Das gefallene Imperium 10: Um jeden Preis

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From the series: Das gefallene Imperium #9
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Teil I. Das letzte Aufgebot

1

Vector Prime –

militärisches Aufmarschgebiet für Operation Grabstein

25. Februar 2899

»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.«

Victor Hugo

Major Andreas Rinaldi hätte gern behauptet, Master Sergeant Tian Chung wäre schwierig zu finden gewesen. Man musste jedoch neuerdings nur die schäbigsten, von allerhand zwielichtigem Gesindel besuchten Kneipen abklappern. Irgendwann würde man zwangsläufig auf den Legionär stoßen.

Rinaldi verzog angewidert die Miene, als ihm der Gestank von billigem Fusel, dem aufdringlichen Parfum von Damen zweifelhaften Rufes sowie Erbrochenem in die Nase stieg. Von allen Kneipen in Cibola war diese Spelunke ohne Zweifel die heruntergekommenste.

Der Major blieb auf der obersten Stufe am Eingang stehen und verschaffte sich erst einmal einen Überblick. Links von ihm war gerade eine Schlägerei dabei auszubrechen, aber niemand – insbesondere die Security – schien sich sonderlich für diesen Umstand zu interessieren. Rinaldi versicherte sich schnell, dass Chung nicht mit von der Partie war, und ignorierte den Kampf dann ebenso.

In dem Dämmerlicht, das hier herrschte, konnte man kaum fünf Meter weit sehen, aber Rinaldi meinte, den breiten Rücken des Master Sergeants an der Bar zu erkennen. Der Major setzte sich in Bewegung und arbeitete sich durch die Masse an Leibern, die in der Mitte des Etablissements zu schrillen Klängen in ekstatischen Verrenkungen tanzten – und das, obwohl diese sogenannte Kneipe gar keine Tanzfläche besaß.

Rinaldi ignorierte die Offerten mehrerer junger Damen und ließ sein Ziel nicht aus den Augen. Als er die Bar endlich erreichte, stellte er zu seiner grenzenlosen Erleichterung fest, dass er tatsächlich den Master Sergeant vor sich hatte – und dieser war sternhagelvoll.

Rinaldi zog sich einen Barhocker heran und setzte sich leger. Er beobachtete Chung eine Weile, wie dieser schweigsam einen Schnaps nach dem anderen kippte. Rinaldi war überzeugt, dass Chung seine Anwesenheit bereits bemerkt hatte, aber noch nicht geruhte, diese zur Kenntnis zu nehmen. Schließlich hielt der Unteroffizier es nicht länger aus und warf seinem Major einen scharfen Seitenblick zu.

»Wie lange hat es gedauert, bis Sie mich gefunden haben?«

Rinaldi zuckte mit den Achseln. »Länger, als ich eigentlich zugeben möchte.« Er deutete auf das letzte leere Glas, das vor Chung auf dem Tresen stand. »Harter Tag?«

Chung schnaubte. »Hartes Leben.«

Rinaldi nickte verstehend. »Hernandez.«

»Corporal Hernandez«, versetzte Chung scharf. »Francine«, fügte er leiser hinzu.

Rinaldi senkte den Kopf. »Es ist schwer, jemanden zu verlieren. Glauben Sie mir, ich weiß das. In den letzten Jahren musste ich viele Briefe an unzählige Angehörige schreiben. Und ja, ich habe es manchmal wirklich satt, gute Männer und Frauen in Leichensäcken nach Hause zu schicken.« Er bedachte das nächste Glas, das Chung sich schnappte, mit finsterem Blick. »Aber ich habe mich niemals derart gehen lassen.«

Ungerührt über die unverblümte Äußerung, kippte Chung den Inhalt in einem Zug hinunter. Rinaldi verzog schmerzhaft berührt die Miene. Er wusste genau, was Chung sich da Glas um Glas einverleibte. Unter Soldaten nannte man den Drink Supernova. Das sagte eigentlich schon alles. Nach allen gängigen Regeln der Physik hätte sich Chung schon längst Speiseröhre und Magen mit dem Zeug verätzen müssen.

»Der wievielte ist das heute schon?«

Chung zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, der dritte, glaube ich.«

Rinaldi warf einen fragenden Blick Richtung Barkeeper. Dieser machte mit beiden Händen eine eindeutige Geste. »Laut ihrem Freund da drüben wohl eher der neunte.«

Abermals zuckte Chung mit den Achseln. »Ich bin am Feiern. Ich feiere das Leben meiner gefallenen Kameradin.« Chung hob das zehnte Glas mit diesem Teufelszeug und prostete damit niemand Besonderem zu. »Auf dich, Francine!« Erneut stürzte er das Glas in einem Zug hinunter. Rinaldi wurde schon vom Zusehen schlecht.

Der Master Sergeant hob die Hand, um ein elftes Glas zu ordern, aber Rinaldi kam ihm zuvor. »Das reicht jetzt.« An den Barkeeper gewandt, fragte er: »Haben Sie auch Kaffee?«

Der Mann grinste schmutzig. »Klar. Mit oder ohne Schuss?«

Rinaldi warf dem Kerl einen vernichtenden Blick zu. »Schwarz. Das Letzte, was er braucht, sind noch mehr Promille. Ich bin mir nicht einmal jetzt sicher, ob er überhaupt noch Blut im Alkohol hat.«

Chung wandte sich seinem Vorgesetzten zu, wobei er fast vom Hocker gefallen wäre. »Normalerweise hege ich für Sie den größten Respekt, Major«, lallte er. »Aber da ich gerade dienstfrei habe – vergeben Sie mir bitte meine Offenheit –, warum verpissen Sie sich nicht einfach?«

Rinaldi stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus. »Dienstfrei oder nicht, für das allein könnte ich Sie für ein paar Tage ins Loch werfen lassen.«

»Warum machen Sie es dann nicht einfach?«

Rinaldi wurde ernst. »Weil es nicht meine Art ist, jemanden zu bestrafen, der trauert.«

»Ich trauere nicht.«

»Oh, doch. Und ich kann Sie gut verstehen.«

Der Barkeeper stellte eine Tasse dampfenden heißen Kaffees vor die beiden auf die Theke. Rinaldi schnupperte misstrauisch an dem Duft, der davon aufstieg. »Falls da auch nur ein Tropfen Alkohol drin ist, dann komme ich rüber und flöße dir eine ganze Kanne von dem Zeug ein.«

Der Barkeeper wollte erst über die Bemerkung lachen. Nach einem Blick in Rinaldis Gesicht war der Mann jedoch gar nicht mehr sicher, dass der Major tatsächlich einen Scherz gemacht hatte.

»Ist sauber«, war alles, was er anschließend erwiderte.

Rinaldi schob die Tasse auffordernd in Chungs Richtung. Er duldete keinen Widerspruch. Das war beiden klar. »Trinken!«, befahl er.

Chung betrachtete missmutig die Tasse, nahm sie dann aber auf, pustete etwas auf das Gebräu und nahm einen vorsichtigen Schluck, gefolgt von einem etwas längeren. Er stellte die Tasse ab. Nun, da kein Alkohol mehr nachgeschoben wurde, setzte das Selbstmitleid ein, das jeder kannte, der schon einmal mit einem harten Trinker zu tun gehabt hatte.

»Sie war nicht nur eine Soldatin unter meinem Kommando«, sagte Chung.

Rinaldi nickte. »Sie war etwas ganz Besonderes.«

»Sie war Freundin, Kameradin, langjährige Weggefährtin – und jetzt ist sie tot.«

Rinaldi meinte, aus den Worten des Mannes eine gewisse Richtung herauszuhören. Daher beschloss er nachzuhaken. »Hatten Sie was miteinander?«

Chungs Blick flog hoch. »Nein, um Himmels willen! Das meinte ich ganz und gar nicht. Wir waren einfach nur die besten Freunde. Da passt Sex nicht rein. Außerdem haben wir uns gegenseitig öfter den Arsch gerettet, als ich zählen kann. So was schweißt zusammen – und turnt richtig ab. Aber mal wirklich so richtig.«

Jetzt wusste Rinaldi, worauf der Sergeant hinauswollte. »Es war nicht Ihre Schuld«, wagte er einen mitfühlenden Vorstoß.

Chung nahm einen weiteren Schluck Kaffee, bevor er antwortete. »Ich habe sie sterben lassen, Major. Ich ließ sie in den Fängen dieses Hinrady zurück und er brach sie einfach entzwei wie einen morschen Zweig. Ohne Zögern. Ohne Mitleid. So sind diese … diese Tiere. Reine Tötungsmaschinen.«

»Falls es Ihnen ein Trost ist, kein Hinrady hat Argyle II lebend verlassen. Nach dem Eintreffen der Drizil wurde der Planet systematisch gesäubert. Francines Mörder ist tot.«

»Das tröstet mich überhaupt nicht.«

»Kann ich nachvollziehen.« Rinaldi sah zu, wie Chung die Tasse vollständig leerte. »Und? Wieder auf dem besten Weg, nüchtern zu werden?«

Chung grinste über das ganze Gesicht. »Noch lange nicht.«

»Das hatte ich befürchtet.« Mit erhobener Hand orderte Rinaldi eine zweite Tasse, die auch prompt geliefert wurde.

»Sie geben nicht auf, oder?«, meinte Chung, während er die zweite Tasse mit ebenso großem Widerwillen betrachtete wie die erste.

»Ganz sicher nicht«, gab der Major zu. »Sie sind mein bester Unteroffizier. Ich werde Sie nicht hängen lassen.«

»Ich wünschte, Sie würden es.«

»Das können Sie getrost vergessen.«

»Sie sind eine Nervensäge«, versetzte Chung, allerdings ohne jegliche Aggression. Er wirkte lediglich müde und ausgelaugt. Es war eine Müdigkeit des Geistes, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Daran konnte auch der Kaffee nichts ändern.

Rinaldi seufzte. »Was wäre denn die Alternative gewesen, Chung? Sie mussten Ihre Leute da raus bringen. Sie haben Ihren Trupp gerettet. Es hieß vier Leben abwägen gegen eines. Und Sie haben die korrekte Entscheidung getroffen. Ich hätte sie auch gefällt. Jeder gute Soldat hätte das.«

»Ich weiß. Das macht das Verlustgefühl nicht weniger schmerzhaft. Und die Schuld, die meine Eingeweide immer wieder zusammenzieht.«

»Das wird noch eine Weile anhalten«, gab Rinaldi zurück. »Vielleicht vergeht es nie. Aber Sie werden lernen, damit umzugehen. Oder Sie zerbrechen daran. Sie haben schon früher Legionäre im Gefecht verloren.«

Chung schüttelte den Kopf. »Das hier ist anders. Diesmal habe ich das Gefühl, es wäre meine Schuld gewesen. Das wiegt schwerer.«

»Das tut es«, erwiderte Rinaldi. »Aber Sie werden sich gefälligst zusammenreißen. Das ist ein Befehl.«

Chung erstarrte für einen Moment. Er richtete sich auf, wobei er beinahe vom Hocker rutschte. Rinaldi half ihm, aufrecht zu bleiben. Chung salutierte vor dem Offizier und erklärte: »Ja, Sir.«

Rinaldi wusste, es würde nicht einfach sein, Chung von dessen selbstzerstörerischen Weg abzubringen, aber es war zumindest ein Anfang.

 

»Wie geht es Kara?«, wollte der Major wissen. Kara Mitchell war beim selben Angriff schwer verwundet worden, der Francine Hernandez das Leben gekostet hatte. Ihr Rückgrat hatte einiges abbekommen.

Chung seufzte. »Es gab Komplikationen.«

Rinaldi wurde hellhörig. »Welcher Art?«

»Einige der Komponenten, die man ihr ins Rückgrat gepflanzt hat, damit sie wieder gehen kann, wurden abgestoßen. Jetzt prüft man, ob sich vielleicht andere anpassen lassen. Falls das nicht funktioniert, wird sie ihre Beine nie wieder richtig benutzen können. Sie befindet sich gerade im Militärkrankenhaus hier auf Vector Prime.«

»Das tut mir sehr leid«, antwortete Rinaldi ehrlich. Chung erwiderte nichts darauf. Der Major überlegte. »Das ist in mehr als einer Hinsicht ärgerlich. Das bedeutet, ihr Trupp besteht gerade aus lediglich drei Mann.«

Chung nickte. »Lassen Sie es sich bloß nicht einfallen, mir Ersatz zu schicken. Kara wird wiederkommen und für Francine will ich noch keinen. So weit bin ich noch nicht.«

»Keine Sorge. Ersatz ist für Ihren Trupp auch nicht vorgesehen. Dafür haben wir gerade gar keine personellen Mittel. Ich meinte das anders.« Rinaldi beobachtete zufrieden, wie Chung auch die zweite Tasse Kaffee leerte. Der Sergeant war zwar nicht nüchtern, aber wesentlich klarer im Kopf als bei Rinaldis Ankunft. Er klopfte dem Unteroffizier auffordernd auf die Schulter. »Lassen Sie uns gehen.«

Chung folgte seinem Major ohne Widerstand. »Und wie meinten Sie das jetzt genau?«, brüllte der Sergeant über den Lärm hinweg.

»Dass Ihnen für die nächste Operation lediglich ein Trupp mit eingeschränkter Stärke zur Verfügung steht.«

Chung runzelte die Stirn. »Operation? Was für eine Operation?«

Rinaldi wandte sich seinem Untergebenen lächelnd zu. »Hat es Ihnen noch niemand gesagt?«

Chung schüttelte verständnislos den Kopf. Rinaldis Lächeln wurde breiter. »Wir fliegen zurück nach Sultanet.« In das Gebaren des Majors mischte sich grimmige Entschlossenheit. »Wir gehen nach Hause.«

Präsident Mason Ackland beobachtete mit leuchtenden Augen, wie über ihm Raketen in den Himmel schossen, dort explodierten und leuchtende Muster ans Firmament malten. Die Pyrotechniker hatten ganze Arbeit geleistet, sehr zum Vergnügen der anwesenden Gäste.

Eine Ansammlung von Geschossen erregte besonders viel Aufmerksamkeit. Sie erzeugten einen Schriftzug über den Dächern von Cibola. Er besagte: Willkommen zurück!

Einfach gewählte Worte, aber sie sagten sehr viel aus. Die Veranstaltung feierte den Anschluss der Konföderation demokratischer Systeme, der Kooperative und anderer kleinerer Sternennationen an die Terranisch-Republikanische Liga. Nach langer Zeit war die Menschheit endlich wiedervereinigt. Gerade rechtzeitig, um den letzten Kampf gegen die Nefraltiri und ihre Sklaven gemeinsam zu führen.

Zwei Männer gesellten sich zu ihm, beide mit einem Glas sprudelnden Champagners in der Hand. General a. D. Carlo Rix und Vizeadmiral Elias Garner wirkten beide sehr zufrieden mit sich. Diese Männer hatten maßgeblich dazu beigetragen, dass dies alles in relativ kurzer Zeit zustande gekommen war. Anschlussgespräche dauerten eigentlich Jahre, manchmal Jahrzehnte. Doch in diesem Fall war alles innerhalb eines halben Jahres über die Bühne gegangen. Die Erfordernisse des Krieges hatten die Entscheidungsträger zur Eile ermahnt. Und das Ergebnis konnte man nun hier bewundern.

Ackland sah sich vielsagend um. Das ganze Dach des Hotels, in dem er zurzeit residierte, wimmelte nur von Würdenträgern und Offizieren sowohl der Republik als auch der neu angeschlossenen Nationen. Sogar einige Drizil waren gekommen, um das Fest mit ihren Verbündeten zu begehen. Für viele der menschlichen Offiziere war es noch ungewohnt, die Uniform der Republik zu tragen. Bei manchen erweckte es sogar den Eindruck, sie sei noch ein paar Nummern zu groß. Die Gesichter einiger weniger wirkten mürrisch, als trauerten sie ihrer Vergangenheit nach. Diese Reaktionen blieben aber zum Glück die Ausnahme. Im Großen und Ganzen herrschte eine gelöste, heitere Stimmung. Eine Stimmung, die einen neuen Aufbruch versprach.

Ein Kellner kam mit einem Tablett voller Häppchen vorbei, doch alle drei Männer lehnten dankbar ab, woraufhin der Bedienstete sich auf der Suche nach anderen Abnehmern davonmachte.

Masons Miene verlor etwas von ihrer Heiterkeit, als er Garner musterte. »Ist alles vorbereitet?«

Dieser nickte grimmig und nicht ohne Vorfreude in den aufblitzenden Augen. »Wir führen den Sprung nach Sultanet in fünf Tagen aus. Gleichzeitig schlagen drei weitere Verbände gegen vom Feind besetzte Systeme los. Indem wir den Gegner auf dem gesamten Frontverlauf bedrängen, setzen wir ihn unter Druck und zwingen ihn vielleicht sogar zum Rückzug. Aber eines ist mal sicher: Es geht jetzt nur noch in eine Richtung und keinen Fußbreit mehr zurück.«

»Wollen wir’s hoffen.« Mason verweigerte sich Garners Euphorie. Viel zu oft hatten die Nefraltiri mit Überraschungen aufgewartet und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber dieses Mal schien der Vorteil tatsächlich auf ihrer Seite zu liegen.

»Was meint Cest zu alldem?«, wollte der Präsident wissen.

Carlo Rix schnaubte und warf dem Professor einen kurzen Blick zu, der sich angeregt mit mehreren Wissenschaftlern der ehemaligen Kooperative unterhielt und die Party sichtlich genoss. Carlo wandte sich erneut dem Präsidenten zu. »Er ist überzeugt, dass die Inkubationszeit reichen müsste. Hinrady und Jackury sollten sich bereits massenhaft angesteckt haben. Theoretisch müssten wir leichtes Spiel haben.«

»Theorie und Praxis stimmen nur selten überein«, gab Mason zu bedenken. »Uns war von Anfang an klar, dass wir niemals alle mit dem Virus erwischen konnten. Es wird Widerstand geben. Niemand darf sich vormachen, es würde ein Spaziergang werden.«

Carlo schüttelte den Kopf. »Es ging nie darum, alle zu infizieren. Uns muss ein adäquater Anteil genügen. Ihre Verteidigung muss geschwächt werden, damit wir ihre Linien durchbrechen können. Möglichst auf breiter Front. Cest meint, wir wären an einem kritischen Punkt angelangt. Ein hoher Anteil der Nefraltiristreitkräfte liegt jetzt bereits im Sterben oder ist schon tot, aber der Gegner konnte noch nicht in ausreichendem Umfang Nachschub an Truppen, Waffen und Schiffen generiert haben. Es heißt: jetzt oder nie!«

»Wir haben ein halbes Jahr gewartet«, warf Garner verkniffen ein. »Und in dieser Zeit gab es keinerlei Angriffe der Hinrady mehr. Nach ihren Erfolgen sowie dem Einmarsch auf republikanisches Territorium ist das ein äußerst untypisches Verhalten. Ich sehe das wie Rix: jetzt oder nie! Das ist unsere Chance. Vielleicht die letzte, die wir noch bekommen.«

Carlo schüttelte den Kopf. »Die feindliche Passivität könnte eher etwas mit unserem Sieg auf Argyle II zu tun haben. Die Analysten meinen, wir könnten den Hinrady dabei durchaus militärisch das Rückgrat gebrochen haben.«

Garner verzog die Miene. »Kann ich mir nicht vorstellen. So viel Glück werden wir kaum haben. Ich setze bevorzugt auf Cests Forschungen. Lassen Sie uns zuschlagen, Herr Präsident. Wir nutzen Argyle als Sprungbrett und schlagen gleichzeitig gegen mehrere wichtige Systeme los. Das bringt unseren Feind definitiv in die Defensive.«

Mason ließ sich das Gesagte beide Männer durch den Kopf gehen und neigte schließlich den Kopf zur Seite. »Wie ich das sehe, werden wir lediglich Antworten erhalten, wenn wir das nächste Mal auf feindliche Kräfte stoßen. Bis dahin bleibt alles reine Spekulation.« Garner hatte mit voller Absicht auf die Entsendung von Aufklärungsdrohnen verzichtet, um den Gegner nicht vorzuwarnen, dass etwas Großes im Gange war. Sie würden also tatsächlich erst während des Angriffs verlässliche Informationen erhalten.

»Meine Herren«, erläuterte Mason. »Egal, was nun geschieht, der Krieg neigt sich dem Ende entgegen.« Er hob sein Champagnerglas zum Salut. »Und egal, wie dieser grausame Konflikt auch ausgehen mag, es war mir eine Ehre, ihn an Ihrer Seite auszufechten. Und wenn uns das Glück weiter hold ist, werden wir die Nefraltiri und ihre Speichellecker bald zurück in ihr eigenes Universum treiben. Ich danke Ihnen beiden für Ihren Einsatz in diesem Krieg. Ich wüsste nicht, was ich ohne Ihren Rat getan hätte.« Die beiden Männer hoben ebenfalls ihre Gläser.

»Der Kampf wird bald vorbei sein«, beschied Carlo Rix. »Welche Seite der Gott des Krieges präferiert, das müssen wir sehen, sobald sich der Pulverdampf verzogen hat.«

2

Der Kampfverband unter Führung von Vizeadmiral Elias Garner führte einen Gefechtssprung nach Sultanet aus und fand sich praktisch vom ersten Augenblick an inmitten feindlicher Schiffe wieder. Es waren mehr als zweihundert.

Garners anfängliche Sorge wich schnell Verwunderung und wurde anschließend ersetzt durch Schadenfreude. Die Jagdkreuzer der Hinrady zeigten in der Mehrzahl keine Reaktion auf die Anwesenheit terranischer Schiffe. Nur einige wenige führten Manöver aus. Aber auch diese wirkten unkoordiniert und erinnerten keineswegs an die komplexen Taktiken, wie Hinrady sie normalerweise an den Tag legten.

Garner lächelte grimmig. »XO, Angriffsplan Omega ausführen«, war alles, was der Admiral von sich gab. Commander Harald Kessler nickte und gab die Anweisung mittels Pad an die Angriffsflotte weiter. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Die Träger schleusten in schneller Folge Geschwader von Vindicators und Mammoth II aus, die sich professionell und diszipliniert zum Angriff formierten.

Die Großkampfschiffe nahmen parallel den Kampf auf. Die terranischen Besatzungen ließen ihrer Wut freien Lauf. Geschützpforten öffneten sich und Torpedos sowie Raketen regneten auf den nahezu wehrlosen Gegner. Ein Lichtgewitter Tausender Energiewerferbatterien fuhr durch die feindlichen Schiffe und schnitt tief in die Panzerung.

Die Hinrady leisteten – wenn überhaupt – nur sporadische Gegenwehr. Vereinzelt wurde das Feuer erwidert, doch es richtete kaum Schaden an. Die republikanischen Einheiten jedoch kannten weder Gnade noch Zurückhaltung. Innerhalb kürzester Zeit brachen die Kampfschiffe unter schwerer Jäger- und Bomberdeckung zum Planeten Sultanet durch. Sie hinterließen dabei einen Friedhof zerstörter Hinradyschiffe. Explosionen blühten im Sekundentakt auf. Garners Verbände gingen kein Risiko ein. Die Verschlagenheit der Primatenkrieger war ihnen noch lebhaft in Erinnerung. Daher ließen sie kein Feindschiff auch nur halbwegs intakt hinter sich zurück. An jenem Tag büßten die Sklaven der Nefraltiri für den Mord an unzähligen unschuldigen Menschen und Drizil.

Die Schlacht, falls man sie denn so nennen wollte, dauerte weniger als dreißig Minuten. In diesem Zeitraum verloren die Hinrady fast zweihundertfünfzig Schiffe. Die Terraner büßten lediglich drei Jäger und einen Bomber ein. Das war alles. Garner konnte sein Glück kaum fassen. Die Offensive verlief glänzender, als selbst die positivsten Prognosen vorhergesagt hatten.

Die Flotte stieß zum Hauptplaneten vor, der von einer Kampfgruppe aus etwa dreißig noch funktionstüchtigen Jagdkreuzern mit offenbar nicht infizierten Hinradybesatzungen verteidigt wurde.

Garner schüttelte leicht den Kopf. Es gab eine klar definierte Grenze zwischen Mut und schierer Sturheit. Die Hinrady mussten wissen, dass sie nicht die geringste Chance hatten. Dennoch hielten sie im Namen ihrer Meister die Stellung bis zum bitteren Ende.

Garner und dessen Gefolge war dies nur recht. Sie hatten nicht die geringste Absicht, Nachsicht walten zu lassen. Dafür bestand auch kein Grund nach allem, was geschehen war.

Die Hinrady schleusten ihre Jäger aus und diese bildeten vor der eigentlichen Formation eine Abwehrlinie.

Garners Verband verfügte über zwölfhundert Schiffe und konnte Hunderte Jäger ins Gefecht werfen. Der Admiral neigte nicht zu Arroganz oder Überheblichkeit, nicht wenn es darum ging, einen Feind einzuschätzen. Doch dieses Mal war er von vornherein sicher, dass der Ausgang der Konfrontation bereits feststand.

Master Sergeant Tian Chung hörte, wie sich irgendwo hinter ihm jemand lautstark übergab. Die Geräusche waren nicht dazu angetan, seine eigene Übelkeit zu ignorieren.

Rinaldi hatte ihm die strikte Order gegeben, die Hände vom Alkohol zu lassen. Und … nun ja … Tian war in dieser Hinsicht nicht unbedingt der folgsame Typ. Sein Hals fühlte sich an wie ein Reibeisen und sein Kopf dröhnte, als wäre ein Hochgeschwindigkeitszug darüber hinweggerollt.

Die Legionäre saßen eingezwängt in ihren Sitzen an Bord des Truppentransporters. Zu Tians Rechter saß Nico Keller und zu seiner Linken Antonio Jimenez. Der deutliche Verdacht überkam ihn, Rinaldi hatte die beiden Soldaten dazu angestiftet, für Tian die Kindermädchen zu spielen. Er wusste nicht, ob er darüber insgeheim erleichtert oder doch eher sauer reagieren sollte.

 

Um sich abzulenken, klinkte Tian sich in die Helmkamera des Piloten ein. Dieser besaß einen ungehinderten Blick auf die Geschehnisse außerhalb des Truppentransporters.

Im ersten Moment, nachdem die Verbindung etabliert war, spürte der Sergeant eine Sekunde der Desorientierung. Sie legte sich aber schnell und Tian fand sich inmitten einer blutigen Schlacht wieder.

Knapp oberhalb des Cockpits des Transporters zog ein Dreadnought majestätisch vorüber, den er als die Sir Francis Drake identifizierte.

Garners Flaggschiff bezog eine Position zwischen den angreifenden Truppentransportern und den noch aktiven Hinradyeinheiten. Während Tian zusah, zerlegten die Bordgeschütze des Kriegsschiffes nacheinander drei feindliche Jagdkreuzer. Nach einer oberflächlichen Begutachtung bemerkte Tian, dass sich in unmittelbarer Nähe des Orbits keine feindlichen Einheiten mehr befanden, die über Bedrohungspotenzial verfügten. Dafür gab es eine Menge Trümmer. Viele davon waren noch als Teile feindlicher Schiffe identifizierbar.

Weitere terranische Einheiten nahmen nahe dem Orbit Gefechtsstellungen ein, um den Planeten zu sichern. Widerstand gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch. In der Ferne konnte Tian das Aufblitzen von Geschützfeuer und Laserentladungen ausmachen. Teile terranischer Verbände waren dabei, den Gegner vor sich herzutreiben. Oder besser gesagt das, was von den hiesigen Wachgeschwadern noch übrig war. Wenn es am Boden genauso aussah, würde dies eine extrem kurze Offensive werden.

»Beeindruckend, nicht wahr?«, vernahm er plötzlich eine bekannte Stimme in seinem Helm.

»Major«, grüßte er Rinaldi in rauem Tonfall. Der Kohortenkommandeur hatte sich unbemerkt in seine Verbindung eingeklinkt. »Ähm … ja«, ging der Sergeant erst danach auf den Kommentar seines Befehlshabers ein. »Sehr beeindruckend. Haben wir Informationen, wie es auf dem Boden aussieht?«

»Keine verlässlichen«, gab Rinaldi zu. »Aber wenn das Virus dort genauso gehaust hat wie unter diesen Besatzungen, dann hat das Ganze wenig mit einer Schlacht, sondern vielmehr mit Aufräumarbeiten zu tun.«

Tian schnaubte, was Rinaldis Zögern zur Folge hatte. Wie alle hatte auch Tian mittlerweile zumindest Gerüchte über das von Cest entwickelte Virus gehört. Er war aber nicht ganz sicher, was er davon halten sollte und wie viel Wahrheitsgehalt in den Gerüchten steckte.

»Sie sind nicht mit der Vorgehensweise einverstanden?«, hakte der Major nach.

Tian dachte eine Weile über die Frage seines Kommandanten nach. »Doch, schon. Ich frage mich nur ernsthaft, ob es wirklich derart einfach sein kann. Ich warte die Ganze Zeit darauf, dass die Flohteppiche noch ein letztes Ass aus dem Ärmel ziehen.«

»Auch denen muss irgendwann mal das Glück ausgehen. Und wir brauchen einen Vorteil, um diesen Krieg endlich zu gewinnen.«

Tian dachte an Francine zurück. Die Wut hielt ihn fest in seinem Griff. Er hörte immer noch das Knacken ihrer Knochen über Funk, als sie sich im unerbittlichen Griff ihres Peinigers befunden hatte. Und seine Stellvertreterin war nur eines von vielen, vielen Opfern, die dieser Krieg gefordert hatte. Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, ihn zu einem Ende zu bringen. Und Tian war überaus stolz, Teil dessen sein zu dürfen.

Ein Energiestrahl fegte von der Oberfläche herauf und trennte einen Truppentransporter sauber wie mit einem Skalpell in der Mitte durch. Beide Bruchstücke fielen an Tians Schiff vorbei Richtung Oberfläche. Legionäre und Ausrüstung stürzten aus dem Wrack heraus.

»Anscheinend sind einige Hinrady noch übrig«, meinte Rinaldi. Dessen Stimme hörte sich seltsam kühl und unbeteiligt an. Tian fragte sich, ob er sich für andere auch derart abgeklärt eiskalt anhörte. Vielleicht. Unter Umständen brachte das der Krieg so mit sich.

Weiteres Abwehrfeuer schlug den angreifenden terranischen Bodentruppen entgegen, jedoch wesentlich weniger, als es Piloten und Legionäre von früheren Operationen her gewohnt waren. Der Pilot von Tians Transporter schaltete für einen Moment den Antrieb vollständig aus und ging mit dem Schiff in den freien Fall über, um dem Gegner das Zielen zu erschweren.

Tians Magen machte einen Satz. Diesen Teil einer Landeoperation hasste er am meisten. Man wusste nie, würde der Sturz enden oder mit dem Aufprall auf dem Boden einhergehen. Doch auch dieses Mal ging alles glatt. Erst wenige Hundert Meter über dem Boden fing der Pilot den kontrollierten Absturz auf, indem er den Antrieb reaktivierte und auf vollen Gegenschub ging. Der Rest war nur noch Routine.

Das Schiff sank sanft herab, bis es knapp fünf Meter über dem Boden schwebte. Die Luken gingen zischend auf.

Rinaldi erhob sich und nahm das Nadelgewehr auf. »Zeit, dass wir unseren Sold verdienen. Und wollen wir hoffen, dass dies der Anfang vom Ende für die Nefraltiri und ihre Gefolgsleute sein wird.«

Die erste terranische Einheit, die nach dem Fall von Sultanet wieder den Fuß auf den Boden des republikanischen Planeten setzte, war die 5. Fernaufklärungslegion unter dem Kommando von Lieutenant Colonel Amanda Carter.

Es gab keinen nennenswerten Widerstand. Nichts, was man in diese Kategorie einordnen mochte. Carter machte ein paar vorsichtige Schritte und wunderte sich im selben Moment, warum der Boden unter ihren Stiefeln knirschte. Sie sah nach unten und erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf den Leichen von Jackury stand. So weit das Auge reichte, war die Ebene übersät mit den toten Insektoiden. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, es handele sich um ein gigantisches Schlachtfeld. Nur, dass es keinerlei Anzeichen von Waffeneinsatz gab. Die Jackury, so schien es, waren schlichtweg tot vom Himmel gefallen.

Carter gab ihren Leuten mittels Handzeichen Befehle und die Legionäre der 5. FAL schwärmten gehorsam aus, ständig mit einem Hinterhalt rechnend. In der Ferne zeichneten sich die Ruinen der Stadt Orel ab. Die Metropole hatte furchtbar gelitten. Carter erinnerte sich noch gut. Ihre Legion hatte bei der Verteidigung geholfen. Es war eine der Städte gewesen, die man mit knapper Not hatte zum überwiegenden Teil evakuieren können, bevor sie an den Feind gefallen waren. Nicht alle Bevölkerungszentren Sultanets hatten dieses Glück gehabt.

Weitere Truppentransporter landeten. Die republikanischen Legionen nahmen Aufstellung und schlossen sich dem Vormarsch an. Carter konnte sich nicht helfen, aber sie war irgendwie enttäuscht. Sie hatte sich die Rückeroberung Sultanets anders vorgestellt. In gewissem Sinne … ruhmreicher. Glanzvoller. Und vor allem hatte sie sich darauf gefreut, einige dieser Mistviecher eigenhändig ins Jenseits befördern zu dürfen. Nun blieb ihr Rachedurst ungestillt. Im Gegenzug musste man aber eingestehen, dass die Leben Tausender Legionäre geschont wurden, die andernfalls beim Sturm auf die feindlichen befestigten Stellungen ihr Leben gelassen hätten.

Sie passierten einige Positionen, die mit Hinrady bemannt waren. Auch diese waren leblos über ihren schweren Waffen zusammengesunken. Im Gegensatz zu den Jackury hatten diese Sklavensoldaten jedoch kein leichtes Ende gehabt. Die Körper der Primaten sahen aus, als hätten sich die Krieger in Todeszuckungen die Panzer vom Körper geschält. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam verrenkt.

Carter betrachtete die Leichen nur mit mäßigem Mitleid. Ihrer Meinung nach war es nicht mehr, als diese völkermordenden Bastarde verdienten.

Mit einem wortlosen Befehl bedeutete sie ihren Leuten, die toten Hinrady auf Lebenszeichen zu untersuchen. Jeden einzelnen. Jackury waren der Täuschung nicht fähig, aber bei den Primaten musste man mit jeder Teufelei rechnen.