unglückselig verdammt

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Sharon Lee

unglückselig verdammt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 0 - Das Drecksloch

Kapitel 1 - Maya Hartmann

Kapitel 2 - Verkauft

Kapitel 3 - Giulio Bonfortuni

Kapitel 4 - Falsche Richtung

Kapitel 5 - Der Brief

Kapitel 6 - Der milde Richter

Kapitel 7 - Die Antwort

Kapitel 8 - Der leibliche Vater

Kapitel 9 - Kampfhunde auf dem Dach

Kapitel 10 - Kicken am Platzspitz

Kapitel 11 - Neugier auf das Unbekannte

Kapitel 12 - Auf der Reeperbahn

Kapitel 13 - Die Kartons vom Frachthafen

Kapitel 14 - Botschaft an Matteo

Kapitel 15 - Tabak und Pistole

Kapitel 16 - Unter Kontrolle

Kapitel 17 - Die Frau im blauen Haus

Kapitel 18 - Tiefer Blick ins Dekolleté

Kapitel 19 - Mord aus Rache

Kapitel 20 - Unterjocht

Kapitel 21 - Schweigen aus Angst

Kapitel 22 - Kalt wie Stahl

Kapitel 23 - Missbraucht

Kapitel 24 - Doppelmoral

Kapitel 25 - Preis der Freiheit

Kapitel 26 - Sexgeschäft und Drogen

Kapitel 27 - Tief im Sumpf

Kapitel 28 - Der Verrat

Kapitel 29 - Operation

Kapitel 30 - In der Schuld der Mafia

Impressum neobooks

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 0 - Das Drecksloch - 9 -

Kapitel 1 - Maya Hartmann - 19 -

Kapitel 2 - Verkauft - 25 -

Kapitel 3 - Giulio Bonfortuni - 31 -

Kapitel 4 - Falsche Richtung - 41 -

Kapitel 5 - Der Brief - 45 -

Kapitel 6 - Der milde Richter - 53 -

Kapitel 7 - Die Antwort - 61 -

Kapitel 8 - Der leibliche Vater - 65 -

Kapitel 9 - Kampfhunde auf dem Dach - 71 -

Kapitel 10 - Kicken am Platzspitz - 75 -

Kapitel 11 - Neugier auf das Unbekannte - 85 -

Kapitel 12 - Auf der Reeperbahn - 89 -

Kapitel 13 - Die Kartons vom Frachthafen - 105 -

Kapitel 14 - Botschaft an Matteo - 113 -

Kapitel 15 - Tabak und Pistole - 125 -

Kapitel 16 - Unter Kontrolle - 131 -

Kapitel 17 - Die Frau im blauen Haus - 137 -

Kapitel 18 - Tiefer Blick ins Dekolleté - 139 -

Kapitel 19 - Mord aus Rache - 143 -

Kapitel 20 - Unterjocht - 149 -

Kapitel 21 - Schweigen aus Angst - 151 -

Kapitel 22 - Kalt wie Stahl - 159 -

Kapitel 23 - Missbraucht - 167 -

Kapitel 24 - Doppelmoral - 175 -

Kapitel 25 - Preis der Freiheit - 183 -

Kapitel 26 - Sexgeschäft und Drogen - 191 -

Kapitel 27 - Tief im Sumpf - 195 -

Kapitel 28 - Der Verrat - 199 -

Kapitel 29 - Operation - 203 -

Kapitel 30 - In der Schuld der Mafia - 207 -

Kapitel 0 - Das Drecksloch

Die fürchterlichen Schmerzen im Genitalbereich erinnerten sie an die Höllenqualen, die sie wieder durchlebt hatte. Maya Hartmann konnte sich kaum bewegen, ohne die Verletzung zwischen ihren Beinen zu spüren. Hilflos kauerte sie in der Ecke auf der löchrigen Matratze und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Ihre Zelle war winzig. Zwei Meter waren es von ihrer Matratze bis zur Tür. Zigmal hatte Maya den Türgriff gedrückt, gerüttelt und in die Holztür getreten. Ein Akt der Verzweiflung, doch nichts half, um aus dem Elend zu entkommen. Matteo hatte sie unter seiner Kontrolle. Als wären die dauernden Demütigungen nicht schon schlimm genug, Maya konnte es nicht mehr hören. Sie hätte es nicht anders verdient, als in diesem Drecksloch zu sitzen. Sie einzusperren, sei lediglich zu ihrem Schutz.

Maya hasste seine dreckigen Hände, seine Stimme und seinen bissigen Körpergeruch, dem sie sich nicht entziehen konnte, wenn er ihr wieder einmal näher kam.

Noch war sie mental stark, stärker als ihr krimineller Cousin.

Durch die Luke drang nur wenig Licht. Stundenlang hatte Maya gegrübelt, wie sie sich befreien könnte. Vielleicht hätte sie es gerade noch geschafft, sich durch das fünfzig Zentimeter breite Fenster zu quetschen und auch die schmutzige Fensterscheibe hätte sie leicht mit einem Stoß in Tausend Splitter schlagen können. Das Problem aber waren die zwei Eisengitterstäbe, die fest im Gemäuer steckten. Fliehen war aussichtslos. Die einzige Möglichkeit war, mit der Bande um Matteo zu kooperieren, Maya sollte ihre Seele verkaufen und Dinge tun, von denen sie zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass sie existieren. Soweit war sie noch nicht.

Also begann sie erneut die Türe ins Visier zu nehmen, und dachte angestrengt nach, wie sie die Flucht schaffen könnte.

Mit ihrer steifen Hand strich sich Maya wieder die Strähne aus dem Gesicht und fühlte den nasskalten Schweiß in ihrem Haar. Und dann war noch dieser moderige, grässliche Geruch, eine Mischung von abgestandenem Urin und Schimmelkäse, was bei ihr einen latenten Brechreiz auslöste.

Man hatte sie eine Verräterin genannt und zur Strafe eingesperrt. So tief war sie inzwischen gesunken. Vor einem Jahr noch, war Maya Hartmanns Leben ein völlig anderes. Sie stammte aus einer ordentlichen Familie und hatte eine gute Erziehung genossen. Ihre Großeltern hatten sie das Wesentliche gelehrt, um auf eigenen Beinen zu stehen und Maya schätzte ihre Unabhängigkeit sehr. Sie war klug, hübsch und voller Energie. Doch sie hatte einen Fehler gemacht. Hätte sie doch nur auf ihren Großvater gehört, dann wäre sie nicht in dieses Elend geraten, sie befand sich in einer geradezu aussichtslosen Situation.

Dabei wollte sie doch nur wissen, warum ihre Mutter Karin vor vielen Jahren hatte sterben müssen. Zugegeben, Maya hatte durchblicken lassen, dass sie nicht an die Unfallversion glaubte und hatte sich sehr erhofft, dass ihr leiblicher Vater Giulio ihr die ganze Geschichte erzählen würde. Stattdessen schwieg er und versuchte die Wahrheit zu vertuschen. Am meisten aber schmerzte sie, dass er sie an ihren Cousin Matteo verraten hatte. Man hatte ihr die Würde genommen, ihr eigener Vater wollte das so. Und nun gab es für Maya kein Zurück mehr. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte, ob sie jemals in die Schweiz kehren würde oder hier in diesem Elend verrecken würde.

Wieder fiel sie in einen Dämmerschlaf. Ihre Augen waren weit geöffnet mit starrem Blick ins Leere. Sie lag einfach nur da, in dieser elenden Zelle, irgendwo im abgelegenen Santa Berta, einer Gemeinde in Apulien.

Maya begann zu halluzinieren und sah, wie die Leere sich mit Wasser füllte. Ihr Mund war trocken. Sie schluckte leer. Wasser gab es hier nicht. Seit Stunden hatte Maya nichts getrunken, ihr Hals schmerzte und ihre Brust wurde immer enger, so dass sie kaum atmen konnte.

Das, was sie eben noch als Wasser wahrgenommen hatte, färbte sich plötzlich in Rot, es war Blut, sehr viel Blut, das sich wellenartig auf sie zu bewegte. Eine Unmenge davon floss aus der Leere, und Maya stellte sich vor, wie es bachweise die Straße hinunterfloss. War es das Blut des zerstrittenen Familienclans – oder war es gar ihr eigenes? Sollte sie etwas davon trinken, um ihren Durst zu stillen? Ihr Mund war bereits völlig ausgetrocknet und ihr Verlangen nach Flüssigkeit wurde noch stärker.

 

Dann plötzlich hörte sie einen schrecklichen Knall. Maya zuckte zusammen. Es klang ganz nach einem Schuss. Panik machte sich in ihr breit.

Hatte sie den Schuss wirklich gehört oder bildete sie sich ihn nur ein? War sie wach, oder war das alles nur ein schrecklicher Traum?

Mit ihren steifen Händen strich sie sich übers Gesicht, wieder fühlte sie den nasskalten Schweiß. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie.

Sie wollte unbedingt wach bleiben, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Denn immer dann, wenn sie in den Schlaf sank, erlebte sie diese grauenvollen Träume, aus denen sie panisch hochschreckte, klitschnass und verspannt.

Drei Mal schon hatte sie von ihrer verstorbenen Mutter geträumt, und je öfter dies geschah, desto deutlicher wurden die Bilder. Inzwischen konnte sie erste Zusammenhänge deuten. Noch sah sie die Klippe unscharf, doch sie schreckte jedes Mal mit Herzrasen aus dem Schlaf. Sie war noch nicht stark genug gewesen, alles bis zum Schluss fertig zu träumen, und doch wollte sie wissen, wie der Traum endete. Es war ihr schmerzhafter innerer Kampf gegen ihre Ängste, gegen sich selbst – aber für die Wahrheit.

Wieder begann Mayas Vision mit der Erinnerung an ihre Mutter, Karin Hartmann. Das Gesicht ihrer Mutter war jung, Maya ähnelte ihr sehr, als wären sie ein und dieselbe Person.

Auch jetzt beschlich Maya ein warmes Gefühl, ihr ganz nahe zu sein.

Der Traum war unheimlich, fast real und Maya schauderte beim Gedanken, dass sie den Atem ihrer Mutter spüren könnte. Dabei war es nur der Luftzug, der durch die Luke in die Zelle drang.

Verwirrt horchte Maya in den Raum. Doch da war niemand in der Zelle, außer Maya selbst. Sie halluzinierte, ihre Mutter würde anstatt ihrer selbst auf der löchrigen Matratze. Maya sah sie im Traum erneut vor sich mit zerzaustem Haar und einem schmutzigen Gesicht. Maya sah fürchterliche Angst in ihren Augen.

Sich länger gegen die Wahrheit zu wehren, ging nicht mehr. Im Schlaf sah Maya, wie ihre Mutter und ein Mann namens Pietro in rasender Geschwindigkeit über die Landstraße donnerten.

Pietro hielt das Steuerrad in festem Griff. Schweißperlen rannen ihm über den Nacken, er war hochkonzentriert, als stünde er unter enormer Anspannung. Pietro bangte um sein Leben und um das von Karin Hartmann. Er hatte den Schwur gebrochen und sich gegen den Willen des Oberhauptes der süditalienischen Mafia gestellt.

Er war es, der Karin vor wenigen Minuten aus dem Verließ befreit hatte, aus derselben Zelle, in der jetzt Maya gefangen war.

Erschöpft von der Zeit im Verließ, sprach Karin nur wenig. Sie war voller Angst, doch noch klammerte sie sich an die Hoffnung, ihre kleine Tochter Maya, die sie zuhause in der Schweiz gelassen hatte, bald wieder in den Armen zu halten. Wenn sie überhaupt etwas sagte, dann erwähnte sie den Namen Maya oder sie bedankte sich bei Pietro für seinen Mut, sie aus der Zelle befreit zu haben, mit dem Wissen, dass er sein Leben für sie riskierte. Und die Gefahr war nicht vorbei. Erst wenn sie Schweizer Boden unter ihren Füssen hätte, wäre sie in Sicherheit.

Pietro wirkte nervös, und Karin folgte seinem Blick in den Rückspiegel. Niemand schien hinter ihnen zu sein, also versuchten sie, sich etwas zu entspannen. Aus dem Radio dröhnte italienische Musik.

Das grelle Licht machte Karin arg zu schaffen. Sie hatte die Tage zuvor im halbdunklen Raum verbracht. Als sie heute Morgen im Drecksloch erwacht war, durstig, apathisch, steckte in ihr die blanke Angst. Auch wenn sie die Hoffnung nie aufgegeben hatte, so wirklich hatte sie nicht mehr daran geglaubt, dass sie das hier überleben würde.

Vor Wochen war sie mit den besten Vorsätzen nach Santa Berta gereist. Sie wollte es gut machen und sich mit dem leiblichen Vater ihres Kindes versöhnen. Denn wenn Maya einmal Fragen stellen würde, wollte Karin diese nicht unbeantwortet lassen.

Giulio hatte sich bei Karins Ankunft sehr gefreut und ständig versichert, dass er für Maya alles tun werde. Die anfängliche Überschwänglichkeit war aber rasch verflogen. Nach wenigen Tagen war es bereits zu einem heftigen Streit gekommen. Giulio war handgreiflich geworden und beleidigend. In diesem schlimmen Moment fasste Karin den Entschluss, dass Giulio seine Tochter Maya nie zu Gesicht bekommen würde und ärgerte sich über ihre eigene Naivität, ihrem Ex erneut vertraut zu haben. Doch leider war es bereits zu spät.

Karin blickte zu Pietro, der in hohem Tempo auf die Küste zu fuhr. Weit und breit war kein Wagen oder Motorrad zu sehen oder zu hören. Das war nicht verwunderlich, machten doch auch hier die Menschen, wie in den meisten Ländern des Südens, um die Mittagszeit Siesta. Es war bereits die dritte Wasserflasche, die Karin öffnete und zum Trinken ansetzte.

Vor ihnen lag das Meer, zum Hafen war es nur noch ein kleines Stück, unweit davon lag auch der einzige größere Bahnhof der Region.

Mit durchgedrücktem Gaspedal steuerte Pietro auf die Kurve zu, um dann gleich links einzubiegen. Die Küstenstraße verlief den Felsen entlang, die hoch über dem Meer aufragten. Leitplanken waren nur streckenweise angebracht oder lagen angefahren am Straßenrand. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, die Abgrenzungspfeiler wieder ordnungsgemäß hinzustellen.

Nur noch wenige Meter bis zur Kurve, Pietro bremste, um das Tempo zu drosseln. Stark verwundert drückte er erneut das Bremspedal, diesmal kraftvoller und komplett durch.

Hitze stieg in ihm auf, der Schweiß tropfte über sein Gesicht. Die Situation schien ernst zu sein. Auch Karin wurde es plötzlich unwohl: «Bremsen, Pietro, bremsen!», schrie sie ihn an.

«Geht nicht!», schrie er zurück. Die Bremsen hatten versagt.

In bedrohlicher Geschwindigkeit raste der Wagen in die Kurve, und Pietro drehte das Steuer mit aller Kraft nach links. Gleichzeitig riss er die Handbremse hoch.

Karin schrie um ihr Leben.

Pietro brüllte: «Jemand hat die Bremsen manipuliert! Man will uns umbringen! Verdammt nochmal, stell endlich die Musik aus!»

Von da an ging alles sekundenschnell. Der Wagen schaffte die Kurve nicht, geriet im Temporausch von der Straße und schleuderte direkt auf die Klippe zu, bis über das Felsplateau. Zehn Meter waren es noch bis zum Abgrund.

Pietro konnte nichts mehr tun. Karin riss panisch an der Wagentür, aber die ließ sich nicht öffnen. Der Wagen raste direkt über die Felskante in die Weite, dann kippte er kopfüber und stürzte in die Tiefe.

Es war aus. Niemand würde den Fall in die Tiefe überleben. Ihre Schreie der Angst verhallten in den Felsen, als der Wagen auf den Meeresgrund sank.

Das Bild von Karins verschmutztem Gesicht und zerzaustem Haar und die Schreie des Todes hallten in Mayas Kopf.

Maya erwachte schlagartig aus ihrem Traum und hörte ihr eigenes Herz laut pochen. Sie atmete kurz und schnell, schnappte dazwischen ängstlich nach Luft. Ihr Pyjama war tropfnass, der Hals wie zugeschnürt. Mit zittrigen Händen ertastete sie ihr Haar, und wie erwartet war es klitschnass.

Kapitel 1 - Maya Hartmann

Wenige Jahre zuvor hatte Maya nicht im Geringsten geahnt, dass sich ihr Leben schlagartig ändern würde und danach nichts mehr sein sollte, wie es war. Sprach man sie auf ihre Kindheit an, senkte sie ihren Blick und lächelte verlegen. Aufgewachsen war sie bei ihren Großeltern in der Nähe von Zürich. Die Familie Hartmann lebte in gutbürgerlichen Verhältnissen, so dass es ihr an Materiellem nie gefehlt hatte. Doch kein Geld der Welt half Maya über den Verlust ihrer Mutter hinwegzukommen. Es war für alle ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, als Karin Hartmann plötzlich aus ihrer Mitte gerissen worden war.

Alles, was Maya vom Tod ihrer Mutter wusste, stammte aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Sie sei Ende der Siebzigerjahre in den Süden Italiens gereist, um sich noch einmal mit ihrem Ex-Freund zu treffen, ein Wiedersehen mit ihrer Jugendliebe und dem Vater ihrer Tochter, von dem sie sich noch vor Mayas Geburt getrennt hatte.

Als Karin ihre Eltern damals vor die Tatsache gestellt hatte, sie werde mit ihrem Baby nochmals nach Süditalien reisen, hatte Josef Hartmann interveniert und gar den Streit mit seiner Tochter nicht gefürchtet. Doch sie war stur geblieben. Gegen den Willen ihrer Eltern war Karin eines Nachts heimlich losgefahren. Nur in einem Punkt hatte sie auf Druck nachgegeben: Sie hatte die kleine Maya bei den Großeltern zurückgelassen.

Zwei Wochen später sollte ihre Rückkehr sein, aber Karin war nicht nach Hause gekommen. Auch eine Woche danach war sie noch immer nicht aufgetaucht und selbst nach zwei weiteren Monaten fehlte jede Spur von ihr.

Mayas Großvater hatte die Umstände von damals so beschrieben: Nachdem sie kein Lebenszeichen von ihrer Tochter vernommen hatten, hätten sie schnell die Befürchtung gehabt, ihr könnte etwas zugestoßen sein. Denn niemals hätte sie das Baby einfach so verlassen, Karin hätte sich zuhause gemeldet. Also hatten sie die Polizei verständigt und die dazumal fünfundzwanzig Jahre alte Tochter als vermisst gemeldet.

Es seien drei lange Wochen vergangen ohne eine Nachricht der Polizei. Aber dann, an einem regnerischen Nachmittag, hatte es plötzlich an der Türe geklingelt. Mayas Großvater erinnerte sich immer wieder an den einschneidenden Moment, als die beiden Polizisten das Haus betraten und er vom ersten Augenblick an wusste, dass er seine Tochter nie wieder lebend sehen würde.

Auf Vorstoß der Schweizer Polizei, die sich mit der Vermisstenanzeige an die Kollegen in Süditalien gewandt hatte, waren die Ermittlungen ins Rollen gekommen.

Gemäß Rapport an die Zürcher Kollegen war Karin bei einem Überholmanöver in überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und die Klippe hinuntergestürzt. Dabei waren sie und eine weitere Person tödlich verunglückt.

Mehr wusste Maya nicht, auch nicht über den tragischen Unfall. Es waren immer dieselben alten Geschichten, die sie erzählt bekam. Mehr gab es nicht, außer der Frage, was wohl gewesen wäre, wenn Karin ihr Baby damals nach Italien mitgenommen hätte. Vielleicht wäre sie heute noch am Leben. Aber genauso gut hätte es sein können, dass auch Maya beim Autounfall gestorben wäre.

Ihre Großeltern hatten damals eine schwere Zeit und unter dem Schicksalsschlag gelitten. Josef Hartmann arbeitete unaufhörlich, um sich von seinem Schmerz abzulenken, und auch seine Frau war nie über den Verlust hinweggekommen. Lange Jahre war sie depressiv gewesen und irgendwann hatte sie aufgehört mit dem Essen. Maya und ihr Großvater standen der Situation hilflos gegenüber und taten alles, um Großmutters Leiden zu lindern. Helfen konnten sie ihr nicht.

In dieser Phase kamen bei Maya immer wieder die Gedanken an ihren leiblichen Vater auf. Sie sehnte sich nach ihm, obwohl sie ihn nicht kannte. Von ihm wusste sie nichts, weder wie er ausschaute noch wie alt er war. Sie vermutete, dass er einmal in Süditalien gelebt hatte. Aber auch das war nur eine Idee. Einmal hatte sie es gewagt und ihren Großvater auf das Thema angesprochen – und es gleich wieder bereut. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.

Erst Jahre später unternahm Maya einen weiteren Anlauf, um an Informationen über ihren Vater heranzukommen. Diesmal suchte sie das Gespräch mit ihrer Großmutter.

Vielleicht hätte diese ihr etwas über ihren Vater erzählt, wenn Großvater nicht eingeschritten wäre.

Auf die Frage, weshalb er wütend auf Mayas Vater sei, antwortete er knapp: «Der Mann ist für uns gestorben. Er existiert nicht.»

Mit dieser Wahrheit hatte Maya ihr Leben lang gelebt: Ihre Mutter war tot und ihr Vater war für ihre Familie gestorben. Ob er wirklich tot war, das sollte sie nicht erfahren. So wollte es Mayas Großvater und dabei war es auch geblieben.

 

Als wäre das alles nicht schon genug an Schicksalsschlägen gewesen: Einige Jahre später, als Maya gerade sechzehn war, starb ihre Großmutter an einem Herzstillstand. Sie war am Abend zuvor normal zu Bett gegangen und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufgewacht.

Mit dem Tod seiner Frau änderte sich das Leben von Mayas Großvater schlagartig. Er war nie mehr derselbe. Mit seinem Gesundheitszustand ging es stetig abwärts. Zeitweise versank er im Alkohol, vernachlässigte soziale Kontakte und klagte über immense körperliche Schmerzen. Es kam soweit, dass Maya nach der Schule den Haushalt führen musste, neben dem, dass sie für ihre Prüfungen büffelte und sich stundenlang die Leiden ihres alkoholisierten Großvaters anhörte.

Erst einige Jahre später hatte sie das Gröbste ihrer Krise hinter sich gebracht und neue Lebensfreude geschöpft. Mit dem Abschluss der Weiterbildung begann ein neuer Abschnitt und endlich schien es aufwärts zu gehen mit ihrem Leben. Maya war voller Zuversicht und stand mit ihren fünfundzwanzig Jahren auf eigenen Beinen. Sie war stolz auf das, was sie bisher erreicht und wofür sie sehr hart gearbeitet hatte: Ihre Unabhängigkeit. Zu dieser Zeit lernte Maya ihren Freund Thomas kennen und lieben. Thomas zählte zu den ganz wenigen, denen Maya wirklich vertraute. An ihm schätzte sie besonders seinen Humor und sein ausgeglichenes Wesen. Er war ein Ruhepol, ein Fels in der Brandung: Thomas war der wichtigste Teil in Mayas Leben.

Trotz allem waren Stunden der Traurigkeit immer noch präsent. Stärker denn je sehnte sich Maya danach, mehr über ihren Vater und ihre Herkunft zu wissen. Auch auf die Gefahr hin, dass er bereits tot war - Mayas Fragen nach ihren Wurzeln nahmen schleichend überhand in ihrem Gefühlsleben. Zum Beispiel war sie sich sicher sie würde ihrem Vater sehr ähnlich sehen. Den südländischen Teint, die rehbraunen Augen und die kastanienbraune Mähne hatte sie zweifellos von ihm geerbt, wo doch ihre Mutter Karin hellhäutig war, blonde Haare und blaue Augen gehabt hatte.

Auch wenn es darum ging, was er für ein Typ Mensch sein könnte, war Mayas Fantasie grenzenlos. Nach ihrem Wunschbild, das sie sich von ihm gemacht hatte, war ihr Vater ein sonniger Mensch, ein Mann mit dem typischen Temperament eines charmanten Italieners, vielleicht interessierte er sich für Fußball, oder Radfahren, war erfolgreich in seinem Beruf. In einem Punkt war sie sich sicher: Der unbekannte Mann würde ein liebevoller Vater sein.

Maya war inzwischen erwachsen und ihr innigster Wunsch reifte in einen glasklaren Plan: Sie wollte endlich wissen, wer ihr Vater war.