BIZARR

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Sharon Lee



BIZARR



Mord an der Jungfrau





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Vorspann







Der Fremde am Tisch







Leiche im Beton







Im Zweifelsfalle schuldig







Verräterische Halskette







Die Jungfrau







Verbitterte Freundin







Aussage einer Zeugin







Hinter der Fassade







Kneipengespräch







Grüntee







Gewitter über Bünzigen







Unfall mit Fahrerflucht







Im eisernen Griff







Noch ein Geheimnis







Ein Glas Whisky zuviel







Der Tote im Luxuswagen







Was andere denken







Dämonen im Kopf







Domino







Impressum neobooks







Vorspann

Bizarr ist die Phantasie der Furcht.

Noch bizarrer die des Misstrauens.

(Karl Gutzkow)





Kriminalromane von Sharon Lee





2013 Bitterkalt



2013 Das zerrissene Bild



2013 Drangsaliert



2014 Fleisch und Blut





Der Fremde am Tisch



Bittere Verzweiflung sprach aus seinen Augen, als er sagte: «Ich habe jemanden getötet! Ein Mensch musste sterben, es ist meine Schuld. Was ich getan habe, ist unverzeihlich.»





Hatte sie richtig gehört, Dr. Wiederkehr wollte jemanden ermordet haben? Unmöglich. Sein miserabler physischer Zustand gab Carla Fuchs Anlass zur Besorgnis, und nun fragte sie sich auch, ob es um seinen geistigen Zustand genauso schlimm stand. Sie brauchten sich nichts vorzumachen, die Krankheit hatte ihn fest im Griff. Die kleinste Bewegung, nur schon das Hochheben eines Armes, bedurfte höchster Anstrengung. Der Tod war unausweichlich.





Sie überlegte, wie viel Wahrheitsgehalt sie seiner Aussage beimessen konnte, ob sein Fantasieren auf die Medikamente zurückzuführen oder ob er ganz einfach verrückt geworden war. Andere Erklärungen fand sie nicht. Warum nur wollte er kurz vor seinem Tod einen Mord gestehen? Erdrückte ihn die Schuld oder was verbarg sich hinter der Fassade des Vierundachtzigjährigen?





Die Detektivin zog einen Stuhl heran. Sie bemerkte, dass Dr. Wiederkehr wieder ruhiger atmete und nickte ihm aufmunternd zu:



«Wie kann ich Ihnen helfen?»



«Sie zweifeln an meinen Worten.»



Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage.



«Wenn ich ehrlich sein soll – in der Tat fällt es mir schwer zu glauben, dass Sie ein Mörder sind.»



Genauer gesagt war es für Carla Fuchs unvorstellbar, dass der einstige Sportsfreund ihres Vaters einen Mord begangen haben sollte. Sie kannten sich fast ein Leben lang. Bis zu ihrem Schulabschluss hatte Fuchs im aargauischen Bünzigen gelebt, in derselben Gemeinde wie die Familie Wiederkehr. Die Kontakte zu ihrer alten Heimat hatte sie nie abbrechen lassen und pflegte die alten Freundschaften so gut es ihr Beruf erlaubte, auch zu Dr. Wiederkehrs Sohn Konstantin, der etwa ihren Jahrgang hatte. Nach dem Studium hatte er die Immobilienfirma vom Vater übernommen und etwa zur selben Zeit eine aus der Stadt geheiratet.





Im Allgemeinen zollten die Bewohner von Bünzigen der Familie Wiederkehr Respekt, einige begegnen ihnen mit Ehrfurcht. Andere hatten sich von der Familie abgewendet. Sie wehrten sich gegen den Bauboom und den damit verbundenen Zuzug von Ausländern. Darüber sprach man oft – hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand. Mit wachsender Einwohnerzahl hatte sich auch der ursprüngliche Charakter der Gemeinschaft verändert. Aus dem Dorf wurde eine Kleinstadt, Freundschaften gingen in die Brüche, man schaute verstärkt nur noch für sich selber. Konstantin wurde nachgesagt, er sei ein Nichtsnutz, ein Waschlappen, der sich von seiner Frau die Hörner aufsetzen liesse.





Sekunden der Rückblende vergingen, dann schüttelte Carla Fuchs erneut den Kopf: «So sehr ich mich bemühe, ich kann mich nicht erinnern, dass es in Bünzigen einen Mord gegeben hätte. Sie wollen doch nicht eine Schuld auf sich lasten für einen Mord, den Sie nicht begangen haben?»



«Ich bin wohl sehr krank, doch nicht so verwirrt, dass ich nicht wüsste, wovon ich spreche. Noch etwas: Ich bestehe darauf, Sie grosszügig zu honorieren.»



Fuchs folgte seiner Geste, ihre Augen wanderten zum Nachttisch: eine Thermoskanne stand dort, eine Vase mit Lilien, daneben lag ein schmaler, dick gewölbter Umschlag. Dr. Wiederkehr nickte ihr zu: «Los, stecken Sie ‘s ein!»



Ein beklemmendes Gefühl überkam Carla Fuchs, als sie die vielen Geldscheine erblickte. Nicht, dass sie etwas gegen viel Geld gehabt hätte, doch das konnte sie nicht annehmen. Unvermittelt brachte sie zum Ausdruck, dass sie wohl an ein solides Honorar gewöhnt war, diese Summe jedoch ihre Vorstellung um ein Vielfaches übertraf. Sie hatte noch nicht einmal zugesagt. Während sich die Detektivin überlegte, ob sie sich auf diesen sonderbaren Fall einlassen wollte, war Dr. Wiederkehr schon überzeugt davon. Es war sein letzter Wunsch.





Mager war er geworden. Die Wangenknochen und das Kinn stachen markant hervor, die Haut war fahl und von Pigmentflecken übersät, die Haare auf seinem Kopf wild zerzaust. Auf der ausgeklappten Tischfläche stand das Essen, ein Teller Griess mit Marmelade, unberührt; auch die Teetasse war noch randvoll. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, bat er sie darum, ihm den Tee zu reichen. Nachdem er kurz daran genippt hatte, gab er ihr die Tasse zurück. Jede Bewegung führte er bewusst aus, um seine Kräfte zu dosieren. Genauso kontrolliert fing er nun an zu sprechen:



«Stellen Sie sich vor, Sie weilen an einem Fest, eingeladen von einem Freund. Einige der Gäste sind Ihnen bekannt. Sie setzen sich an einen der Tische und bestellen eine Tasse Tee.»



«Rotwein würde ich bevorzugen.»



«Sie bestellen ein Glas Rotwein», fuhr Dr. Wiederkehr unbeirrt fort. «Ein Ihnen noch unbekannter Gast nähert sich dem Tisch und setzt sich zu Ihnen. Gleichzeitig entdecken Sie Ihren Freund, der Ihnen eifrig zuwinkt. Sie stellen das Glas Wein ab und gehen in den hinteren Teil des Raumes, um ein paar Worte mit Ihrem guten Freund zu wechseln. Er erzählt Ihnen, dass der unbekannte Mann an Ihrem Tisch mehrere Jahre im Gefängnis gesessen habe. Er sei wegen Giftmordes an seiner Ehefrau verurteilt worden.»





Erstaunt musterte Fuchs Dr. Wiederkehr. Was wollte er ihr sagen? Es hörte sich an, als wolle er ihr ein Sinnbild vermitteln.



«Jetzt frage ich Sie, Carla: was tun Sie, nachdem Sie von Ihrem guten Freund gehört haben, dass der Mann ein verurteilter Giftmörder ist? Gehen Sie zurück an Ihren Platz? Und was ist mit Ihrem Glas Wein? Es stand eine Weile unbeaufsichtigt herum. Der Unbekannte, oder jeder andere im Raum, hätte Zugang zu Ihrem Glas gehabt. Würden Sie sich wirklich hinsetzen, genüsslich einen Schluck – oder gar zwei – davon trinken und tun, als ob die Welt noch dieselbe sei?»



«Wenn ich auf das Wort meines guten Freundes vertrauen kann - natürlich nicht!»



«Sehen Sie, das meine ich. Ob Sie Ihrem guten Freund vertrauen können oder nicht, können Sie letztendlich nur einschätzen, jedoch nie wissen. So funktioniert Ihr Verstand. Er wird beeinflusst von Freunden, Bekannten, Personen der Öffentlichkeit oder den Medien. Wenn Sie die Quelle als glaubwürdig einschätzen, halten Sie die Information für wahr.»



«Da bin ich mit Ihnen einig.»



Beharrlich fügte Dr. Wiederkehr an: «Finden Sie die Wahrheit heraus, ich bitte Sie darum.»



«Ich wünschte, Sie würden mir die Wahrheit erzählen.»



«Es geht um Gerechtigkeit. Lügen haben Leben zerstört, ich lebte wie in einem Gefängnis. Mein Geld konnte mich nicht aus den Ketten befreien, eisernen Ketten, die ich mir selber angelegt hatte. Dabei wünschte ich mir immer Ruhe und Freiheit. Wissen Sie, Freiheit lässt sich nicht mit Geld kaufen. Freiheit findet im Kopf statt, das ist meine Überzeugung.»





Etwas verwundert war sie schon. Wenn ein Mann wie Dr. Wiederkehr nicht von Freiheit sprechen konnte – wer dann?



«Ich hoffe, Sie verstehen mich, dass ich nach Erklärungen suche, weshalb Sie Ihre Freiheit vermissten.»

 



«Frei war ich nie, ganz im Gegenteil. Glücklich war ich nur in wenigen Augenblicken. Das Äussere täuscht oft. Man zeigt keine Schwäche. So wurde ich erzogen. Mein Vater war ein Mann mit Prinzipien und Überzeugungen. Er hatte klare Vorstellungen und wehe, etwas ging seine eigenen Wege.»





Dr. Wiederkehr hüstelte. Die Erinnerungen regten ihn sichtlich auf. Fuchs wollte seine Kräfte nicht unnötig strapazieren und antwortete zurückhaltend:



«Ich verstehe.»



«Sie kommen ganz nach Ihrem Vater. Ich erinnere mich an die guten Zeiten, die ich mit ihm, dem erfolgreichen Rechtsanwalt, auf dem Tennisplatz verbracht habe. Die Hartnäckigkeit haben Sie von ihm geerbt, das Aussehen von Ihrer Mutter. Sie war eine bildschöne Frau, leider ist sie viel zu früh von uns gegangen – ganz wie meine Frau Marie.»



«Ihre Frau habe ich immer bewundert. Und sie war eine vorzügliche Köchin.»



«Ich habe sie geliebt, meine Marie. Sie hätte gewollt, dass Sie die Wahrheit finden.»





«Wenn es Ihr innigster Wunsch ist, werde ich es zumindest versuchen. Aber Sie - Sie kennen doch die Wahrheit oder wenigstens einen Teil davon? Geben Sie mir wenigstens einige Anhaltspunkte!»



«Ich kann nichts weiter dazu sagen.»



«Wenig Informationsgehalt, um ein Verbrechen aufzuklären. Gibt es eine Leiche?»



«Ja, ein Mensch ist tot.»



Sein Zustand verschlechterte sich, Dr. Wiederkehr hatte kaum mehr Kraft zu sprechen. Augenblicklich wurde Carla Fuchs klar, dass sie nur noch wenig Zeit mit ihm hatte.



«Wenn die Wahrheit bedeutet, dass Sie wirklich einen Menschen getötet haben und ein Geständnis ablegen möchten, dann wäre dies ein Fall für die Polizei. Sie wissen, ich bin Detektivin.»



«Ich hätte Sie nicht rufen lassen, wenn ich an Ihnen gezweifelt hätte.»



Carla Fuchs wurde nicht schlau aus ihm. Wenn Dr. Wiederkehr tatsächlich einen Menschen umgebracht hatte – warum hatte er sie rufen lassen? Er hatte ohnehin keine Strafe mehr zu befürchten. Weshalb machte er Andeutungen und sprach in Rätseln anstatt ihr die volle Wahrheit zu erzählen? Der einzige Hinweis war die Leiche. Doch auch diese müsste sich erst einmal finden lassen.





Ein ungeheurer Verdacht überkam sie plötzlich, als in ihr der Gedanke an Dr. Wiederkehrs Enkelin auftauchte: vor langer Zeit war sie ins Gerede gekommen - er wollte ihr doch nicht etwa mitteilen, dass er Lynn getötet und jahrelang geschwiegen hatte? Als Lynn verschwunden war, vor zehn Jahren, hatte er schwer gelitten. Genauer genommen war Dr. Wiederkehr nie darüber hinweg gekommen. Der Fall der vermissten Lynn - der bildschönen Lynn, die bis zur Heirat hatte Jungfrau bleiben wollen - hatte die Kleinstadt in Atem gehalten. Die Anteilnahme am Schicksal der Familie war gross gewesen. Emotionale Unterstützung aus der Gesellschaft, Worte der Hoffnung, versuchten die Wiederkehrs über den Verlust hinweg zu trösten. Lynn war nie mehr aufgetaucht, weder lebendig noch tot.





Carla Fuchs musste Dr. Wiederkehr fragen: «Geht es um Lynn? Ist es ihre Leiche, von der Sie sprachen?»



Dr. Wiederkehr wurde noch fahler im Gesicht und sein Mund zitterte, so dass er sich nur mit Mühe artikulieren konnte: «Frau Fuchs, ich ertrage das nicht länger. Eher sterbe ich! Ich allein bin verantwortlich, dass sie umgebracht wurde. Ich bin ein Mörder.»





Fuchs fühlte, wie sehr ihm Lynn noch immer am Herzen lag und verstummte. Von Verarbeitung war nicht die Rede, die Wunde in seiner Seele war nicht verheilt. Was war sein Auftrag: sollte sie die Leiche von Lynn finden? Zahlte er ihr deswegen so viel Geld? Ihr schauderte.



«Aus Ihren Andeutungen schliesse ich, dass Lynn tot ist. Es würde mir helfen, wenn Sie mir sagen könnten, auf welchem Fleckchen dieser Erde ich mit der Suche nach der Leiche beginnen soll!»





«Nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles.»

 Es klang, als redete er im Schlaf.



Kalter Regen prasselte an die Scheiben, der Wind schlug ans nass-graue Fenster. Durch den Raum strich ein lauer Luftzug. Der seltsame Geruch war ihr zuvor nicht aufgefallen. Es roch so eigenartig, faul und moderig – es roch nach Tod. Es war an der Zeit für Fuchs zu gehen. Sie schnappte sich den Umschlag mit den vielen Geldscheinen und steckte ihn sorgfältig in ihre Handtasche. Noch einmal blickte sie zurück, direkt in die Augen von Dr. Wiederkehr. Er bewegte die Lippen:

«Lieblich schaut er aus, verwegen, Dornen vor dem Haus wachsen stark bis zum Dach. Unten, da wo es dunkel ist. Meine Schuld.»





Spät war es geworden. Zuhause angekommen, legte Carla Fuchs eilig Mantel und Tasche ab, kramte den Briefumschlag hervor und legte ihn auf den Salontisch. Erst einmal musste sie sich ein Glas Wein gönnen. Sie wippte eine Weile im Schaukelstuhl hin und her und begann, ihre Gedanken zu sortieren. Die Worte Dr. Wiederkehrs liessen ihr keine Ruhe. Sie konnte es einfach nicht einordnen, dass ein Mensch wie er jemanden getötet haben sollte, doch wiederum glaubte sie ihm, dass es eine Leiche gab. Sie fragte sich, ob sie das Geld nicht Dr. Wiederkehr zurückbringen sollte, anstatt sich mit seinen Problemen herumzuschlagen; er würde das Resultat ihrer Arbeit - sollte sie überhaupt ans Ziel kommen - kaum erleben. Doch sie würde nicht nur ihn, sondern auch ihren Vater enttäuschen.



«Na gut, zu verlieren gibt es nichts und wenn das Geld schon mal da ist, will es auch verdient sein.»



Der Kampfgeist in ihr war geweckt. Generell pflegte sie zu sagen, dass es kein Problem gab, das nicht lösbar war, wenn alle Seiten an einer Lösung interessiert waren. «Er erwähnte, es gehe um Gerechtigkeit, um Lügen, die Leben zerstört hätten. Er wünschte, dass ich die Wahrheit ans Licht bringe. Genau das werde ich versuchen.»





Die Detektivin war sicher, dass Gerechtigkeit und Lügen in Zusammenhang mit der spurlos verschwundenen Enkelin Lynn standen. Die Leiche hingegen, von der er gesprochen hatte – sollte es tatsächlich die Leiche von Lynn sein? Die Detektivin beschloss der guten Ordnung halber, am nächsten Morgen die Kollegen von der Kriminalpolizei zu informieren. Normalerweise trat sie zwar mit Fakten an die Kollegen heran und nicht mit diffusen Aussagen eines sterbenskranken Mannes.





Ein drittes Glas Wein und Fuchs stand bereits mitten in ihrem neuen Fall, mehr denn je bestrebt, die Wahrheit ans Licht zu bringen.



Rätselhaft waren die letzten Worte von Dr. Wiederkehr: war es eine Landschaft, die er in seinem Dämmerzustand beschrieben hatte?



Sie überlegte, doch sie kam und kam nicht vom Fleck. Bilder von Wäldern und Wiesen, Fuchs war müde, sehr müde. Das Wasser überflutete alles und Carla Fuchs glitt in den Schlaf.





Leiche im Beton



«Sie lassen sich doch nicht etwa von den Aussagen eines senilen Mannes leiten?»



Verwundert empfing der Dorfpolizist die Detektivin in seinem Büro. Ihr Überraschungsbesuch in Ehren, doch das, was sie ihm eben erzählte, machte für ihn überhaupt keinen Sinn. Markus Pfiffner war grob geschätzt halb so alt wie Carla Fuchs. Sein Vater hatte ihm gelegentlich von ihren erfolgreich gelösten Fällen vorgeschwärmt, die sie üblicherweise mit Unterstützung der Kollegen der Kantonspolizei klärte. Nun da Pfiffner sie endlich einmal persönlich traf, musste er sich eingestehen: Er hatte sie sich ganz anders vorgestellt.





«Dr. Wiederkehr behauptete, dass es eine Leiche gäbe. Ich bin mir sicher, er sprach von seiner Enkelin Lynn.»



«Scherzen Sie? Doch nicht etwa … Lynn Wiederkehr?! Das kann ich kaum glauben. Lynn ist vor zehn Jahren spurlos verschwunden. Wäre es ein Einfaches gewesen, sie wiederzufinden, wäre dies längst geschehen.»



«Trotzdem sollten wir diesen neuen Hinweis ernst nehmen. Ich habe gehofft, Sie würden das unterstützen.»



«Verzeihen Sie, dass ich die Erfolgsaussichten in Frage stelle. Wir haben vor zehn Jahren jeden Stein in Bünzigen umgedreht. Unter keinem lag Lynn.»





Dann besann er sich: «Na gut, wenn es sein muss, Frau Fuchs, werde ich Sie begleiten. Wo genau soll die Leiche liegen?»



«So genau weiss ich das nicht. Dr. Wiederkehr sprach in Rätseln – er war ziemlich verwirrt. Wir sollen diesen Ort suchen:

nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles



Pfiffner prustete laut heraus und meinte zynisch: «Gratuliere! Das ist ein hervorragender Hinweis! Zum Rätselraten schlage ich vor: suchen Sie eine Wahrsagerin auf! Wenn Sie Lynns Leiche nach dieser vagen Beschreibung finden wollen, wird es nach meinem Ermessen schwierig. Diese Naturbeschreibung passt in jeden der sechsundzwanzig Kantone der Schweiz. Ob die Leiche in Bünzigen, in der weiteren Umgebung oder gar im Ausland zu finden ist, hat Dr. Wiederkehr nicht zufällig erwähnt?»





So wenig es sich Pfiffner vorstellen konnte, dass sie aufgrund einer solchen Beschreibung eine Leiche finden würden - Fuchs vertraute ihrem guten Riecher und war überzeugt, mindestens einen Hinweis auf Lynn zu entdecken. Sie hatte es Dr. Wiederkehr versprochen. Und wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wurde das mit aller Konsequenz durchgezogen.





«Hat er nicht, aber ich sehe auch nicht ein, weshalb wir beim weitest entfernten Ausgangspunkt beginnen sollten.»



«Mit dieser Beschreibung sehe ich die Suche als reine Verschwendung von Zeit an. Ich habe Wichtigeres zu tun.»



«Na ja, da bin ich mir nicht so sicher. Ich jedenfalls werde den Hinweis verfolgen. Zu einem Medium kann ich später immer noch gehen. Aber ich wäre sehr froh, wenn auch Sie die Sache ernst nehmen würden. Ich brauche Ihre Unterstützung!»



«Nun….» So sehr sich Pfiffner auch bemühte – von Ernsthaftigkeit war nicht die Rede. Dennoch rang er sich durch, immerhin gab es in der Landgemeinde nicht allzu viel Brisantes zu tun für den Dorfpolizisten.



«Okay, okay. Lassen Sie uns mittels Computer die möglichen Fundorte einkreisen. Schauen Sie auf diese Map und zeigen Sie mir, wo es im Kanton Aargau Felder, Wiesen…?» Er konnte das Grinsen nicht verkneifen. «Vielleicht springt uns da was ins Auge?»



«Gewöhnungsbedürftig für eine alte Dame wie mich. Ich brauche keine derartige Map. Verbrechen habe ich stets ohne elektronische Unterstützung aufgeklärt. Ich weiss, ich bin schrecklich unmodern, aber: Haben Sie eine Karte auf Papier – bitte mit grossem Massstab.»





Pfiffner runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass es der Detektivin ernst war. Er kramte in der untersten Schublade, fand schliesslich eine Karte der Umgebung – Bezirk Bremgarten - und gab sie der Detektivin.



Carla Fuchs überflog die Karte mit höchster Konzentration, es war, als wüsste sie genau, wonach sie suchen müsste. Ihr Ausgangsort war Bünzigen. Hier hatte Lynn gelebt und sich bewegt. Ihr Blick glitt auf einen grösseren Ausschnitt von Bünzigen in Richtung Schloss Hallwyl und kreiste anschliessend über ein Gebiet mit Feldern und Wiesen, bis sie sich auf eine Stelle fixierte. Mit dem Zeigefinger stiess sie wie ein Falke blitzschnell auf die Karte hinunter: Sie tippte einen Punkt an, etwa zwanzig Kilometer östlich vom Dorfkern. «Das ist der Beweis! Dr. Wiederkehr hat nicht fantasiert – er wollte mir einen Hinweis auf die Leiche geben. Jetzt sehen Sie doch hin!»



«Was soll hier sein?»



«Sind Sie wirklich so naiv? Das Moor hat in den 30er Jahren manches Tierleben geschluckt. In der Gegend gab es früher Überschwemmungen. Und hier – das Haus …»



«Verstehen Sie mich nicht falsch, worauf ich hinaus will: Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass die Leiche von Lynn hier liegen soll?»





«Dr. Wiederkehr sagte etwas wie

nahe den Feldern und Wiesen, vor dem zweiten Wald. Wasser zerstörte alles



«Die Gegend ist sumpfig. Bei starken Regenfällen gab es auch schon Überschwemmungen. Von daher könnte es hinkommen.»



«Unmittelbar nach diesem Haus beginnt ein Waldstück. Vom Dorf aus gesehen ist es die zweite grössere Waldfläche.»



«Vielleicht war Dr. Wiederkehr mehr bei Sinnen, als ich im ersten Moment dachte.»



Pfiffner checkte blitzschnell sämtliche Verzeichnisse, die ihm als Polizist zur Verfügung standen.



«Ich finde keinen Eintrag – auch nicht im Telefonbuch. Warten Sie – ich setze mich mit dem Grundbuchamt in Verbindung, um den Besitzer des Hauses in Erfahrung zu bringen.»



Kurz darauf wurde die Vorahnung der Detektivin bestätigt: das Haus gehörte Dr. Emil Wiederkehr.

 







Eine Stunde später.







«Lieblich schaut er aus, verwegen, Dornen vor dem Haus wachsen stark bis zum Dach … »





«Bitte?» Pfiffner drehte sich irritiert zur Detektivin um.



«Die letzten Worte von Dr. Wiederkehr.»



Die beiden standen vor der breit angelegten Einfahrt der Villa. Die Spitzen des schmiedeeisernen Tores waren vergoldet, den rechten Flügel zierte ein auffälliges Wappen, das ein Lamm zeigte. Kein Name stand unter der Klingel, niemand meldete sich. Doch das Tor war unverschlossen.



«Verwegen trifft es vollumfänglich», kommentierte Pfiffner den Wildwuchs trocken.



«Alles mit Unkraut überwachsen – der Garten wirkt mehr als vernachlässigt, seine Schönheit ist komplett verdeckt. Sehen Sie, die Buchshecken sind seit Jahren nicht mehr geschnitten worden.»



«In gepflegtem Zustand wären Haus und Garten ein Traum.»



«Der Garten ist Ausdruck der Seele. Daran gemessen muss etwas Schlimmes geschehen sein. Die Hausfassade ist von Hagenbutten regelrecht zugewachsen, überall Dornen bis hoch zum Dach. Ich erkenne den Ort, den Dr. Wiederkehr beschrieben hat.»



«Ja, vielleicht.» Pfiffner zögerte erst und meinte dann: «Schauen wir uns im Haus um.»



Mühelos knackte er das Türschloss. Kurz darauf standen die beiden in der kalten Eingangshalle. Wände und Decke waren von Spinnweben eingekleidet, überall lag Staub und die vertrockneten Pflanzen waren längst tot. Das Innenleben der Villa hinterliess einen rundum traurigen Eindruck. Auch die gerahmten Fotos an den Wänden waren verstaubt. Carla Fuchs erkannte Dr. Wiederkehr beim Angeln, auf einem anderen Bild war er mit seiner Frau Marie im gepflegten Garten zu sehen. Sie sassen an einem verschnörkelten weissen Gartentisch, umgeben von prachtvollen Blumen. Die beiden waren jung. Glücklich sahen sie aus.





Fuchs und Pfiffner schauten sich weiter um. Eine Holztreppe führte nach oben, eine andere nach unten. Carla Fuchs strich sich ihr Deux-Pièce glatt, wie sie es gerne tat, wenn sie ihre Gedanken ordnete. «Unten, da wo es dunkel ist … Das deutet auf den Keller hin.»



Die Treppe ins Untergeschoss knarrte bei jedem Schritt. Es wurde düsterer, Fuchs konnte kaum mehr ihren eigenen Arm erkennen. Sie tasteten sich durch das Dunkel, indem sie mit den Händen der Wand entlang glitten. Die Treppenstufen waren unregelmässig ausgetreten, und ein Geländer wäre kein Luxus gewesen. Sie waren erleichtert, als sie schliesslich unten angelangt waren, in einer Art Vorraum, der wohl gleichzeitig als Abstellkammer diente. Jedenfalls war nur ein kleiner Durchgang frei und Fuchs stiess trotz aller Vorsicht erst an einen Tisch, nachher kollidierte sie mit einem Stuhl. Doch weiter vorne drang unten am Boden ein Lichtschimmer durch: endlich ein Fenster, Licht! Die beiden sahen sich um.





Der Raum war leer - bis auf eine Wanne und zwei leere Holzgestelle.



«Wir sind umsonst hierhergefahren.» Pfiffner hatte genug von der Exkursion ins Niemandsland, genug davon, in fremde Häuser einzubrechen und es war ihm egal, was die Detektivin davon hielt.



Eine Leiche gab es hier nicht, fertig.





«Lassen Sie mich nachdenken. Die Leiche muss irgendwo auf diesem Grundstück sein. Ich kann den Tod riechen.»



«Was immer Sie riechen wollen – hier ist Ihr Riecher definitiv auf dem Holzweg. Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, dass es eine Schnapsidee ist, hier nach Lynn oder sonst einer Leiche zu suchen.»





Fuchs war sich sicher und liess sich auch nicht von einem ungeduldigen Dorfpolizisten von ihrem Vorhaben abbringen. Ihre Augen glitten Zentimeter um Zentimeter über die beiden Holzgestelle. Pfiffner dagegen setzte sich betont desinteressiert auf den Wannenrand. Die Wanne war mit Beton gefüllt, blödsinnig schien ihm das, wenn er daran dachte, wie der inzwischen harte Beton einst mühsam herbeigeschafft worden sein musste. Er überlegte, was die Wiederkehrs damit vorgehabt haben mochten, er vermutete, dass daraus ein Kellerboden hätte entstehen sollen. Oder so.





Sekunden vergingen, die sich wie Minuten anfühlten. Bei Pfiffner breitete sich die Langeweile aus; bei Fuchs hingegen war es die Anspannung und die liess sie nicht aufgeben.



Wieder startete der Polizist einen Versuch: «Frau Fuchs, die Leiche von Lynn ist nicht hier. Dr. Wiederkehr hat Sie an der Nase herumgeführt.»



«Um mich an der Nase herumzuführen, lässt er ganz schön viel Geld springen! Nein, das glaube ich nicht.»



«Vielleicht; Sie könnten sich aber auch im Ort geirrt haben. Wie können Sie so sicher sein, dass wir uns hier in der Landschaft befinden, die er beschrieben hat? Und dass es dazu noch diejenige ist, wo Lynns Leiche liegt?»





Darauf antwortete Fuchs nicht. Seine Einwände empfand sie als störend. Ihre Augen suchten nun stattdessen jeden Zentimeter des Bodens ab. Ein Papierstück lag in einer Plastikschale gleich neben der Türe hinter Pfiffner. Fuchs hob das Papier auf und erkannte, dass es ein zusammengefaltetes, vergilbtes Stück einer Zeitung war.



«Ein Stück Zeitung, muss eine ältere sein. Schauen Sie mal – meine Augen sind nicht mehr die besten – bei so wenig Licht schon gar nicht.»



«Es ist eine Zeitung vom 17. November 2000. Ich werde verrückt: das ist das Jahr, in dem Lynn verschwunden ist!»





Während Pfiffner auf das Papier starrte, ging Fuchs unruhig im Raum auf und ab. Abrupt blieb sie vor der Wanne stehen. Lynn war hier in diesem Raum, Fuchs war sich ganz sicher.



«Pfiffner, sagen Sie, würden Sie es für möglich halten, dass Lynn in dieser Betonwanne begraben liegt?»



«Spinnen Sie jetzt völlig?»



«Überlegen Sie. Weswegen soll jemand eine Wanne in einen Keller bringen und sie mit Beton auffüllen? Das macht doch überhaupt keinen Sinn!»



«Genau das habe ich vorhin auch gedacht.»



«Können Sie den Beton aufschlagen?»



«Nein, wie auch?»



Millimeter für Millimeter untersuchten sie die Oberfläche des Betons.



«Verdammt, wir brauchen mehr Licht!» Pfiffner nervte sich über sein Unvermögen, die Details genau erkennen zu können.



«Pfiffner, schauen Sie mal, schauen Sie diese Struktur an… diese Rundung hier, das ist nicht einfach nur Beton. Sie halten mich für bescheuert, ich weiss, aber ich bin überzeugt: Da wurde jemand begraben.»



«Wer legt schon eine Leiche in eine Wanne und füllt diese mit Beton? Aber gut, wenn es unbedingt sein muss, rufe ich Verstärkung. Ich werde mich lächerlich machen, aber was bleibt mir anderes übrig?»





Es dauerte keine halbe Stunde bis die Spurensicherung vor Ort war, doch sie konnten nur wenige Erkenntnisse gewinnen.



«Wir müssen den Beton aufweichen. Dann werden wir Gewissheit haben, ob sich tatsächlich eine Leiche darin befindet. Es könnte sich bei dieser Rundung hier wirklich um Knochen handeln.»





Als die Wanne schliesslich abtransportiert wurde, merkte Fuchs, wie sehr sie die Exkursion angestrengt hatte. Pfiffner bot ihr an, sie nach Hause zu fahren. Auch er war sichtlich bewegt von den Ereignissen.



«Ich habe so meine Zweifel, dass die Spurensicherung eine Leiche aus dem Beton graben wird.»



«Wir werden bald Gewissheit haben», gab ihm Fuchs müde zur Antwort.



«Dann wäre es Dr. Wiederkehr gewesen, der seine Enkelin getötet und in einer Betonwanne verschwinden lassen hat.»



«Seien Sie sich mal nicht so sicher. Warten wir die Ergebnisse ab.»







Einige Stunden später.





«Gut, dass ich Sie erreiche, Frau Fuchs. Sie hatten recht!»



Die Untersuchungsergebnisse waren eingetroffen und Pfiffner hatte die Detektivin aufs Kommissariat eingeladen, um sie zu informieren - soweit dies mit der Geheimhaltungspflicht vereinbar war.





Tatsächlich hatten die Ermittler eine Leiche – vielmehr Skeletteile, diese dafür vollständig – aus dem Beton herauslösen können. Obwohl die Obduktion noch nicht abgeschlossen war, gab es aufschlussreiche Erkenntnisse. Die Beweismittel würden derzeit von der Gerichtsmedizin genauer untersucht. Gesichert war nur, dass es sich bei der Leiche um eine weibliche handelte. Obwohl noch einige chemische und toxikologische Untersuchungen ausstanden, deutete alles darauf hin, dass die Frau erstochen worden war. Mord also. Selbstmord hatten sie ausgeschlossen, zumal Selbstmord durch Erstechen zu den selteneren Vorfällen gehörte. Vor allem aber, da ein Stich die Frau von hinten getroffen hatte. Stiche f

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