbringen zu können, ist ein großes Geschenk Gottes, das bekommt nicht jeder einfach so.«

»Ach.« Aber damals in San Donato hatte er ein Wunder gemacht, denn es war ein Wunder gewesen, dass Elisa mit einem Mal laufen konnte.

Der Mönch sprach von den Geboten des heiligen Franz, Armut, Keuschheit und Gehorsam, die drei Knoten in seinem Gürtel erinnerten ihn immer daran. Er sprach von Hingabe und inneren Kämpfen. Wunder gab es bei den Mönchen nicht.

»Was ist Keuschheit?« Francesco erschrak. Das war ihm nur so herausgeplatzt. Rasch trieb er die Schafe mit kurzen Stockhieben weiter, damit der Mönch nicht merkte, wie neugierig er war.

»Dann ist man nicht verheiratet. Ein Mönch lebt nicht mit einer Frau zusammen. Er weiht sein Leben Gott. Er lebt keusch.« Der Mönch zog für einen Moment die Brauen zusammen.

Keusch. Francesco wagte nicht noch einmal zu fragen, aber das Wort klang seltsam und geheimnisvoll. Es passte gut zu einem Heiligen, es hörte sich an wie scheu, und als keuchte jemand wegen unerklärlicher Schmerzen, aber es hatte auch etwas Sauberes. Das war anders, als wenn Papà mit Mamma ein Kind machte. Dabei raschelten die Laken, das Bettgestell quietschte und krachte gegen die Wand, und Mamma und Papà machten Laute wie die Tiere, als wären sie besessen. Das war nicht rein, das war nicht keusch.

Als sie den Stall erreichten, ging die Sonne hinter den Hügeln der Campania unter. Francesco spürte die Hitze, die von den grob behauenen Steinen der niedrigen Wände ausstrahlte. Mit dem Fuß schob er ein paar von den zerbrochenen Tonziegeln, die einst das Dach bedeckten hatten, beiseite und trieb die Tiere in den Stall. Er streute etwas Stroh aus, holte Wasser vom Brunnen und goss es in die Tränke. Schließlich verriegelte er die klapprige Holztür.

»Jetzt gehen wir nach Hause«, sagte er zu dem Mönch.

Auch im Vico Storto war es noch warm vom Tag. Der Duft von gebratenen Zwiebeln und Paprika vermischte sich mit dem Gestank von Hühnermist, faulenden Küchenabfällen, Kacke und Pisse. Francesco musste würgen, jedes Mal musste er das, wenn er vom Feld kam, wo die Luft frisch war und es nach Gras und Kräutern duftete.

»Da vorne ist es schon«, sagte er leise und zeigte auf sein Zuhause. Anders als sonst fiel ihm auf, dass das Haus Stückwerk war. Es bestand aus dem flachen Küchenteil und einem einstöckigen Anbau, in dem sie alle schliefen. Die unverputzten grauen Steinmauern kamen Francesco heruntergekommen vor. Die Tür zur Küche stand offen, sie benutzten immer nur die, während die schwere, glänzende Haustür fest verschlossen blieb. Ein paar Hühner scharrten in der Gasse vor dem Haus im Staub und gackerten. Pasqualina und Flora liefen zwischen ihnen herum und spielten mit ihren Strohpuppen. Sie lachten und kreischten. Es schmerzte Francesco in den Ohren.

Er blieb vor der Küchentür stehen und rief: »Mamma? Kommst du mal.« Es roch nach Polenta. Die Mädchen kreischten immer noch, umkreisten Francesco und den Mönch und spielten Fangen. Weiter oben in der Gasse brüllte ein Mann unverständliche Worte. Im Nebenhaus sang die dicke Nunzia ein trauriges Lied von einer keuschen Göttin, die der Erde den Frieden schenken möge, der im Himmel herrschte.

»Was denn, Francì?« Mammas Stimme drang aus der dunklen Küche.

»Komm doch mal raus.« Francesco schielte zu dem Mönch. Hoffentlich dachte er nicht schlecht von Mamma, wenn sie ihn so lange warten ließ. Er zog den Kopf ein.

Mamma trat in die Tür. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. Um ihr schwarzes Haar trug sie ein Kopftuch mit kleinen weißen Blumen auf grünem Grund. Die Ränder waren dunkel verfärbt, eine Haarsträhne war herausgesprungen. »Schrei hier gefälligst nicht so rum«, rief sie. »Ist nicht schon … heilige Maria, Muttergottes«. Sie bekreuzigte sich. »Padre, wo kommt Ihr denn her? Was für eine Ehre. Können wir etwas für Euch tun? Bitte, kommt doch herein.«

Der Mönch trat einen Schritt auf sie zu. »Der Segen des Herrn sei mit Euch, meine Tochter.«

»Und mit Euch. Darf ich Euch ein Glas Wein oder etwas Wasser anbieten? Kommt doch bitte herein. Ich mache gerade das Abendessen, vielleicht möchtet Ihr einen Teller mitessen.«

»Mamma …«, sagte Francesco.

»Danke, meine Tochter, gern. Ich bin Padre Carmelo aus Morcone. Und ein Glas Wein wäre wirklich schön, mein Mund ist so ausgetrocknet von dem staubigen Weg.« Der Mönch, Padre Carmelo, trat hinter Mamma ins Haus.

Francesco folgte ihnen.

Padre Carmelo setzte sich auf die Bank an dem großen Holztisch.

»Francì, hol ein Glas und etwas Wein für Padre Carmelo.« Mamma trat zum Kamin in der Ecke. Über dem Feuer hing der Kessel mit Polenta. Sie nahm den Holzlöffel und rührte den Maisbrei durch.

Francesco ging zur dunklen Anrichte. Die Marmorplatte war gerissenen und die Ecken abgestoßen, darauf stand ein Tonkrug mit Rotwein, in dem Regal darüber die Gläser. Er suchte nach einem heilen Glas, fand aber keines.

»Es ist ganz sauber, nur ein bisschen angestoßen«, sagte er, als er Glas und Krug auf den Tisch stellte.

»Das macht nichts.« Padre Carmelo schenkte sich ein und nahm einen tiefen Schluck. »Ach, das tut gut, nach dieser langen Wanderung. Gleich nach dem Morgengebet bin ich von unserem Kloster aufgebrochen. Aber setz dich doch zu mir, mein Sohn.«

Francesco schob sich auf das andere Ende der langen Bank.

Mamma drehte ihm den Rücken zu. »Padre Carmelo, entschuldigt, ich muss die Polenta rühren, sonst gibt’s kein Abendessen.«

»Ist schon recht, Donna …«

»Ach Gott, verzeiht, was bin ich unhöflich.« Sie ließ den Löffel in die Polenta fallen, wischte sich die Hände an der Schürze ab und drehte sich zu Padre Carmelo. »Ich bin Giuseppa, verheiratete Forgione.« Sie streckte ihm die Hand hin. Padre Carmelo erhob sich und ergriff sie. Mamma beugte sich vor und küsste seine Hand. »Es wird mir manchmal alles ein bisschen viel, wisst Ihr.« Sie griff wieder zum Holzlöffel. »Fünf Kinder, der Hof. Mein Mann und die anderen Kinder kommen gleich vom Markt. Hoffentlich haben sie was verkaufen können. Wisst Ihr, wir haben ein Feld und bauen Mais an und Grazio – das ist mein Mann – geht einmal in der Woche auf den Markt und verkauft ihn dort. So Gott will.«

»Sag, Donna Giuseppa, ist es denn noch weit bis zur Pfarrei?« Padre Carmelo setzte sich wieder und nahm noch einen Schluck Wein. »Ich wollte den Pfarrer fragen, ob ich die Nacht bei ihm zubringen kann. Der Weg von Morcone war lang, und heute möchte ich nicht mehr weiterlaufen. Morgen früh breche ich nach Benevento auf.«

Mamma wandte sich mit dem Holzlöffel in der Hand um. »Ihr könnt auch bei uns unterkommen, falls Euch unser Haus nicht zu einfach ist. Matteo überlässt Euch gern seine Kammer und schläft im Stall. Das macht er öfter. Es wäre uns eine große Ehre«, sagte sie. »Francì, hol eine Zwiebel und reibe etwas Käse.«

Francesco sprang auf und lief zur Kammerunter der Treppe des Anbaus. Dort lagerten sie Mehl, Zucker, Salz, Knoblauch, Zwiebeln, ein paar Salamis, einen kleinen Schinken und den selbst gemachten Schafskäse. Das wäre schön, wenn der Padre bleiben würde, aber wahrscheinlich war ihm ihr Haus viel zu ärmlich. Francesco nahm eine Zwiebel aus dem Korb und griff nach einem kleinen Stück Pecorino. In der Küche hingen die Schöpfkellen, Kupferkessel und Töpfe an der Wand, und in der Nische, gleich neben dem kleinen Fenster, das zur Rückseite des Hauses ging, standen die Tontöpfe und Tonkrüge offen herum. In der anderen Ecke stapelten sich die Weidenkörbe. Sie hatten nicht mal einen Schrank. Überhaupt hatten sie nur diesen einen Raum und oben die drei kleinen Schlafkammern. Und alles war alt und abgestoßen wie die Gläser.

»Wenn es Euch keine Umstände macht, Donna Giuseppa, bleibe ich. So kann ich mich noch ein bisschen mit Eurem Sohn unterhalten«, sagte der Mönch, als Francesco wieder in die Küche trat.

Er strahlte Padre Carmelo an. Also hatte er ihn mit seiner Fragerei nicht verärgert.

»Na, wenn Ihr meint, dass man mit dem Jungen reden kann.« Mamma nahm Francesco die Zwiebel aus der Hand. Rasch zog sie mit einem Messer die Schale ab und hackte sie in kleine Würfel.

»Aber sicher kann man mit Francesco reden. Außerdem freue ich mich, dass er wie unser geliebter Ordensgründer heißt«, sagte Padre Carmelo mit einem Lächeln. »Und von dem habt Ihr dort sogar ein Bild hängen. Der Herr hat mich in das richtige Haus geführt.«

Der heilige Franz war auf der alten Holztafel über dem Kamin kaum noch zu erkennen. Er blickte den Betrachter an, der Heiligenschein war verblasst. Die Hände hatte er vor die Brust gelegt, die rechte über die linke, in der Mitte des Handrückens war ein Fleck. Das Bild hatte schon Mammas Großeltern gehört, aber niemand wusste, woher sie es bekommen hatten.

»Der heilige Franz leitet mich«, sagte Mamma, ohne Padre Carmelo anzusehen, »wisst Ihr, nachdem der Herr meinen ersten Francesco und ein Mädchen viel zu früh wieder zu sich gerufen hat, habe ich ihn um Hilfe angefleht und geschworen, den nächsten Sohn wieder ihm zu weihen. Na, im Jahr darauf wurde der hier geboren.« Sie zeigte mit dem Messer auf ihn.

 

Francesco seufzte. Sein toter Bruder.

Padre Carmelo verzog ein wenig den Mund, Falten bildeten sich auf seiner Stirn. »Ja, die Wege des Herren. Wir Sterblichen verstehen sie nicht immer. Aber nach den Opfern kommt auch immer wieder das Heil.«

»So Gott will. Francesco wird seinem verstorbenen Bruder hoffentlich alle Ehre machen. Aber der Junge steht wohl unter einem guten Stern, das hat der Seher aus dem Dorf gesagt«, erzählte Mamma. »Der hat bei seiner Geburt prophezeit, Francesco wird mal von vielen Menschen verehrt. Und er hat noch gesagt, dass durch seine Hände viel, viel Geld gehen wird, aber er selbst wird nichts besitzen. Was ja wirklich ein Jammer ist, aber wer weiß, wozu das gut ist.«

Francesco holte die Käsereibe und ein Schüsselchen und rieb am Tisch den Pecorino. Mamma redete manchmal wirklich viel.

Padre Carmelo nickte bedächtig und trank einen weiteren Schluck.

»Der Seher hat noch gemeint, dass er viel leiden wird«, fuhr Mamma fort. »Schrecklich, schrecklich, das alles. Ich weiß gar nicht, was das bedeuten soll. Aber irgendwie tröstet es mich. Denn dieser Junge ist so seltsam. So verschlossen. Ganz anders als mein erster Francesco. Padre, versteht Ihr, was ich sagen will?«

»Ja, meine Tochter, ich verstehe Euch«, sagte Padre Carmelo.

Francesco seufzte. Immer musste Mamma von der Prophezeiung anfangen. Viel lieber würde er dem Padre von seinem Wunder erzählen und ihn fragen, ob das wirklich ein Wunder gewesen war. Natürlich war es das. Nur Mamma sollte das alles nicht erfahren.

»Aber macht Euch keine Sorgen.« Padre Carmelo drehte das Weinglas in den Händen. »Euer Sohn scheint mir ein aufgeweckter Junge zu sein. Ihr dürft diesem Seher nicht zu viel Glauben schenken, der Glaube gebührt Gott allein. Und er wird es richten. Im Guten wie im Schlechten. Er wird Francesco auf den rechten Weg führen.«

Francesco schob das Schüsselchen mit dem geriebenen Käse in die Mitte des Tisches. »Ich will Mönch werden«, sagte er. »Ein Mönch mit Bart. So wie Padre Carmelo.«

»Francì, was fällt dir ein? Das hast du nicht zu bestimmen. So kannst du doch nicht über den Padre reden. Das ist ungehörig.«

Mamma wollte ihn am Ohr ziehen, doch Padre Carmelo hob die Hand. »Nicht, das ist doch ein wunderbarer Wunsch, und ich würde mich sehr freuen, wenn Francesco zu uns käme und das Gelübde ablegte. Weißt du, bei uns tragen alle Mönche einen Bart.« Er zwinkerte ihm zu.

»Ach, Padre Carmelo, das sagt Ihr jetzt so. Wenn das mal alles so einfach wäre. Aber seinem Vater wird das mit dem Kloster gar nicht gefallen. Er braucht jede Hand auf dem Feld und bei den Schafen. Francescos wird gebraucht, es gibt einfach zu viel zu tun. Und wenn er hier isst, muss er auch was dafür tun.« Mamma warf die Zwiebelwürfel in die Polenta und goss etwas Öl hinzu.

»Na, na, er soll ja nicht gleich morgen mit mir ins Kloster kommen«, sagte Padre Carmelo, während er sich noch einmal Wein einschenkte. »Und du hast natürlich recht, das ist ein Schritt, der sehr gut überlegt sein will. Man geht nicht einfach so aus einer Laune heraus ins Kloster, und wenn es einem nach einiger Zeit nicht mehr gefällt, kehrt man ins weltliche Leben zurück.« Er sah Francesco eindringlich an. »Nein, Francesco, du musst dir ganz sicher sein, dass du unserem Herrn Jesu wirklich folgen und alles Weltliche für immer hinter dir lassen willst. Prüfe dein Herz genau, ob du zu diesem großen Schritt bereit bist.«

Francesco starrte auf seine Füße und nickte. Padre Carmelo meinte es bestimmt nur gut, aber seit dem Tag in San Donato brauchte er nicht mehr zu überlegen. »Ich bin bereit.«

»Francesco, übereile es nicht. Noch bist du zu jung für das Kloster«, sagte Padre Carmelo. »Mit fünfzehn kannst du bei uns eintreten. Aber für das Noviziat musst du lesen und schreiben können. Erinnerst du dich, was ich dir auf dem Weg erzählt habe?«

»Was habt Ihr ihm erzählt, Padre Carmelo? Ihr habt ihm doch nicht etwa Flausen in den Kopf gesetzt?« Mamma blickte erst zum Padre, dann zu Francesco und runzelte die Stirn.

Francesco rutschte tiefer unter den Tisch.

»Keine Sorge, Donna Giuseppa.« Padre Carmelo lächelte Mamma zu. »Francesco, wie alt bist du eigentlich?«

»Zehn.« Francesco schluckte. Noch fünf Jahre warten.

»Und du kannst nicht lesen? Eigentlich sollten Kinder mit sechs Jahren Lesen und Schreiben lernen. Du bist schon fast zu alt dafür. Gibt es im Dorf denn keine Schule?«

»Nein.« Mamma streute Salz in den Topf. »Hier hat noch nie ein Kind eine Schule besucht. Für die Arbeit auf dem Land muss man nicht lesen können und schreiben schon gar nicht. Ich kann’s auch nicht und komme trotzdem durchs Leben.«

Fast zu alt. In Francescos Brust wurde es eng, er atmete schneller und fuhr mit dem Finger die Maserung des Tisches nach.

»Mamma, bitte.« Francesco entdeckte, dass sich eine Haarsträhne aus ihrem Kopftuch löste. Rasch steckte sie sie wieder fest und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Dann bete ich ganz viel zum heiligen Franz, und ihr kommt alle in den Himmel.«

»Francì, das ist Sünde.« Mamma sah zu Padre Carmelo, als erwartete sie eine Bestätigung.

»Keine Sorge, Donna Giuseppa, er meint es doch gut, und so etwas verzeiht der Herr sofort.« Padre Carmelo strich ihm über den Kopf. »Francesco, du hast noch fünf Jahre Zeit. Wir müssen einen Lehrer für dich finden. Donna Giuseppa, ich rede mit deinem Mann. Es wäre eine Sünde, wenn wir diesem Wunsch, der doch aus tiefstem Herzen zu kommen scheint, nicht nachkommen.«

Mammas Gesicht färbte sich rosa. Heftig rührte sie im Maisbrei.

Der Druck in Francescos Brust löste sich, er konnte wieder durchatmen. Alles würde gut werden. Ein Kribbeln erfüllte seinen Bauch, und er fühlte sich leicht.

Padre Carmelo griff in die Tasche seiner Kutte und zog ein kleines Medaillon heraus. Er schob es Francesco zu. »Das möchte ich dir schenken, damit du dich immer an deinen Wunsch und an mich erinnerst. Du wirst sehen, wenn du fest davon überzeugt bist, dass du zu uns kommen willst, wird es geschehen. Ich sehe in ein paar Jahren nach dir und nehme dich mit ins Kloster, wenn du es dann noch möchtest. Das verspreche ich dir.«

Das Medaillon zeigte den heiligen Franz, wie er mit den Vögeln sprach. Vorsichtig nahm Francesco es in die Hand und strich mit dem Finger über die vorstehenden Figuren. Wie das Gemälde in San Donato. Franz predigte den Vögeln, die Hände ausgestreckt, mit den dunklen Flecken in der Mitte. Strahlen um seinen Kopf bildeten den Heiligenschein. Francesco drehte das Medaillon in den Händen. Die kleine Franziskus-Figur war die schönste Darstellung des Heiligen, die er je gesehen hatte. Viel schöner als das alte Bild über dem Kamin. Jeden Tag würde er den heiligen Franz nun ansehen, und Padre Carmelo würde er in seine Gebete einschließen.

»Francì, lass doch mal sehen«, sagte Mamma. Er schob ihr das Medaillon über den Tisch zu. Sie nahm es und drehte es ein paarmal herum. »Wie schön! Verlier das bloß nicht. Hast du dich schon bedankt? Das gehört sich so, und dann hilf mir, den Tisch zu decken.« Sie gab ihm das Medaillon zurück.

»Danke, Padre Carmelo.« Francesco ergriff die Hand des Mönches und küsste sie. Anschließend steckte er das Medaillon in die Hosentasche und holte die blau-gelben Keramikteller aus dem Regal. Während er noch einen Krug mit Wein und eine Karaffe mit Wasser auf den Tisch stellte, Gläser, Gabeln und Löffel holte, kehrten Papà, Matteo und Chiara zurück.

Francesco hörte kaum zu, als Papà von dem mageren Verkauf berichtete und Mamma der Familie Padre Carmelo vorstellte. Francesco verteilte das Besteck. Schon spürte er die raue Mönchskutte auf der Haut, um das Kinn juckte es ihn, doch als er mit der Hand darüber strich, spürte er kein einziges Barthaar.