Gellengold

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»Wir sind doch nicht in Seenot.«

»Wollten Sie sich weiter den Arm auskugeln mit Ihrem Gewinke?«, gab Damp zurück und ging hinunter an die Wasserkante. Aus dem Polizeiboot war inzwischen ein Schlauchboot zu Wasser gelassen worden, in das nun vier Männer kletterten. Einer startete den Heckmotor und das Boot schoss vorwärts in Richtung Strand. Damp wies die Kollegen an, weiter nach links zu steuern, damit sie nicht genau dort landeten, wo man den Toten gefunden hatte und dadurch vielleicht die letzten Spuren verloren gingen.

Am Strand gingen die Männer von der Spurensicherung nach einer kurzen Begrüßung gleich an die Arbeit. Ihr Chef, Holm Behm, meinte mürrisch: »Viel werden wir hier nicht finden. Ist schon alles ganz schön zertrampelt. Und bei dem Toten kann uns nur die Pathologie weiterhelfen. Der Messerstich könnte natürlich tödlich gewesen sein, aber vielleicht hat er auch noch gelebt, als er ins Wasser fiel oder gestoßen wurde, und ist dann ertrunken?«

Einer der Kriminaltechniker winkte seinen Chef zu dem gefundenen Fahrrad. Er zeigte Rieder und Behm die beiden parallelen Reifenspuren hinter dem abgestellten Fahrrad. »Sieht aus wie die Spur von einem Handwagen«, vermutete Behm.

»So eine Art Fahrradanhänger vielleicht, wie man sie hier auf der Insel benutzt, um das Gepäck von den Feriengästen zu transportieren«, bemerkte Rieder.

»Aber der muss ganz schön beladen gewesen sein, denn die Spuren gehen ziemlich tief in den Sand und hier ist der Strandboden eigentlich recht fest.« Der Beamte deutete auf ein kleines, kaum erkennbares Loch im Sand. »Da wurde er abgestellt. Man sieht noch den Einstich des Wagenständers.«

Rieder und Behm verfolgten die Abdrücke der Wagenräder. Behm berührte leicht die Spuren im Sand. »Sehen Sie mal hier.« Rieder kniete sich neben den Kriminaltechniker. »Das Profil der Reifen ist nicht klar zu erkennen. Es wirkt wie verwackelt, wie bei einem Foto. Wer auch immer wollte den Wagen auf der gleichen Spur zurückbringen, auf der er hergekommen ist. Aber sehen Sie! Da ist der Wagen ausgebrochen, wahrscheinlich weil der Sand weicher wurde.« Zwischen dem Abstand der Räder entdeckten die Polizisten auch eine Fußspur. »Er muss ganz schön gebuckelt haben an dem Wagen, bedeutet, der Wagen war ziemlich schwer«, mutmaßte Behm. »Die Fußspuren gehen tiefer in den Sand. Er muss barfuß gewesen sein. Die Sohlenspur ist leicht nach unten gebogen in den Sand. Man sieht sogar fast noch die Zehenabdrücke.« Behm stand auf und demonstrierte Rieder, was er meinte. »Er hat Widerstand und Halt gesucht im Sand, um den Wagen voranzubekommen, aber was kann er transportiert haben? Den Toten?«

Rieder schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Warum hat er das Fahrrad dann nicht wieder mitgenommen, falls er den Toten mit Rad und Wagen hierhertransportiert hat? Ich schätze, unser Toter ist mit dem Fahrrad gekommen und der Wagen hing hinten dran. Und den Wagen hat der Täter mitgenommen. Vielleicht haben sie sich um den Inhalt gestritten?«

Behm zuckte ratlos mit den Schultern. »Alles Vermutungen.«

Sie waren der Spur noch weiter gefolgt und jetzt schon oben am Strandzugang angekommen. Dort verloren sich auf dem kleinen Fahrradparkplatz die Wagenspuren zwischen hundert anderen, weil es täglich eine Menge Touristen gab, die mit Fahrrad und Hänger zum Strand fuhren und hier viele Spuren neben- und ineinanderliefen.

»Sollten wir vielleicht einen Spürhund einsetzen, um die Spur weiterzuverfolgen?«, fragte Rieder.

Behm wog den Kopf hin und her. »Vom Strand bis hierher kann der Hund vielleicht eine Witterung aufnehmen, aber hier sehe ich schwarz. Es sind zu viele Sachen in der Luft und zu viele Reifenspuren durcheinander. Ich glaube, das bringt nichts.«

Beide Polizisten gingen zurück an den Strand.

»Wir nehmen das Fahrrad mit nach Stralsund«, meinte Behm. »Vielleicht erzählt uns der alte Drahtesel noch ein paar Geschichten, die er hier am Strand nicht ausspucken will. Seine gut zwanzig, vielleicht dreißig Jahre hat der auch schon auf dem Buckel. Wisst ihr denn eigentlich schon, wer der Tote ist?«

Statt Rieder antwortete Damp, der immer in der Nähe der beiden geblieben war, um nur kein Wort zu verpassen. »Die Identität ist noch nicht geklärt. Er hatte keine Papiere bei sich. Nur Kollege Rieder hat etwas in seiner Hand gefunden. Vielleicht hilft das ja weiter.«

Rieder zog den Plastikbeutel mit der Münze aus der Tasche und gab sie Behm. Der hielt sie gegen das Licht. »Eine Erkennungsmarke ist das auch nicht«, spöttelte Behm in Richtung Damp, »aber schon merkwürdig.«

»Wollen Sie die Münze mitnehmen?«

»Ich denke, ihr beide könnt die hier besser brauchen. Vielleicht hat sie jemand von der Insel schon mal gesehen.«

Es war deutlich wärmer geworden. Die Sonne stand jetzt, so knapp vor Mittag, fast senkrecht über dem Strand. Behms Leute hatten ihre Arbeit beendet und waren dabei, das Fahrrad im Schlauchboot zu verstauen.

»Und die Leiche?«, fragte Damp.

»Euer Problem, würde ich sagen«, gab Behm zurück, »aber ihr solltet euch beeilen, ihn ins Kühlfach zu bringen, sonst bekommen die Möwen noch Appetit.«

»Na toll«, brauste Damp auf, »ihr könnt uns doch mit dem Scheiß hier nicht sitzen lassen.«

Aber Behm war schon auf dem Weg zum Boot. Er winkte noch kurz. »Ich schicke euch den Bericht per Mail rüber. Da sind dann auch Bilder von dem Fahrrad und dem Toten dabei. Braucht ihr ja sicher für eure Fahndung.« Und damit sausten die Kriminaltechniker mit dem Schlauchboot zurück zum Schiff der Wasserschutzpolizei.

Die beiden Inselpolizisten blieben ziemlich verdutzt mit ihrer Leiche am Strand zurück. Damp tobte. Er war sowieso schon ziemlich rot angelaufen durch die Stunden in der Hitze, aber nun drohte er förmlich zu explodieren. »Wofür halten die uns eigentlich«, brüllte er den Kollegen noch hinterher.

»Für zwei blöde Inselpolizisten«, gab Rieder zurück.

Damp starrte ihn an, als wollte er sich gleich auf Rieder stürzen. Seine Augen funkelten vor Wut. »Tun Sie nur nicht so cool, Rieder, und spielen Sie hier nicht den Großstadtpolizisten. Das nervt. Vielleicht begreifen Sie jetzt endlich mal, dass Hiddensee nicht Berlin ist, also nicht der Mittelpunkt, sondern der Arsch der Welt.«

Rieder hatte mit diesem Ausbruch nicht gerechnet, den auch die Hiddenseer Feuerwehrleute, angelockt durch die Lautstärke von Damps Attacke, mitbekommen hatten. Amüsiert blickten sie von ihren Absperrungen zu den beiden Streitenden herüber.

Rieder konnte sich nur mit Mühe durchringen, Ruhe zu bewahren. »Das gehört jetzt nicht hierher. Wo sind eigentlich die Sanitäter?«

»Die haben sich aus dem Staub gemacht. Ebenso der Arzt. Als Sie mit Behm angefangen haben, nach den Wagenspuren zu suchen, sind sie los. So läuft das hier. Begreifen Sie das endlich!«

»Dann, denke ich, sollten wir ein Bestattungsunternehmen von Rügen organisieren, das den Leichnam nach Greifswald in die Rechtsmedizin bringt.«

Rieder holte sein Handy aus der Tasche und ließ sich über die Auskunft mit einem Bestattungsunternehmen in Bergen verbinden. Man versprach ihm, in circa zwei Stunden vor Ort zu sein und den Toten dann nach Greifswald zu überführen.

»Okay, ich bleibe hier und warte. Sie könnten ja vielleicht schon mal nach Vitte fahren und schauen, ob eine Vermisstenanzeige vorliegt?«

Damp nickte bloß stumm und zog ab.

Rieder setzte sich in den Sand. Allein mit dem Toten überkam ihn eine depressive Stimmung. Zum ersten Mal, seit er hier auf der Insel angekommen war, fühlte er sich einsam. Eigentlich kannte er auf Hiddensee keinen Menschen. Und er war auch nicht der Typ, der schnell Bekanntschaften schloss. Vielleicht war seine Flucht aus Berlin unüberlegt gewesen? Alles zurückzulassen. Mit Damp verstand er sich nicht, er sah auch keine Chance, dass dies anders werden könnte. Und für die Insulaner war er ein Fremder. Das hatte er auch schon von anderen gehört, die hierhergezogen waren, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Man war und blieb der Fremde. Und dann noch dieser Fall. In Berlin wäre sofort der ganze Apparat ins Laufen gekommen, aber hier war nicht einmal geklärt, wie eine Leiche vom Fundort zur Pathologie kam. Er schaute zu der Plane mit dem Toten. »Wer bist du? Woher kommst du? Was wolltest du hier?«

Rieder griff nach der Münze in seiner Tasche und sah sie sich lange an. Das Metall glänzte golden in der Sonne. Auf der einen Seite war ein König zu sehen, mit einem Zepter in der Hand. Auf der Rückseite eine Art Wappen. Rieder blickte auf die Ostsee hinaus, als würde er dort Antworten auf seine Fragen finden. Doch dort rollten nur die Wellen in ihrem ewigen Rhythmus und Möwen hatten es sich auf den Buhnen bequem gemacht.

II

Als Rieder am Nachmittag aufs Revier in Vitte kam, hatte Damp schon die Aussage von Gerber ausgedruckt. Auch die Fotos von dem Toten und dem Fahrrad waren angekommen. Damp hatte davon eine CD gebrannt und wollte sich gerade aufmachen, um die Bilder im Fotoladen ausdrucken zu lassen. »Ich mach gleich ein paar Kopien mehr.«

»Das ist eine gute Idee. Gibt es denn irgendeine Vermisstenanzeige? Fehlt irgendwo ein Urlauber oder Feriengast?«

»Fehlanzeige. Aber das muss nichts heißen, nicht jeder Gast muss sich jeden Tag bei seinem Pensionswirt melden.«

»Vielleicht fangen wir in Neuendorf damit an, die Pensionen und Ferienanlagen abzuklappern, einschließlich der Kneipen. Wir könnten erst die Bilder abholen und dann dorthin fahren.«

»Könnten wir, aber schauen Sie mal auf die Uhr. Für mich ist in einer Stunde Feierabend. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich bereits seit 8 Uhr im Dienst. Und Überstunden müssen genehmigt werden. Aber Sie haben erst um 10 Uhr angefangen zu arbeiten. Da hätten Sie ja noch Zeit für einen Abstecher nach Neuendorf.«

 

»Dann lassen Sie mir die Autoschlüssel hier.«

»Haben Sie eine Betriebsfahrerlaubnis?«

»Sie wissen doch, dass …«

»Sehen Sie. Ich kann Sie gern mit nach Neuendorf nehmen, wenn ich nach Hause fahre. Wie Sie zurückkommen, müssen Sie dann schon allein sehen, denn mit dem Hundekäfig im Kofferraum können wir Ihr Rad nicht mitnehmen.«

Rieder riss nun endgültig der Geduldsfaden. Seine Kopfhaut unter den kurzen Stoppelhaaren schwoll rot an.

»Passen Sie mal auf, Damp! Hören Sie auf, mich zu schikanieren und hier auf Dienst nach Vorschrift zu machen! Es kotzt mich an, wie Sie sich aufspielen.«

In diesem Moment klopfte es, und ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sich die Tür. Bürgermeister Durk und Kurdirektor Sadewater stürmten aufgeregt ins Zimmer.

»Dürften wir auch mal erfahren, was hier auf der Insel passiert ist, und würden sich die Herren Polizisten herablassen, uns die näheren Umstände um den Mord in Neuendorf mitzuteilen?«, brach es wütend aus dem Bürgermeister heraus.

Rieder war am Rande der Verzweiflung. Das entwickelte sich hier zu einem Mehrfrontenkrieg.

»Wenn sich schon Herr Damp nicht bequemt, mich zu informieren, dann hätte ich wenigstens von Ihnen, Herr Rieder, mehr Übersicht erwartet. Sie sind hier nicht irgendwo, sondern auf einer Ferieninsel. Und ein Mord auf Hiddensee, das verbreitet Panik unter den Urlaubern. Und wie sollen wir beruhigend auf die Leute einwirken, wenn wir die Letzten sind, die etwas erfahren.«

Rieder blickte starr vor Schreck den Bürgermeister an, fand aber dann doch schnell seine Fassung wieder. »Wir waren bis jetzt am Fundort am Gellen und haben momentan keine Unterstützung durch die Zentrale in Stralsund. Da ist es uns sicher durchgerutscht, mit Ihnen zu telefonieren«, entgegnete er dem Ortsvorsteher so ruhig es ging.

»Aber Damp springt doch hier schon seit mindestens zwei Stunden rum. So lange steht das Polizeifahrzeug neben dem Gebäude«, polterte nun auch Sadewater los. Lars Sadewater, ein braun gebrannter blonder Endzwanziger, der eher in eine Surfschule als auf den Posten des Kurdirektors gepasst hätte, war bekannt für sein gespanntes Verhältnis zu Damp. Er nahm Damps Versuche, auf der Insel Verkehrssicherheit an Fahrrädern durchzusetzen, nicht wie die Insulaner von der humorvollen Seite, sondern sah in dem Polizisten nur einen Querulanten. Er bedrängte den Bürgermeister nicht selten mit der Forderung, doch dafür zu sorgen, dass man Damp aufs Festland versetzte. Und die Spannungen zwischen Rieder und Damp waren ihm sehr recht.

Damp war seit dem Eintreten von Durk und Sadewater in seinem Sessel deutlich zusammengeschrumpft. Er ahnte, woher der Wind wehte. Rieder stand auf und lehnte sich an seinen Schreibtisch.

»Herr Bürgermeister, Kollege Damp musste hier Unterlagen abrufen, die uns aus Stralsund zugesandt wurden, und gleichzeitig versuchen, die Bilder von dem Toten zu vervielfältigen, damit wir seine Identität klären können. Das braucht seine Zeit. Wir waren gerade dabei, unsere Arbeit weiter zu koordinieren und dabei wäre sicher auch einer unserer nächsten Wege zu Ihnen oder zu Herrn Sadewater gewesen. Aber wie gesagt, wir sind hier momentan allein zugange. Und …«, Rieder machte eine kurze Pause, »… Mordfälle gehören hier sonst nicht zu unserer Arbeit.«

Sadewater wollte zwar noch etwas einwenden, aber Durk hielt ihn zurück. »Sie müssen uns verstehen. Wir hatten in der Touristeninformation mehrere aufgeregte Gäste, die wissen wollten, wie gefährlich es jetzt auf der Insel sei. Und unsere Damen wussten gar nicht, von was die reden. Da sehen wir schlecht aus. Vielleicht könnten wir unsere Kommunikation in Zukunft verbessern. Dazu haben wir Sie ja auch auf die Insel geholt.«

»Wir werden uns bemühen, aber wir stehen auch noch am Anfang. Wir wissen nicht mal, wer der Tote ist. Aber Sie können gleich mal einen Blick auf die Bilder werfen. Vielleicht kommt er Ihnen bekannt vor?«

Rieder gab Damp einen Wink. Der lud auf seinem Computer die vorhandenen Bilder hoch. Durk und Sadewater schauten darauf, aber beide schüttelten den Kopf. Den Mann würden sie nicht kennen, meinte Durk.

Als sie wieder allein waren, meinte Damp: »Ich bringe Sie nach Neuendorf und Sie können dann mit dem Wagen zurückfahren. Wäre nett, wenn Sie mich morgen früh abholen könnten. Wir werden dort ja mit den Befragungen weitermachen, falls Sie heute nichts rausbekommen. Ich fahre jetzt aber erst mal zum Fotoladen, um die Abzüge machen zu lassen.«

Das war zwar noch kein Waffenstillstand, aber zumindest ein Anfang. »Okay. Ich warte dann hier auf Sie.«

Damp verließ das Büro der Polizeistation. Rieder setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Aus seiner Jackentasche holte er die Plastiktüte mit der Münze und legte sie auf seine Schreibtischunterlage. Er schaltete seinen Computer an und versuchte unter dem Stichwort »Münze« einen Hinweis oder eine Spur zu finden. Aber Tausende Einträge konnte er so schnell nicht durchforsten. Rieder erinnerte sich an das Inselmuseum in Kloster. Vielleicht konnte man ihm dort weiterhelfen. Er steckte die Münze wieder ein.

Damp kam zurück, blieb aber gleich in der Tür stehen. »Lassen Sie uns losfahren. Vielleicht nehmen wir uns ein Gastgeberverzeichnis mit.«

Rieder und Damp gingen über den Flur in die Touristeninformation und schreckten dort die drei angestellten Damen beim Plausch mit zwei Insulanerinnen auf. Die Unterhaltung erstarb sofort, als die beiden Polizisten durch die Tür traten. Rieder war sich über das Gesprächsthema im Klaren. In die eingetretene Stille hinein sagte er: »Wir brauchen ein vollständiges Gastgeberverzeichnis mit allen Vermietern auf der Insel. Aber vielleicht könnten Sie kurz einen Blick auf dieses Bild werfen. Es zeigt den Toten. Es ist sicher kein schöner Anblick, aber vielleicht hat eine von Ihnen den Mann schon einmal gesehen.«

Damp nahm das Foto aus seiner Jacke. Die Frauen stürmten geradezu auf den riesigen Mann zu, der leicht zurückwich, und rissen ihm das Foto aus der Hand. Nacheinander schüttelten sie dann jedoch den Kopf, wie bereits zuvor der Bürgermeister und der Kurdirektor. Keine der fünf hatte den Mann auf dem Foto gesehen, jedenfalls nicht bewusst. Es seien einfach schon zu viele Touristen auf der Insel. Da könne man sich nicht mehr jedes Gesicht merken.

Nachdem sie die Unterlagen über die Vermieter auf der Insel bekommen hatten und froh waren, mit heiler Haut aus der Touristeninformation herausgekommen zu sein, weil sie von den Frauen mit Fragen bestürmt worden waren, gingen die beiden Polizisten zu dem Einsatzwagen. Damp startete den Motor.

»Kleine Änderung«, bemerkte Rieder. »Ich will erst mal zum Inselmuseum nach Kloster.«

Damp sah ihn fragend an. »Wegen der Münze?«

Sie bogen also nach links in Richtung Kloster auf die Inselstraße ein, umkurvten einige Kutschen und Touristen und waren nach knapp fünf Minuten vor dem Inselmuseum am Ortseingang von Kloster. Am Eingang saß ein älterer Herr, der sein Kreuzworträtsel weglegte, als die beiden Beamten hereinkamen. »Mensch Damp, was treibt dich denn hierher? Du bist doch eher ein Kulturbanause.«

Damp straffte seinen Körper und gab sich ganz dienstlich.

»Das ist Kollege Rieder. Wir hätten da eine Frage zu einer Münze.«

Rieder zeigte das Geldstück.

»Können Sie uns sagen, ob Sie hier solche Münzen haben?«

»Da kann ich Ihnen nichts zu sagen. Bin hier nur auf Ein-Euro-Job beschäftigt.«

»Gibt es vielleicht einen Museumsdirektor, der uns weiterhelfen kann?«

»Nö, ich schließ früh auf und abends zu, kassiere den Eintritt und in drei Monaten macht das wieder ein anderer, wenn mein Job ausgelaufen ist. Da müssen Sie bei den Studierten in Stralsund nachfragen, beim Kulturhistorischen Museum. Da gehören wir ja auch zu.«

»Haben Sie da einen Namen, an den wir uns wenden können?«

»Ich kann Ihnen die Einwahl geben.« Damit begann der Mann in einer Schublade zu wühlen, in der sich vor allem ein Stapel weiterer Kreuzworträtselhefte befand.

Rieder winkte resigniert ab. »Lassen Sie mal. Die finde ich auch noch selbst raus.«

Aber dann startete er doch noch einen Versuch. Er bat Damp um das Foto von dem Toten. »Kennen Sie vielleicht diesen Mann?«

Der Mann an der Kasse des Inselmuseums setzte seine Lesebrille auf und drehte das Foto hin und her. »Ist das der Tote von Neuendorf?«

Rieder und Damp nickten. Noch einmal schaute der Mann intensiv auf das Bild, schob die Brille hoch, um es genauer betrachten zu können. Die beiden Polizisten sahen sich schon erwartungsvoll an, doch dann gab der Kassierer das Bild zurück. »Nö, kenn ich nicht.«

Auf der Fahrt nach Neuendorf über die holprige Straße sprachen die beiden Polizisten kein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Insel leerte sich gerade. Die Tagestouristen strömten den Häfen entgegen, um mit den letzten Fähren, die jetzt im Frühjahr schon gegen 17 Uhr ablegten, noch nach Rügen zu kommen. Und wer auf der Insel blieb, kam vom Strand zurück. Denn am Nachmittag frischte immer eine kühle Seebrise auf und ließ das Sonnenbad ungemütlich werden.

Rieder hatte sich über die Auskunft die Nummer vom Kulturhistorischen Museum in Stralsund besorgt, dort aber außer dem Pförtner niemanden erreicht, denn heute war Schließtag und alle wissenschaftlichen Mitarbeiter hatten das Museum schon verlassen. Er hoffte, morgen Vormittag mehr Glück zu haben.

In Neuendorf hielt Damp den Wagen am Schabernack an, der ersten Häuserzeile aus reetgedeckten alten Fischerhäusern, gleich hinterm Deich.

»Hier sind die Schlüssel. Viel Erfolg. Ich würde morgen um acht hier an der Bushaltestelle warten. Falls noch was ist, können Sie mich auf meinem Handy erreichen.«

Damit schlug er die Autotür zu und verschwand zwischen den Siedlungshäusern in Richtung Strand. Rieder blieb noch im Auto sitzen. Der Tag hatte ihn ziemlich geschafft. Eigentlich wollte er nur das Auto wenden, nach Vitte zurückfahren und dort seinen Frust in einer oder mehreren Flaschen Bier ertränken. Aber die Pflicht rief. Er wechselte auf den Fahrersitz und fuhr ans Ende von Neuendorf. Der Ortsteil nannte sich Plogshagen. Rieder wollte sich vom Ortsende vorarbeiten. Vielleicht war es auch ganz gut, erst einmal die Kneipen abzuklappern.

Rieder stoppte den Streifenwagen vor dem »Strandrestaurant«, kurz hinter dem Deich, der Neuendorf umschloss. Vor der Gaststätte verlief der einzige Weg zum Leuchtturm Gellen. Hier konnte der Tote mit seinem Fahrrad vorbeigekommen sein und vielleicht hatte ihn jemand dabei beobachtet. Es gab zwar auch die Möglichkeit, über den Deich zu fahren, aber die hohen Betonfugen zwischen den Steinen auf der Deichkrone machten das Fahren dort fast unmöglich, besonders wenn man mit einem beladenen Hänger unterwegs war.

Rieder stieg aus und ging in das Lokal. Die blonde Frau am Espressoautomaten lächelte, als er eintrat. »Na, hat Sie Damp auch mal fahren lassen?«

Rieder blickte etwas verwirrt, kramte nach seinem Dienstausweis.

»Lassen Sie mal. Ich weiß schon, wer Sie sind. Der Polizist aus Berlin. Die Insel ist ein Dorf, und Damp trinkt hier ab und zu mal ein Bier und plaudert dann, gefragt oder ungefragt, über seinen Job. Und in den letzten Wochen hatte er da eigentlich nur ein Thema – nämlich Sie, den Aussteiger.«

»Aha.« Rieder zuckte resigniert mit den Schultern. »Viel Gutes wird er an mir nicht gelassen haben.«

»Das können Sie laut sagen. Aber ich mach mir lieber selbst ein Bild. Und jetzt sind Sie hier und wollen wissen, ob ich den Toten vom Strand kenne.«

Rieder zeigte ihr das Bild von dem Toten.

»Der war mal hier, hat was gegessen und getrunken.«

»Kennen Sie vielleicht auch seinen Namen?«

»Wie er heißt, weiß ich nicht.«

Bei dem Wort »essen« fiel Rieder ein, dass er seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen hatte, und er spürte, wie sein Magen aufjaulte bei dem Gedanken an Nahrung.

»Könnte ich einen Tee bekommen? Und haben Sie irgendwas zu essen, was schnell geht?«

»Eigentlich gibt’s erst ab 18 Uhr wieder warme Küche, aber von heute Mittag wäre noch frischer Matjes mit Remoulade zu haben. Nur statt Bratkartoffeln müsste es eine Scheibe Brot tun.«

»Klingt gut.«

»Setzen Sie sich mal hier an den Rand der Theke. Müssen die anderen Gäste ja nicht mitkriegen, sonst wollen wieder gleich alle eine Extraportion. Ich heiße übrigens Dobbert. Charlotte Dobbert.«

 

»Stefan Rieder.«

Charlotte Dobbert verschwand in der Küche und kam kaum zwei Minuten später mit einem Teller Matjes zurück, dick mit Remoulade bedeckt, dazu zwei Scheiben Brot. Rieder stürzte sich auf das Essen. Unaufgefordert stellte sie ihm statt Tee ein Bier hin. »Fisch muss schwimmen.«

Während Rieder den Fisch mehr verschlang als aß, bediente Charlotte Dobbert einige Gäste auf der Terrasse. Als sie sein Geschirr wegräumte, kam er noch einmal auf den Fall zurück.

»Wann war der Mann denn hier?«

»Ich würde sagen, so vor zwei oder drei Tagen.«

»Sie haben doch sicher mit ihm gesprochen. Haben Sie vielleicht rausgehört, wo er herkam? War er Sachse, Berliner, Rheinländer …?«

»Keine Ahnung. Er las aber in einem Buch über die Geschichte Hiddensees. Daran kann ich mich erinnern. Entschuldigen Sie, aber ich muss mich um die anderen Gäste kümmern. Ich habe den Laden noch nicht lange und kann mir keinen schlechten Ruf leisten. Dafür gibt’s zu viel Konkurrenz.«

Rieder beobachtete Charlotte Dobbert beim Hantieren an der Espressomaschine. Ihr blondes Haar fiel ihr über die Schultern. Sie war vielleicht Anfang, Mitte dreißig, schlank, aber nicht dürr. Eben gut gebaut. Ihr blassgrünes T-Shirt und die enge Jeans betonten ihre Figur. Und sie hatte freundliche Augen. Charlotte Dobbert schaute zu ihm rüber und lächelte.

»Hallo, Sheriff. Einen Penny für ihre Gedanken?«

Rieder wurde rot. Ihm fiel nicht mehr ein als: »Ich muss los. Noch die anderen Kneipen abklappern.«

»Lassen Sie das nur nicht die anderen Kneiper hören. Die halten sich nämlich alle für Edel-Gastronomen. Viel Erfolg. Kommen Sie mal wieder vorbei auf Ihrer Spurensuche oder auch so.«

»Mach ich gern.« Er zahlte.

In der Tür drehte er sich um und kehrte noch einmal zur Theke zurück. »Hat der Mann auf dem Foto vielleicht mit EC- oder Kreditkarte bezahlt, dann könnte ich über die Nummer auch den Namen rauskriegen?«

Charlotte Dobbert lachte auf. »Sie sind wirklich noch nicht lange auf der Insel. Hier ist nur das Bare das Wahre. Entweder cash oder gar nicht. Der Fischer will am Kutter für seinen Fisch ja auch gleich Geld sehen.« Dann aber fügte sie in sanftem Ton hinzu: »Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte«, und lächelte ihn freundlich an.

Rieder dankte und machte sich auf den Weg zu den anderen Lokalen in Neuendorf. Aber auch dort kam er nicht weiter. Man hatte den unbekannten Toten in den letzten Tagen dort zwar ab und zu gesehen, aber immer allein. Er war ein unauffälliger Gast gewesen. Allen Befragten war jedoch aufgefallen, dass er immer in einem dicken Hiddensee-Buch gelesen hatte. Rieder konnte sich nur schwer konzentrieren. Zwischen seine Gedanken schob sich immer wieder das Bild von Charlotte Dobbert.