Das gefallene Imperium 10: Um jeden Preis

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From the series: Das gefallene Imperium #9
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»Das kann doch beim besten Willen nicht dein Ernst sein.« Präsident Mason Ackland betrachtete seinen Freund und Ratgeber Carlo Rix mit teils vorwurfsvollem, teils verwundertem Blick.

Masons Kopf neigte sich leicht und betrachtete das auf seinem Pad aufgerufene Dokument. Der Blick des Präsidenten wechselte mehrmals zwischen Pad und Carlo hin und her, bevor er sich vollends auf den ehemaligen Legionsgeneral fokussierte.

Mason legte das Pad auf die Arbeitsfläche des Schreibtisches und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich kann das nicht guten Gewissens erlauben, Carlo. Das muss dir doch klar sein.«

Carlos Gesicht lief kurzzeitig rot an. Ein deutliches Zeichen, dass sein Gegenüber ihn in Verlegenheit brachte. »Lass es einfach gut sein und bestätige den Antrag. Es gibt keine Möglichkeit, wie du mich aufhalten kannst.«

»Oh, da würden mir sicherlich Mittel und Wege einfallen«, gab der Präsident nur halb im Scherz zurück.

Carlo schmunzelte. »Zweifellos, aber du wirst keines davon einsetzen. Ein solcher Mann bist du nicht.«

Mason hob erneut das Pad auf und betrachtete das Schriftstück ein weiteres Mal. Er achtete auf jede Formulierung. Sie war messerscharf artikuliert. Nicht die Arbeit eines Mannes, der an geistiger Umnachtung litt.

Mason seufzte und musterte seinen alten Freund eindringlich. »Du verlangst von mir, dass ich dich wieder in den aktiven Dienst eingliedere.«

Carlo nickte. »In meinem früheren Rang als General.«

Mason knallte das Pad derart fest auf den Tisch, dass beide Männer schon glaubten, es wäre zu Bruch gegangen. »Herr im Himmel, Carlo, du bist fast neunzig Jahre alt!«

»Und?«, meinte Carlo betont unschuldig.

Mason zog beide Augenbrauen nach oben. »Und? Das wirfst du mir entgegen? Und? Denkst du, die Jackury hätten kein Interesse an dir, aufgrund deines Alters? Oder wie muss ich mir den Irrsinn dieses Anliegens vorstellen?« Mason wandte den Blick ab. »Zäh genug bist du ja. Du würdest wahrscheinlich jedem von denen im Hals stecken bleiben.«

Carlo grinste. Es verflog jedoch schon nach wenigen Sekunden wieder. »Weißt du, Mason, ich war dabei, als all das anfing. Die Erde war von den Drizil erobert und wir wussten damals weder ein noch aus. Wir lebten im Prinzip nur von einem Tag auf den nächsten. Nicht wissend, ob wir überhaupt das Ende der Woche erleben würden. Dann endete der Drizil-Krieg und ein paar Jahre später fing dann der Nefraltiri-Krieg an. Und dieser brachte noch größeres Leid und viel größere Zerstörungen.« Carlo senkte betrübt den Blick. »Und unendlich viel mehr Tote.«

Mason betrachtete den Mann mitfühlend. »Was willst du mir damit sagen?«

Carlos Kopf hob sich, seine Augen blitzend. Es schien, als würde dem Präsidenten aus ihnen Feuer entgegenschießen. »Ich will dabei sein, Mason. Ganz einfach. Ich will dabei sein, wenn dieser Mist endet. Ich war dabei, als es begann, und habe diesem Konflikt mein Leben gewidmet. Nun will ich sein Ende miterleben. Dieses Recht habe ich mir verdient. Durch jede Schlacht, die ich erlebt habe, verdiente ich es mir. Durch jeden Legionär, den ich in den Kampf und auch in den Tod geschickt habe, verdiente ich es mir.« Carlo schüttelte den Kopf. »Ich werde keinesfalls zu Hause sitzen und auf Nachrichten von der Front warten. Das ist nicht meine Art, Mason. So denke ich nicht. So kann ich einfach nicht denken.«

Mason dachte über die Worte seines Freundes ausgiebig nach, schüttelte dann aber energisch den Kopf. »Tut mir leid, Carlo, aber ich kann dich unmöglich als Teil der kämpfenden Truppe in den Dienst zurücknehmen. Das funktioniert einfach nicht. Du hast das Alter für den Ruhestand weit überschritten.«

Carlo neigte den Kopf leicht zur Seite. Seine Mundwinkel hoben sich um eine Andeutung. »Dann zieh mich in beratender Funktion wieder ein.«

Mason stutzte. Seine Miene verfinsterte sich. »Du hast dir also schon vor Beginn unseres Gesprächs ausgemalt, wie ich argumentieren würde.«

Carlo zuckte die Achseln. »Das war nicht schwer.« Er deutete zum Fenster hinaus. »Wie ich hörte, schickst du mehrere Garderegimenter an die Front, um die Offensive zu unterstützen.«

Mason nickte. »Garner und Yoshida brauchen alles an Personal und Material, was wir aufbieten können. Die Eliteeinheiten der Republik hier herumsitzen und Däumchen drehen zu lassen, ergibt keinen Sinn. Schon ein einzelner Soldat kann in diesem Kampf einen Unterschied machen. Es bleiben nur einige wenige Einheiten hier zu meinem Schutz und dem der Bevölkerung zurück. Der Generalstab verlangt es. Würde es nach mir gehen, hätte ich sie alle an die Front geschickt.«

»Geht die Achtzehnte auch mit?«

Mason zögerte. »Du fragst wie jemand, der die Antwort schon kennt.«

Carlo schnaubte. »Ein Vögelchen hat mir da etwas zugezwitschert. Demnach stimmt es?«

Mason nickte. »Ja, es stimmt.«

»Teile mich ihr zu. Wenn dies unser letzter Kampf ist – ein Kampf um das Überleben von Menschen und Drizil –, dann ist mein Platz an der Seite der 18. Legion.«

Mason machte eine verkniffene Miene. »Und es gibt keine Möglichkeit, dich davon abzubringen?«

»Keine«, bestätigte Carlo. »Wenn du den Antrag nicht genehmigst, werde ich schlichtweg ein paar Gefallen einfordern und notfalls als blinder Passagier auf einem der Nachschubschiffe an die Front reisen. Aber an die Front komme ich ganz sicher.« Er bedachte den Präsidenten mit sanfter Miene. Ihm war bewusst, dass er den Mann gehörig unter Druck setzte, und tatsächlich verspürte er ein schlechtes Gewissen deswegen. Aber genauso empfand Carlo die unumstößliche Überzeugung, dass sein Platz in diesem Kampf dort draußen war. Der ehemalige General konnte sich das selbst nicht erklären. Vielleicht war es das Schicksal, das ihn mit sicherer Hand leitete. Aber Carlo wusste, er durfte diesem Kampf unter keinen Umständen fernbleiben.

Vielleicht hatte er den Präsidenten durch seine Wortwahl wirklich erreicht. Unter Umständen spürte der Mann aber auch nur dieselbe lenkende Hand, die Carlo auf seinen Schultern wahrnahm. Wie dem auch sei, Präsident Mason Ackland drückte seinen rechten Daumen auf die dafür vorgesehene Fläche und genehmigte den Antrag, bevor er ihn durch einen weiteren Tastendruck an die entsprechende Behörde abschickte.

Mason betrachtete den Mann, der vor ihm stand, einen unendlich scheinenden Augenblick lang. Seine Mundwinkel zogen sich ganz leicht nach oben. »Lieutenant General Carlo Rix, willkommen zurück bei den republikanischen Streitkräften!«

Tian senkte die Kelle in die Schüssel und kratzte den letzten Rest Suppe daraus hervor. Er goss die schmutzig graue Substanz in einen Blechteller und gab ihn der Mutter weiter, die ihn dankend annahm. Anschließend bekam sie noch ein bisschen Obst sowie Brot und Käse. Es war nicht viel, aber die verwahrlosten Überlebenden von Sultanet wirkten, als hätten sie nie etwas Besseres gegessen.

Die Frau gab das Obst gleich an ihre drei Kinder weiter, damit diese etwas Vitamine bekamen. Gemeinsam schlenderten sie davon, um ihre neu erworbenen Schätze zu vertilgen.

Selten zuvor hatte Tian etwas vergleichbar Erfüllendes erlebt. Es war eine Sache, zu töten. Das gehörte zu seinem Job. Niemand zog es in Zweifel. Aber verängstigten, hilflosen Menschen etwas zu essen zu geben, das war etwas gänzlich anderes. Er hoffte, sobald der Krieg vorüber war, würde er mehr Gelegenheit erhalten, Menschen zu helfen.

Sobald der Krieg vorbei war. Die Formulierung ging ihm immer und immer wieder durch den Kopf. Nach all den vergangenen Jahren hatte diese Vorstellung etwas seltsam Surreales. Als würde man sagen, der Himmel bestehe neuerdings aus rosaroten Marshmallows. Das war zwar eine schöne Idee, aber niemand glaubte wirklich daran.

Nico und Antonio kamen herüber und setzten sich neben ihn auf die Reste einer Mauer. Jeder kaute auf etwas herum, vermutlich die Reste des Essens, das sie gerade an die Zivilisten ausgegeben hatten. Sobald sie damit fertig waren, durften auch sie sich bedienen.

»Das war die Letzte?«, wollte Tian wissen und spähte umher.

Nico und Antonio nickten unisono. »Das waren alle«, antwortete Nico. »Und Mann, bin ich vielleicht erledigt.«

Tian fühlte tatsächlich Enttäuschung in sich aufsteigen. Von ihm aus hätten es ruhig noch mehr sein können. Er sah in den Topf, in dem gerade noch ein paar verkrustete Reste der Suppe den Boden bedeckten. Er entschied, dass er keinen rechten Appetit hatte, und setzte sich zu seinen Kameraden auf die Mauer.

Antonio deutete mit dem Kinn auf die Frau und ihre Kinder. Sie verzehrten das Essen in Windeseile. »Armes Ding«, kommentierte er.

Tian sah auf. »Inwiefern?«

»Sie hatte fünf Kinder. Zwei von ihnen haben die Jackury sich geschnappt. Ihren Mann auch.« Antonio spie aus. »Verdammte Schaben! Wenn Cests Virus etwas Gutes gebracht hat, dann dass diese widerlichen Kreaturen auf etlichen Welten ausgerottet wurden.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, gab Tian zurück, während er die Frau beobachtete.

Antonio bemerkte seinen Blick. »Die wird ihres Lebens auch nicht mehr froh. Zwei Kinder und den Mann zu verlieren. Und dann auch noch auf eine solch schreckliche Weise. Das ist übel.«

Tian dachte angestrengt über die Worte des anderen Legionärs nach. »Sie hat immer noch drei, um die sie sich kümmern muss. Das wird sie aufrecht halten. Aber du hast recht. Sie wird nie mehr dieselbe sein nach diesem Verlust.«

Die drei Männer saßen eine Weile schweigend beisammen, während zwei von ihnen aßen. Tian begnügte sich, seinen Freunden beim Verzehr des kargen Mahls zuzusehen. Er genoss die stille Kameradschaft, die zwischen ihnen herrschte.

Nico und Antonio waren fast gleichzeitig fertig und stellten das Blechgeschirr neben sich ab. Nico verkündete jedem in Hörweite, dass er die Nahrungsaufnahme beendet hatte, durch einen beherzten Rülpser, der vermutlich sogar einen Hinrady in Angst und Schrecken versetzt hätte.

 

Transporter zogen über ihnen hinweg. Im ersten Moment war Tian der Meinung, sie brachten weitere Truppen oder schwere Waffen. Doch dann setzten sie auf dem nahe gelegenen Flugfeld zur Landung an, das lediglich zu einem Zweck angelegt worden war.

Seine angespannte Miene lockerte leicht auf. »Sie bringen die Zivilisten weg.«

Nico nickte. »Wird auch Zeit. Hier kann man sich kaum adäquat um sie kümmern.« Er hob eine Hand und deutete auf die Ruinen ringsum. »Es wird eine halbe Ewigkeit dauern, bis hier wieder Menschen leben können.«

»Vielleicht nicht so lange, wie du denkst«, hielt Antonio dagegen. »Menschen sind hart im Nehmen. Bald schon wird das alles hier wieder aufgebaut sein. In nur wenigen Jahren«, prognostizierte er. »Das Leben wird erneut Einzug halten.«

»Das klingt ja fast schon philosophisch«, spottete Nico.

Antonio bedachte den Mann mit nachsichtigem Blick. »Du wirst schon sehen.«

Tian hätte sich gern an der Diskussion beteiligt, doch er bemerkte Rinaldi, wie er mit weit ausgreifenden Schritten auf sie zukam. Er wechselte einen vielsagenden Blick mit seinen Leuten. Alle drei erhoben sich wie ein Mann. Das Interesse des Majors konnte nur eines bedeuten: Die Ruhepause war vorüber.

Rinaldi kam vor Feuertrupp Blutiger Dolch zum Stehen. Er nickte jedem Einzelnen grüßend zu und reichte im Anschluss Tian ein Pad. Dieser rief das abgespeicherte Dokument auf und atmete durch die Nase hörbar aus.

»Ganz recht«, bestätigte Rinaldi. »Machen Sie Ihre Leute bereit. Die Marschbefehle sind da. Wir rücken morgen aus.« Rinaldi drehte sich um und machte sich wieder davon. Er hatte bestimmt noch weitere Marschbefehle zuzustellen.

Tian studierte das Dokument in aller Eile, aber eine wichtige Information war nicht zu finden. Sein Kopf flog hoch. »Major?«, erhob der Sergeant die Stimme. »Welchem Angriffsflügel sind wir zugeteilt?«

Rinaldi wandte den Kopf über die Schulter, ohne innezuhalten. »Dem mittleren. Wir gehören zur Streitmacht, die den Riss angreift. Sie können stolz sein, Sarge. Sie wurden auserwählt, den Kampf zum Feind zu tragen. Das gilt nur für die besten Truppen und Schiffe. Wir statten den Nefraltiri auf ihrem eigenen Territorium einen Besuch ab.«

Tian machte eine verkniffene Miene und sah abermals auf das Dokument in seinen Händen hinab. »Das war ja klar.«

Das Schwarmschiff von Blatt-im-übermächtigen-Sturm kreuzte ganz in der Nähe des Risses. Es wurde umringt von Hunderten Hinradyschiffen. Der Verstand von Sturm wurde eingenommen von unzähligen verschiedenen Gedankenabläufen. Einer jedoch beschäftigte ihn am meisten: Die Nefraltiri waren dem Untergang geweiht. Ohne Königin hatten sie keinerlei Chance mehr, sich fortzupflanzen. Nie wieder.

Seine Artgenossen mochten noch Tausende, vielleicht Zehntausende von Jahren leben, aber letzten Endes würde die Rasse, die so viel erreicht, so viel aufgebaut hatte, vergehen wie ein Schneekristall, das dem Feuer zu nahe kam.

Eine Emotion wie Wehmut oder Bedauern ergriff von Sturm Besitz. Und noch etwas … Zorn. Menschen und Drizil hatten die Königin auf dem Gewissen. Mehr noch, sie hatten wesentlichen Anteil daran, dass es nur noch eine Handvoll Nefraltiri gab. Viel zu viele hatten während der Schlacht um die Heimatwelt der Menschen ihr Leben verloren. Ja, es gab keinen Zweifel. Die Nefraltiri waren definitiv am Ende. Früher oder später würden sie die Bühne verlassen und das Universum würde ihresgleichen nie wiedersehen.

Mit den Sensoren seines Schwarmschiffes Icki’tari beobachtete Sturm die Flotte, die ihn wie einen schützenden Kordon umgab. Die Hinrady würden ihn mit ihrem Leben schützen. Und bevor die Sache zu Ende ging, wäre es durchaus möglich, dass dies von ihnen nicht nur erwartet, sondern auch verlangt wurde.

Nie zuvor war es einer Rasse gelungen, die Streitkräfte der Nefraltiri derart entscheidend zu schlagen. Nicht einmal den Nefraltiri selbst war dies während ihres Äonen andauernden Bürgerkrieges gelungen. Das war bemerkenswert. Wirklich schade, dass Menschen und Drizil vernichtet werden mussten. Es durfte niederen Völkern nicht gestattet werden, die Nefraltiri zu überleben. Nein, das zu akzeptieren, war undenkbar.

Er spürte bereits jetzt, wie sich die Verstärkungen jenseits des Risses formierten. Die Artgenossen, die noch übrig waren, riefen die Hinrady auf, weitere Kräfte zu schicken. Es massierte sich eine Flotte, die noch weitaus stärker war als jene, die bei Argyle gekämpft hatte.

Die Jackury waren unter der richtigen Anleitung großartige Baumeister. Ihnen allein oblag die Konstruktion neuer Schiffe für die Hinrady. Und das gelang ihnen in Rekordzeit. Bald schon wären die Verluste der vergangenen Niederlagen ausgeglichen und die Menschen würden sich einer Streitmacht gegenübersehen, wie sie das Universum noch nicht gesehen hatte und auch nie wieder sehen würde.

Sobald den anrückenden Verstärkungen der Übergang durch den Riss gelang, hatten die aufständischen Sklaven keine Chance mehr. Der Krieg war für sie verloren. Sie wussten es nur noch nicht. Alles, was noch fehlte, war Zeit. Die Flotte war noch weit vom Riss entfernt. Er musste offen gehalten werden, bis die Hinrady hindurchstoßen konnten.

Ein Hologramm materialisierte sich vor der Plattform, auf der Sturm residierte. Die Entität des Schwarmschiffes Icki’tari erschien in Form einer Echse, wie sie auf einigen Welten jenseits des Risses existierte.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Sturm, warum sein Schwarmschiff ausgerechnet dieses Erscheinungsbild wählte, um vor sein Antlitz zu treten.

Die Echse öffnete das Maul und entblößte mehrere Reihen dreieckiger, messerscharfer Zähne. Diese Tiere waren beileibe keine Vegetarier. Kein Laut drang aus der Kehle des Hologramms. Das war auch gar nicht nötig. Schwarmschiff und Nefraltiri waren telepathisch verbunden.

Sie kommen, informierte Icki’tari. Menschen und Drizil haben eine gewaltige Streitmacht formiert. Die Analysen errechnen eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es ihnen gelingt, unsere Linien zu durchbrechen. Icki’tari zögerte, bevor es fortfuhr. Und den Verlust eines hohen Anteils noch lebender Nefraltiri.

Sturm dachte über den Bericht seines Schwarmschiffes nach. Vor allem der letzte Teil störte ihn ungemein. Doch er hatte bereits eine Idee, wie sich die Chancen zumindest neu verteilen ließen. Ruf die Hinradygeneräle zu mir, forderte Sturm. Wenn die Sklaven der Meinung sind, sie könnten uns endgültig schlagen, dann geben wir ihnen eben etwas anderes, über das sie nachdenken sollten.

Teil II. Offensive gegen den Riss

5

Hauptkampflinien – Frontgebiet

Operation Grabstein

02. April 2899

»Noch einmal stürmt, noch einmal, liebe Freunde …«

William Shakespeare, Heinrich V., 3. Akt, 1. Szene

Auf dem Marsch Richtung Norden verlor Sorokin mehr als sechzig weitere seiner Leute an Eis und Kälte. Beinahe die ganze Zeit über stapften sie durch einen mörderischen Schneesturm. Wind und Eiskristalle bissen allen schmerzhaft ins Gesicht, die nicht über eine Rüstung verfügten.

Sie folgten unablässig dem Signal, das ihnen den Weg wies, ohne zu wissen, was am Ende auf sie warten mochte. Die fünf Marines, die die Spitze bildeten, hielten schlagartig an. Der Sergeant, der den Spähtrupp kommandierte, hob die geballte Faust.

Die Kolonne kam schwerfällig zum Halten. Man konnte kaum drei Meter weit sehen. Alle, die es bis hierhin geschafft hatten, waren durch Seile verbunden, die sich alle um die Hüfte gebunden hatten. Fast ein Drittel der Besatzungsmitglieder war im Sturm verloren gegangen. Sie hatten sich verirrt und waren in dieser lediglich aus Weißtönen bestehenden Einöde verschwunden. Als hätte sich die Eiswüste aufgetan, um wie ein lebendiges Monster die Menschen zu verschlucken.

Sorokin bewegte die Gliedmaßen seiner Rüstung und marschierte schwerfällig an die Spitze. Selbst mit der mechanischen Verstärkung seines Panzers war es mühsam, gegen die Gewalt anzukämpfen, die diese Welt gegen sie entfesselte.

Schlimmer noch, die Gelenke der Rüstungen begannen einzufrieren, wenn sie auch nur ein paar Minuten still standen. Ständige Bewegung war das einzige Rezept dagegen. Doch die nicht armierten Männer und Frauen der Kolonne hielten ein solches Maß an Belastung nicht unbegrenzt durch. Sie standen am Rande der Erschöpfung. Das traf auf sie alle zu.

Sorokin öffnete einen Kanal zum Marine-Sergeant. »Sarge? Was gibt es?«

Der Mann zögerte, ehe er sich seinem Kommandanten zuwandte. »Wir sind da.«

Sorokin sah sich nach allen Seiten um. Aber außer der allgegenwärtigen dicken Schicht aus Eis und Schnee war nichts zu sehen.

»Wie meinen Sie das?«, hakte er nach.

»Das Signal«, gab der Sergeant zur Auskunft. »Es kommt von hier.«

»Aber hier ist doch rein gar nichts.« Sorokin hatte Probleme, seine Verzweiflung nicht in seine Stimme einfließen zu lassen.

»Das müssen Sie mir nicht sagen, Commodore«, erwiderte der Mann, ohne sich provozieren zu lassen. »Aber es kommt definitiv von hier.«

Sorokin löste das Seil von seiner Hüfte und machte ein paar vorsichtige Schritte. Das Gelände war leicht abschüssig. Sie befanden sich auf einer Schneedüne.

»Das würde ich nicht tun, Sir«, warnte der Marine-Sergeant. »Falls Sie verloren gehen, finden wir Sie nie wieder.« Statt einer Antwort aktivierte Sorokin das Peilsignal seiner Rüstung. »Das nutzt auch nicht viel«, gab der Sergeant über Funk durch. »In dieser Suppe verzerrt sich das Signal nach wenigen Metern und scheint von überallher zu kommen.«

Das Argument des Marines war nicht von der Hand zu weisen. Das brachte Sorokin zum Nachdenken. Sie hatten in diesem Sturm eine Menge Leute verloren. Auch solche, die eine Rüstung getragen hatten. Dennoch hatte dieses Signal die Überlebenden hierher geführt. Was also konnte ein Signal von solcher Stärke ausstrahlen, das diesen Sturm und auch die Metallablagerungen in der planetaren Kruste von Tau’irin überwand?

Sorokin machte einige weitere Schritte und wäre beinahe gestürzt, als er über etwas stolperte.

»Sir?«, rief der Marine-Sergeant aufgeregt über Funk. Sorokin wurde sich bewusst, dass er sich außer Sichtweite seiner Leute bewegt hatte. »Sir? Hören Sie mich? Kommen Sie sofort zurück. Das ist eine Sackgasse.«

Sorokin antwortete nicht. Der Verstand des Commodore arbeitete fieberhaft. Es war seiner Meinung nach keine Sackgasse. Es durfte keine sein. Seine Leute folgten ihm. Er war für sie verantwortlich. Und er hatte nicht vor, all jene, die es bis hierher geschafft hatten, in den Tod zu führen.

Er stampfte mit den Füßen nacheinander auf, um den Untergrund zu prüfen. Es fühlte sich seltsam an. Sorokin ging in die Knie und begann mit beiden Händen zu graben. Unter der Schneeschicht kam blankes Metall zum Vorschein. Er grub weiter – und hielt verblüfft inne. Sie standen nicht auf einer Düne. Unter sich – gefangen in Eis und Schnee – lagen die Überreste der Sevastopol. Sorokin konnte die Schrift schwach erkennen. Demnach handelte es sich um das abgestürzte Hecksegment. Der Commodore sah auf.

Was er anfangs für einen kleinen Hügel gehalten hatte, war der seitliche Backbordausläufer mit einem Teil der Torpedoabschussrampen. Das Schiff hatte sich nach dem Absturz in den Boden gebohrt, war von Eis überkrustet worden und der Bordcomputer hatte dann das Einzige getan, zu dem er noch fähig gewesen war: Er rief um Hilfe. Und die Überlebenden hatten das Signal aufgefangen und waren ihm zu seinem Ursprung gefolgt.

Sorokin öffnete erneut einen Kanal. »Kommen Sie her, Sarge. Und bringen Sie alle anderen mit. Ich habe etwas gefunden.«

Er erhielt keine Antwort, aber schon bald kam die Spitze der Kolonne in Sicht und nur wenig später war Sorokin von einer Vielzahl Menschen umringt. Alle starrten aufgeregt auf das Stück Metall, das er freigelegt hatte.

»Ist es das, wofür ich es halte?«, wollte der Sergeant wissen.

»Öffnen Sie das Schott«, ordnete er an. »Wir müssen da rein. Unbedingt.«

»Das wird auch nicht viel mehr Schutz bieten«, zweifelte der Marine.

»Ein bisschen Schutz ist besser als gar keiner.«

Der Marine musste den Kanal gewechselt haben, denn zwei seiner Soldaten machten sich daran, das Schott mit Plasmabrennern aufzuschneiden.

 

Der Marine-Sergeant behielt derweil die Umgebung fest im Blick. »Ich frage mich, warum den Hinrady das Signal entgangen ist.«

Sorokin zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ist mir im Moment auch egal. Vielleicht überwachen sie diese Frequenz nicht. Oder sie haben im Moment anderes zu tun. Ich wünschte nur, der vermaledeite Sturm würde endlich enden.«

»Im Moment bin ich ganz froh über die Witterungsverhältnisse. Bei einem solchen Wetter verkriechen sich die Jackury in ihre Nester. Deswegen haben wir wenigstens vor denen eine Weile unsere Ruhe.«

Gegen dieses Argument ließ sich kaum etwas einwenden. Die beiden Marines brauchten nicht lange, um das Schott aufzuschneiden. Die Überlebenden der Sevastopol ließen sich nacheinander durch die Öffnung gleiten. Sorokin und der Marine-Sergeant blieben bis zuletzt im Freien und achteten darauf, dass niemand vergessen wurde. Erst dann folgte der Marine und als Letzter der Commodore. Die beiden Soldaten hievten das Schott wieder in Position und schweißten es gerade so weit fest, dass es nicht aus der Verankerung fiel. Gut möglich, dass sie irgendwann schnell wieder verschwinden mussten. Aus diesem Grund war es wichtig, einen Fluchtweg offen zu halten.

Im Inneren des Wracks herrschte beklemmende Dunkelheit. Sorokin aktivierte die beiden Leuchten an seinem Helm. Die Lichtkegel tanzten umher, während sich der Commodore an Bord seines alten Schiffes umsah.

»Wir sind auf dem Backbordwaffendeck«, beschied er. Der Lichtkegel fiel auf ein Besatzungsmitglied. Die Leiche war von einer Eisschicht überzogen. Eiszapfen hingen von Nase und Ohren. Der arme Kerl hatte den Absturz überstanden, nur um anschließend hier elend zugrunde zu gehen.

»Wir müssen einen Teil der Energieversorgung wiederherstellen«, sagte Sorokin. »Wir brauchen die Lebenserhaltung. Ich würde gern vermeiden, dass es uns genauso ergeht.« Er wies mit der gepanzerten Hand in die Richtung des Ausgangs. »Die technische Abteilung ist dort hinten, wenn ich mich nicht irre.« Ein paar Ingenieure machten sich umgehend davon. Sorokin betrachtete erneut die tiefgefrorene Leiche. »Und beeilt euch. Wir müssen unter Umständen einige Zeit hier zubringen.«

Der Angriffsverband, der die feindlichen Stellungen auf und um Tau’irin angriff, wurde von Konteradmiralin Tanja Wagner auf dem Dreadnought Hagen von Tronje befehligt.

Der Verband bestand aus annähernd tausend Schiffen. Ihm folgten Truppentransporter, die fünfundsiebzig Legionen beherbergten. Dabei handelte es sich aber lediglich um die erste Welle. Weitere Truppen standen bereit.

Die Soldaten warteten ungeduldig in ihren Konservendosen darauf, in den Kampf einzugreifen und die Nefraltiristreitkräfte mit einem gewaltigen Tritt aus dem System zu werfen.

Wagner betrachtete ihr taktisches Hologramm, auf dem bereits erste Sensordaten eingespeist wurden. Ihr XO, Commander James Fletcher, begutachtete die Daten parallel auf seinem Pad, bevor er sich der Admiralin zuwandte.

»Eine große Anzahl Jagdkreuzer formiert sich um den fünften Planeten. Mehrere im Orbit platzierte Jägerbasen sind bereits dabei, ihre Kampfmaschinen ins All abzusetzen. Es gibt aber keinerlei Anzeichen von Schwarmschiffen.«

Wagner nickte bestätigend. »Wenigstens etwas. Es wäre jedoch besser, Sensorbojen abzusetzen, die Verschiebungen im Subraum registrieren. Dass wir momentan keine Schwarmschiffe orten können, heißt nicht, dass nicht noch welche auftauchen. Gut möglich, dass sie im Hinterhalt lauern und nur darauf warten, dass wir ins Schwerkraftfeld eindringen.«

Der XO gab die Anweisung weiter. Kleinere Scoutschiffe schwärmten aus und setzten in regelmäßigen Abständen Bojen ab. Einige verharrten an Ort und Stelle, der größere Teil umkreiste die Schiffe auf einem elliptischen Kurs, um die Besatzungen vor unliebsamen Überraschungen zu warnen.

Wagner musterte stillschweigend die feindliche Aufstellung. Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Sie fangen uns nicht ab«, erklärte sie. Ihre Stimme klang neutral, auch wenn sie gelinde gesagt ein wenig verblüfft über das Verhalten des Gegners war. Es entsprach so gar nicht der Hinradykampfdoktrin, einem Angreifer das Feld zu überlassen. Es musste die Flohteppiche einiges an Überwindung kosten, sich ruhig zu verhalten und den Menschen den ersten Schlag zu überlassen.

Wagners Gedanken überschlugen sich. Das Verharren in einer Verteidigungsposition bot eindeutige Vorteile. Aber auch Nachteile, die man als Befehlshaber nicht ignorieren sollte. Man stellte sich praktisch mit dem Rücken zur Wand. Eigentlich hatte die Admiralin geplant, den Gegner frontal anzugehen. Nun fragte sie sich, ob dies die richtige Vorgehensweise war.

Die von Garner ersonnene Taktik, das Fernkampfgefecht so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, indem man die Distanz entweder hielt oder ausbaute, funktionierte in diesem Fall nicht. Nicht, wenn der Gegner sich weigerte, seine Position nahe dem Planeten aufzugeben. Die Hinrady hatten ganz offenbar Befehl, den Obelisken auf der Oberfläche von Tau’irin III ohne Rücksicht auf eigene Verluste zu schützen. Das verhieß auch für Wagners Vormarsch nichts Gutes.

Sie rümpfte die Nase. »Die taktischen Geschwader 4.8 bis 9.3 nach steuerbord abdrehen. Sie sollen den Gegner an der Flanke umgehen und ihn von der Seite her nehmen. Mal sehen, wie die da drüben reagieren.«

»Sie werden dem Angriff begegnen«, prophezeite Fletcher. »Die Hinrady haben gar keine andere Wahl.«

»Darauf baue ich.«

Noch während ihr XO die Anweisung weitergab, änderte sich die Aufstellung der terranischen Linien. Mehrere schwere Geschwader unter der Führung der Dreadnoughts Agamemnon und Calypso schwenkten nach steuerbord ab und setzten einen anderen Kurs, der sie um den sechsten Planeten herumführen, aber letztendlich wieder zum dritten Planeten zurückbringen würde.

Noch während die Flottenverschiebung im Gange war, änderte sich auch die Zusammensetzung der feindlichen Hauptkampflinie. Mehrere Hinradygeschwader sowie umfangreicher Jägergeleitschutz änderten ihre Position, sodass sie in der Lage sein würden, die beiden republikanischen Dreadnoughts und ihre Begleiteinheiten unter Feuer zu nehmen, sobald sie in Reichweite kamen.

Dadurch waren die Hinrady aber gezwungen, ihre Linien zu überdehnen. Etwas, das gut in Wagners Pläne passte. Die nächsten Stunden passierte nicht viel. Beide terranischen Verbände näherten sich dem dritten Planeten auf unterschiedlichen Vektoren, während die Hinrady einfach abwarteten. Nach einem fast zehnstündigen Flug tief ins Schwerkraftfeld des Systems befanden sich Wagners Einheiten erstmals in Reichweite der feindlichen Kampfschiffe.

Wagner grinste auf beinahe bösartige Weise. »Es wird Zeit. Feuer frei!«

Der Hauptverband, der sich immer noch dem Gegner frontal annäherte, eröffnete auf das Kommando hin beinahe gleichzeitig den Beschuss. Tausende von Fernlenkgeschossen verließen die Abschussrohre und hielten auf den Gegner zu. Die Kommandanten waren allesamt Veteranen vergangener Schlachten gegen die Sklaven der Nefraltiri. Sie wussten, was nun folgen würde. Die Besatzungen der Waffendecks luden die Rohre schnellstmöglich nach. Bereits weniger als zwei Minuten später folgte die zweite Torpedowelle, anschließend die dritte. Die terranische Flotte ging zum Dauerfeuer über.

Die Reaktion der Hinrady ließ dieses Mal etwas auf sich warten. Sie hielten ihr Abwehrfeuer zurück, bis die erste Torpedowelle sich bis auf zweitausend Klicks an ihre vorderen Linien herangearbeitet hatte. Erst dann lösten sie ihre Energiewelle aus. Die Fernlenkgeschosse der ersten Welle wurden komplett vernichtet. Tausende Explosionen sprenkelten den Weltraum zwischen den beiden Todfeinden.