ENDE DER SCHULD

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ENDE DER SCHULD
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Sharon Lee

ENDE DER SCHULD

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Emilia Rodriguez

Die Tote im Wald

Der Auftrag

Mordverdacht

Die Akte der Mutter

Spuren und kein Beweis

Identität

Ausflug mit Todesfolge

Mitarbeiterlunch

Das Geheimnis

Eine Beobachtung

Schachmatt

Szeneclub

Schweigen der Kollegen

Bella Donna

Der Dealer

Bitter im Nachgeschmack

Tod der Nachtigall

Anonymer Brief

Einladung mit Folgen

Späte Reue

Unter Druck

Kokain und Wut

Ohne Beweis

Noch ein Mord

Todesangst

Ende des Spiels

Impressum neobooks

Emilia Rodriguez

Was dem einen Nektar ist,

ist dem anderen Gift.

(D. H. Lawrence)

1

Die Tasse Minze-Tee mit beiden Händen umschlungen, sass Emilia Rodriguez am Bistrotisch direkt am Fenster. Noch müde von der durchzechten Nacht, liess sie ihren Blick nach draußen gleiten. Es war ein typischer Samstag an der Hauptverkehrstrasse in der Zürcher Innenstadt.

Neugierig wurde sie, als eine Limousine auf den Besucherparkplatz eines Nachbarhauses einbog. Sie beobachtete, wie zwei Personen aus dem Wagen stiegen.

Zu ihrer Verblüffung erkannte sie die beiden sofort.

Zwei Wochen später war Emilia Rodriguez tot.

2

Die Tote im Wald

In Ravensbühl, einem Weiler im Zürcher Oberland, lebte die berühmte Detektivin Carla Fuchs. Das Landhaus mit dem gepflegten Blumengarten lag nahe dem finsteren Tannenwald und verfügte über drei stattliche Schlafzimmer und damit über ausreichend Platz.

Seit fünfundzwanzig Jahren lebte und arbeitete Detektivin Fuchs alleine in dem 300-jährigen Haus – und genau das sollte sich mit dem Einzug ihrer Nichte ändern. Das Gästebett war frisch bezogen, das Zimmer bereit für Romy Rossis Einzug.

In feierlicher Vorfreude hatte Fuchs sämtliche Vorkehrungen getroffen, das Haus von oben nach unten durchgeputzt, den Keller aufgeräumt, die Gardinen gewaschen und gebügelt und die Fensterscheiben poliert. Die Landluft würde ihrer Nichte gut tun und das neue Zuhause womöglich eine entscheidende Wende in ihr Leben bringen.

Carla Fuchs hingegen konnte es kaum erwarten, die bevorstehende und von langer Hand geplante Reise durch den fernen Osten anzutreten. Zwei Mal bereits hatte sie dieses Abenteuer aus beruflichen Gründen aufschieben müssen. Doch vielleicht hatte dies alles seinen Sinn gehabt: drei Mordfälle hatte sie aufgeklärt und andere Verbrechen verhindert. Nun war ihre Nichte erfahren genug, um sie in der Detektei würdig zu vertreten.

Romy Rossi bewunderte ihre Tante für ihr unermüdliches Schaffen und hegte seit jeher den Berufswunsch, eine hervorragende Detektivin wie Carla Fuchs zu werden. Charakterlich kam Romy Rossi nach ihrem Vater, der in Süditalien eine Anwaltskanzlei führte. Sie verfügte über Biss, war hartnäckig und genauso stur, wenn es um die Verfolgung ihrer Ziele ging.

Romy Rossi lebte sich schnell ein in Ravensbühl. Der Umzug ins Zürcher Oberland fühlte sich richtig an und in Tante Carlas Haus kam sie alleine bestens zurecht. Vergnügt wippte sie im Schaukelstuhl. Spontan schnappte sie sich eine der Zeitungen vom Stapel und begann, sich darin zu vertiefen.

Unter den Kurznachrichten überflog sie einen Artikel: Die 84-jährige A.B. (Name der Red. bekannt) wurde am Mittwoch tot in ihrer Wohnung an der Stampfenbachstrasse aufgefunden. Zeugen werden gebeten, sich bei der örtlichen Polizeistelle zu melden.

Nachrichten aus Sport und Politik überblätterte sie und stellte fest, dass die Zeitung bereits zwei Wochen alt war.

Anschließend holte sich einen Kaffee aus der Küche und gönnte sich drei Stück von der Patisserie, die sie am frühen Morgen im italienischen Spezialgeschäft besorgt hatte.

Kaum hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt, klingelte das Telefon.

„Detektei Carla Fuchs“, meldete sie sich.

Eine Männerstimme verlangte, Carla Fuchs zu sprechen.

«Wollen Sie sie beruflich sprechen?»

Als er ihre Frage bejahte, erklärte sie: «Frau Fuchs ist für längere Zeit abwesend, ich vertrete sie.»

Der Herr, der sich inzwischen als Sebastian Peckard vorgestellt hatte, erzählte Rossi vom Verschwinden einer Mitarbeiterin. Er behielt sich vor, die Einzelheiten nicht am Telefon zu besprechen, betonte jedoch, die Sache sei ihm wichtig: «Ich schlage vor, wir treffen uns morgen Abend in Zürich, um die vertraglichen Details zu besprechen.»

Ehrgeizig wie sie war, betrachtete sie den Anruf als ein willkommenes Geschenk und willigte ohne jegliche Bedenken ein. Ihre Fragen liess er allerdings unbeantwortet. Nur einen einzigen Hinweis erhielt sie von ihrem Auftraggeber: sie solle sich doch den Zeugenaufruf der Kantonspolizei Zürich, der eben online aufgeschaltet worden sei, anschauen.

Peckard erwähnte lediglich: «Möglicherweise handelt es sich bei der Toten um meine Mitarbeiterin.»

Rossi blieb nichts anderes übrig: sie schnappte sich ihren Laptop, um anhand der wenigen Informationen, die sie von Sebastian Peckard erhalten hatte, zu recherchieren. Auf der Online-Seite «Polizeinews» stieß sie sofort auf eine Todesmeldung, die durch die Kantonspolizei Zürich erst vor einer Stunde publiziert worden war.

Tote im Wald. Polizei sucht Zeugen.

Am Samstagabend des 13. August wurde eine jüngere Frau in einem Waldstück im Zürcher Oberland tot aufgefunden. Die Identität ist derzeit noch unklar. Fremdeinwirkung kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.

3

Der Auftrag

«Guten Abend, schöne Frau.»

Romy Rossi hatte ihn aufgrund ihrer vorgängigen Recherchen sofort erkannt und reichte Sebastian Peckard zur Begrüßung die Hand. Auch Peckard wirkte vorbereitet, beinahe so, als würden sie ein vertrautes Verhältnis pflegen.

Der Schein mochte trügen, doch fürs Erste gewann sie den Eindruck, Sebastian Peckard sei ein gepflegter Mann aus der gebildeten Gesellschaftsschicht, ein tadellos gekleideter Herr mit feinen Händen und sauberen Fingernägeln.

Er setzte sich mit einem Lächeln gegenüber von Romy Rossi an den Tisch.

«Erzählen Sie mir von sich und wie Sie zu der Ehre kommen, Detektivin Fuchs in ihrer Detektei zu vertreten?»

Sie erzählte ihm von ihrem Kriminalistik-Studium, ihrem Praktikum in der Anwaltskanzlei ihres Vaters in Italien und berichtete von der Reise ihrer Tante Carla. Rossi war im Tessin aufgewachsen und nach der Scheidung ihrer Eltern bei ihrer Mutter in der Schweiz geblieben. Ihr akzentfreies Deutsch, begründete sie auf seine Nachfrage mit ihrer deutschsprachigen Mutter, die viel Wert darauf gelegt hatte, dass Romy neben dem Italienisch, Schulfranzösisch und Englisch, ein perfektes Deutsch spreche. «Um Menschen zu kennen, musst du ihre Sprache verstehen», pflegte ihre Mutter stets zu sagen. Peckard pflichtete ihr bei und zeigte sich angetan von Rossis sprachlicher Begabung, wo er selbst neben dem Schweizer Dialekt nur die deutsche Sprache sprechen und auch diese nur halbwegs beherrschen würde.

 

«Wie gefällt es Ihnen in der deutschsprachigen Schweiz?»

«Die Sprache macht für mich nicht der Unterschied. Ich bin dankbar, in der schönen Schweiz zu leben.»

Rossi entdeckte etwas Hämisches in seinem Gesichtsausdruck, das gleich wieder verschwand und von Ernsthaftigkeit überschattet wurde. Seine Mimik wirkte kontrolliert. Überhaupt vermittelte er nicht den Eindruck, die Dinge dem Zufall zu überlassen.

«Die Mitarbeiterin, von der ich am Telefon gesprochen habe. Ihr Name ist Emilia. Emilia Rodriguez.»

Wortlos streckte er Rossi ein Foto entgegen. Auf dem Bild war eine reizende junge Frau mit strahlendem Lächeln zu sehen, die Esprit und Lebensfreude versprühte.

«Eine Südländerin?»

Er nickte. «Ihre Familie stammte ursprünglich aus Spanien. Frau Rodriguez ist seit Anfang dieser Woche nicht zur Arbeit erschienen. Wir haben mehrmals vergeblich versucht, sie zu erreichen.»

«Sie hatten es am Telefon erwähnt.»

«Richtig. Erst dachte ich, sie sei krank. Aber dann …» Peckard sprach nicht weiter.

«Verstehe, Ihre Mitarbeiterin wird vermisst. Was ist mit der unbekannten Toten im Wald. Könnte es sich dabei um Frau Rodriguez handeln?»

Er zuckte lediglich mit den Schultern. Weder erschien er ihr ernsthaft besorgt noch konnte sie ihm irgendeine andere Gefühlsregung entnehmen. Ihn zu ergründen, würde Zeit in Anspruch nehmen.

«Liegt die Vermutung nicht nahe?»

«Zugegeben, ein Zusammenhang scheint mir gegeben. Fakten habe ich keine, lediglich eine böse Vermutung.»

Aus seinem Jackett holte er einen prallen, weißen Umschlag und schob ihn über den Tisch mit der Bemerkung: «Herauszufinden, was mit Emilia Rodriguez wirklich geschehen ist, ist Ihr Auftrag.».

Romy Rossi öffnete das Couvert. Darin steckte Bargeld. Die Summe war schwindelerregend hoch.

4

Mordverdacht

Wer sich nicht an die Regeln hielt, flog gnadenlos raus. Für härtere Fälle gab es Hausverbot – für immer. Der Mann, der dafür verantwortlich war, war Antonio Rodriguez, Türsteher und Sicherheitsverantwortlicher des Stadtzürcher In-Clubs.

Im berühmt-berüchtigten Szeneclub schlüpften die Schönen und Reichen aus ihren Alltagsrollen und zeigten sich von einer Seite, die niemals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden durfte. Antonio Rodriguez kannte sie alle – und jeder kannte Antonio.

Die vergangene Nacht an der Türe war anstrengend gewesen, der Club knallvoll. Stets hoch konzentriert, hatte Antonio die Leute unter Kontrolle gehalten, bis auf eine Situation, als er in einem Streit unter zwei Jungs dazwischen gehen musste. Ein Kraftakt an sich ohne weiterführende Konsequenzen, dachte er.

Es war bereits sieben Uhr in der Früh und unmittelbar nach beendeter Nachtschicht, als sich ein Anrufer auf seinem privaten Mobiltelefon meldete. Der Herr von der Kriminalpolizei erkundigte sich nach seinem Standort. Offenbar gab es etwas Dringendes, das der Polizist mit ihm unter vier Augen besprechen wollte. Um was es sich dabei handelte, verriet er ihm am Telefon nicht.

Antonio zog in Erwägung, dass sich einer der Jungs eine Verletzung zugezogen und die Eltern daraufhin eine Anzeige erstattet hatten. Gedanklich war er noch dabei, den Streit zu rekonstruieren, als der Polizeiwagen in die Einfahrt des Szeneclubs fuhr. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und schritten auf ihn zu.

«Aemisegger, Kriminaloberkommissar bei der Kantonspolizei Zürich. Das ist mein Kollege, Kommissar Köppel.»

Rodriguez nickte den beiden aufmerksam zu. Noch hatte er nicht die geringste Ahnung.

Von der Seite musterte er den jüngeren Kommissar. Als Beschreibung fielen ihm spontan drei Worte ein: Dynamisch, ehrgeizig, arrogant. Köppel befanden sich etwa in demselben Alter wie er, war gleich groß und von sportlicher Statur. Insgeheim beneidete er ihn um sein volles dunkles Haar, während bei ihm die grauen Stellen an den Schläfen dichter wurden und sein Haar weniger.

Um die Veränderung zu kaschieren, rasierte sich Rodriguez die Haare alle zwei Tage und trug aus Überzeugung eine Glatze.

«Können wir ungestört reden?»

«Kommen Sie mit.»

Routiniert öffnete Rodriguez die schwere Metalltüre und führte die beiden Kommissare bei hellem Licht durch den Club. Einige Leute der Reinigungsequipe waren dabei, den Abfall auf dem Boden und den Lounge-Tischen zu beseitigen. Ansonsten war es im Club ruhig geworden.

Antonio stand der Schweiß auf der Stirn. Seine Kehle fühlte sich trocken an. Er wusste innerlich, dass es um etwas Schwerwiegendes handeln musste - und um etwas, das mit ihm zu tun hatte.

Erst als sie im Mitarbeiterbüro angekommen waren, begann Kommissar Aemisegger zu reden: «Wie wir informiert wurden, sind Sie der Bruder von Frau Emilia Rodriguez, geboren am 18. März 1988.»

Die Blicke beider Kommissare waren auf ihn gerichtet. Antonio stockte, die Frage irritierte ihn.

«Richtig, Emilia ist meine Schwester. Kriminalpolizei? Hat Emilia etwas angestellt?»

«Ist es ebenfalls richtig, dass Sie ihr einziger lebender Verwandter in der Schweiz sind?»

«Ja. Unsere Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Aber deswegen sind Sie bestimmt nicht hier.»

Antonio verstand noch immer nicht, was der Kommissar von ihm wissen wollte. Begriffen hatte er, dass die Polizei wegen Emilia hier war und sich nach ihren verstorbenen Eltern erkundigte. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend bemerkbar. Die Situation erinnerte ihn irgendwie an damals, als die Polizei an einem Sonntagmorgen bei ihnen geklingelt und mitgeteilt hatte, dass ihre Eltern tödlich verunfallt waren.

Mit heiserer Stimme befahl er dem Kommissar: «Sagen Sie mir sofort, was mit Emilia los ist! Wo ist sie?»

Die beiden Kommissare wechselten wortlos ihre Blicke.

«Ihre Schwester wurde tot aufgefunden. Der Leichnam wird derzeit obduziert.»

Antonio fühlte den Druck im Brustkorb, sein Herz pochte laut und die Hände waren eisigkalt. Die Nachricht fuhr ihm durch Mark und Bein. Er schnappte nach Luft.

«Sind Sie in der Verfassung, uns Fragen zu beantworten?»

Wohl hörte Antonio den Kommissar sprechen, doch war er unfähig, auf ihn einzugehen. Der Schock sass tief. Benommen flüsterte er: «Sind Sie sich wirklich sicher?»

«Inzwischen ja. Zu Beginn war die Identität der Leiche noch unklar. Erst gestern kam die entscheidende Wende. Ein Waldhüter ist auf eine Tasche gestossen. Sie hatte sich in einem Zweig eines Busches verfangen – nur etwa hundert Meter vom Leichenfundort entfernt. Der Bach hatte die Tasche wohl mitgerissen. Wir konnten die Ausweispapiere sicherstellen und die Tote im Wald anhand der Ausweisfotos identifizieren. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um Emilia Rodriguez handelt.»

«Davon will ich mich selber überzeugen!»

«Selbstverständlich, Herr Rodriguez. Möchten Sie uns zwecks Identifizierung begleiten?»

«Nein, auf keinen Fall. Das würde mir viel zu nahe gehen. Ich würde es nicht ertragen, ihren Leichnam zu sehen.»

«Ja, klar, das verstehe ich. Aber wir können Ihnen die Aufnahmen zeigen, falls das für Sie erträglich ist.»

Vorsichtig drehte Antonio den Kopf und schaute auf das erste Bild und drehte sich schnell wieder weg. Mit wackliger Stimme bestätigte er dem Kommissar: «Das ist sie.»

«Gemäß unserer Rechtsmedizin lag Frau Rodriguez etwa vier Tage tot im Wald, bevor ihre Leiche vor einigen Tagen entdeckt wurde.»

Feingefühl war keine Eigenschaft, die Kommissar Aemisegger besaß. Eher pragmatisch informierte er Rodriguez über die wenigen Details, die ihm zum aktuellen Ermittlungsstand vorlagen.

«Als Todeszeitpunkt wurde der Samstag, 13. August, zwischen 21.30 und 22.00 Uhr festgestellt. Wir gehen davon aus, dass sie von einem Fels gestürzt und rund zehn Meter in die Tiefe gefallen ist.»

«Wo soll das passiert sein?»

«In einem Wald im Zürcher Oberland.»

War es Wut, war er traurig? Er wusste es nicht. Antonio fühlte sich schwermütig und leer.

«Klingt für mich völlig absurd. Woran ist sie gestorben?»

Dazu äußerte sich Kommissar Aemisegger knapp: «Gemäß dem aktuellen Stand der Ermittlungen hat sie sich bei einen Sturz von einem Felsen tödliche Verletzungen zugezogen. Die Rechtsmedizin geht davon aus, dass Emilia Rodriguez nach dem Aufprall maximal noch zehn Minuten gelebt hat, bevor sie ihren Verletzungen erlegen ist.»

«Ersparen Sie mir die weiteren Details.» Antonio hörte, wie seine Stimme zitterte.

«Die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, sind derzeit noch unklar. Bis jetzt gibt es nur wenig Anhaltspunkte. Wegen der heftigen Regenfälle wurden die Spuren verwischt, so dass wir die Abrutschstelle nicht eindeutig eruieren konnten. Wissen Sie vielleicht, hatte Ihre Schwester Probleme?»

Für Antonio war jedes Wort vergleichbar schmerzhaft mit einem heftigen Faustschlag in den Magen. In seiner Wut kämpfte er dagegen.

«Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass meine Schwester Selbstmord verübt hat, dann vergessen Sie das gleich wieder. Meine Schwester hätte sich niemals freiwillig vom Felsen gestürzt. Genauso wenig wie sie sich fahrlässig in die Situation begeben würde, einen Unfall zu verursachen. Jemand muss sie hinuntergestoßen haben.»

«Tatsächlich gibt es einige Ungereimtheiten. Möglicherweise hatte sie eine körperliche Auseinandersetzung oder sie wurde von jemandem festgehalten.»

«Sag ich doch. Es bestehen keine Zweifel: Emilia wurde ermordet!»

«Ihre Theorie können wir zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigen noch ausschließen.»

«Wehe dem, der Emilia das angetan hat. Ich schwöre, dem mache ich das Leben zur Hölle!»

«Sie unternehmen nichts, Herr Rodriguez. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen!»

Nach einem Moment unangenehmer Stille nahm Kommissar Aemisegger den Gesprächsfaden wieder auf und fragte: «Hatte Emilia Rodriguez Streit mit jemandem?»

«Hören Sie auf! Sie wollen es nicht verstehen: Emilia war sehr beliebt. Sie hatte alles, wovon andere in ihrem Alter träumen. Emilia war bildschön, intelligent und sie verdiente ihr eigenes Geld. Natürlich gab es solche, die neidisch auf sie waren. Ihre Arbeitskollegin zum Beispiel, die Sophie. Mit ihr lag sie in dauerndem Zickenkrieg. Nicht, dass ich der einen Mord zutrauen würde. Oder würden Sie jemanden töten, nur weil sie neidisch sind?»

«Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand aus Neid getötet wird.»

Rodriguez war reflektiert genug, um sein anfänglich störrisches Verhalten – wenn auch aus einem Leidensdruck heraus entstanden – zu korrigieren, um sich den Ermittlungsarbeiten nicht in die Quere zu stellen. Doch das fiel ihm außerordentlich schwer. Er musste sich Luft verschaffen.

Kommentarlos stand Rodriguez auf und kam sogleich mit drei Flaschen Wasser zurück. Zunächst setzte er sich auf einen Stuhl und strich mit beiden Händen über seine rasierte Glatze, bis zum Hinterkopf, wo er seine Hände verschränkt hielt. Aus dieser Perspektive starrte er auf die blaulackierten Röhren der Wasserleitung an der Industrie-Decke und informierte die Herren der Kriminalpolizei vorausschauend: «Falls Sie wissen wollen, wann ich Emilia das letzte Mal gesehen habe – das war vorletzte Woche, am Freitag, dem 12. August. Sie wollte bei mir übernachten. Um einundzwanzig Uhr bin ich zur Arbeit. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen oder von ihr gehört.»

Nach kurzem Besinnen fügte Antonio hinzu: «Was nicht ungewöhnlich ist. Emilia ist eine selbständige, erwachsene Frau. Oder besser gesagt: sie war es.»

«Kam das öfters vor, dass Ihre Schwester bei Ihnen übernachtete?», wollte Köppel wissen.

«Immer dann, wenn es für sie praktisch war. So war es auch am 12. August. Am nächsten Tag fand ein Ausflug statt.»

Das schrille Klingeln von Kommissar Aemiseggers Mobiltelefon unterbrach das Gespräch. Aemisegger hielt sich knapp, so dass nichts aus seinen Worten oder Gebärden abzuleiten war. Anschließend an das Gespräch informierte er Köppel: «Der Kollege aus der Forensik meldet soeben, dass ein roter Damenschuh gefunden wurde. Wir gehen davon aus, dass es sich um den Schuh des Opfers handelt.»

«Man hat nur einen Schuh gefunden?», wollte Köppel wissen.

«Ja. Den linken Schuh. Nach dem rechten wird derzeit gesucht.»

 

Rodriguez bestätigte: «Ich erinnere mich. Meine Schwester trug am 12. August rote Pumps.»

Konzentriert zupfte Aemisegger die Kringel seines Schnurrbarts spitz: «Sie sagten vorhin: Ausflug?»

Die Antwort kam prompt: «Was weiss ich, das habe ich lediglich aufgeschnappt. Verstehen Sie denn nicht; meine Schwester war erwachsen. Sie tat, was sie für richtig hielt und liess sich von niemandem ins Zeug reden. Auch nicht von mir.»

«Beruhigen Sie sich! Niemand ist Ihr Feind, wir schon gar nicht.»

Auch Kommissar Köppel war nicht empathischer als sein Chef: «Darf ich Sie fragen, wo Sie sich am Samstagabend aufgehalten haben?»

«Das fragen Sie mich aber nicht im Ernst?»

«Doch. Wo waren Sie am Samstagabend?»

«Im Club.»

«Das werden wir überprüfen.»

«Volltrottel!»

Kommissar Aemisegger schritt dazwischen. «Meine Herren, so kommen wir nicht weiter.» Er blickte scharf zu seinem Kollegen, der den Wink sofort verstand – und wandte sich anschließend an Antonio Rodriguez:

«Bitte denken Sie nach, Herr Rodriguez. Jede Information könnte hilfreich sein.»

Rodriguez sah ein, dass er sich kooperativ verhalten musste, alles andere wäre unvernünftig gewesen.

«Ich erinnere mich, dass sie am Samstag, dem 13. August, mit ihren Arbeitskollegen unterwegs war.» Antonio dachte kurz nach: «Ja, genau so war es, sie wollte zum alljährlichen Firmenausflug.»

Sofort wurden die Kommissare hellhörig. Herr Köppel vergewisserte sich motiviert: «Firmenausflug, sagten Sie? Bei welcher Firma hat Ihre Schwester gearbeitet?»

«Im Landgasthof von Sebastian Peckard. Ihm gehört auch der Club.»

«Sebastian Peckard? Der prominente Unternehmer?»

Antonio Rodriguez nickte.

«Der ist uns aus den Medien bekannt.»

«Er ist mein Chef.»

«Wir werden Sebastian Peckard einen Besuch abstatten und Ihre Angaben überprüfen. Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.»

Nachdem die Kommissare den Club verlassen hatten, fühlte sich Antonio Rodriguez erschlagen. Die Nachricht hatte ihn bis ins Innerste getroffen. Die Erinnerung an die letzte Begegnung mit seiner Schwester schmerzte ihn. Noch hatte er den Kommissaren verschwiegen, dass er sich mit seiner Schwester am 12. August heftig gestritten hatte. Dabei war es wieder um ihr Outfit gegangen. Einmal mehr hatte er seine Schwester auf ihr viel zu knappes Minikleid aufmerksam gemacht. Er wusste, wie sehr er Emilia verletzt hatte, als er sie wegen ihrer Klamotten als nuttig und billig betitelt hatte.

5