Free

Wortbildung im Deutschen

Text
Mark as finished
Font:Smaller АаLarger Aa

3 Die Referenzialisierungen terroristischer Gruppen in deutschsprachigen Medien

Im folgenden Abschnitt sollen relevante empirische Ergebnisse vorgestellt werden, die sozusagen als Nebenprodukt eines anderen Forschungsvorhabens angefallen sind. Im DFG-geförderten Projekt „Aktuelle KonzeptualisierungenKonzeptualisierung von TerrorismusTerrorismus – expliziert am Metapherngebrauch im öffentlichen Diskurs nach dem 11. September 2001“1 wurde die Frage verfolgt, wie islamistisch motivierter Terrorismus von deutschsprachigen Printmedien dargestellt, also auch konzeptualisiert, perspektiviert und evaluiert wird. Zu diesem Zweck wurde ein umfangreiches Korpus aus Pressetexten erstellt: Mehr als 100000 themenrelevante Artikel aus 11 deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften aus einem Zeitraum von 1993 bis 2011 wurden gesichert und mit quantitativen und qualitativen Methoden untersucht.2 Bei der Arbeit im Projekt lag der Fokus in erster Linie auf MetaphernMetapher, denen eine äußerst wichtige Rolle bei der diskursiven Verständlichmachung komplexer und abstrakter oder auch brisanter und affektiv aufgeladener Sachverhalte zugesprochen wird (cf. Skirl/Schwarz-Friesel 2007).3TerrorismusMetapher Aber auch andere sprachliche Mittel wurden im Hinblick darauf untersucht, wie sie zur Konzeptualisierung und Charakterisierung des Gesamtphänomens des islamistischen Terrorismus beitragen. Für eine umfassende Analyse war die Frage unabdingbar, welche konventionellen und innovativen Referenzausdrücke sich für terroristische Akteure finden, wie diese verteilt sind und welche Perspektivierungen und Evaluierungen durch sie vermittelt werden. In diesem Zusammenhang fielen AkronymeAkronym auf, wie sie in den Beispiele (1) und (2) illustriert werden. Diese sollen nun im Folgenden bezüglich ihres Auftretens, ihrer spezifischen Funktion und ihrer Rolle im Terrorismusdiskurs beschrieben werden.


(1)Vergangene Woche feuerte eine US-Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH)“ zählt. (Der Tagesspiegel, 13.05.2011)
(2)Al-Qaida im Maghreb (AQIM) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat: eine ferngezündete Bombe im Zentrum der westlichsten Stadt Marokkos, mitten hinein in die zaghaft einsetzende Öffnung des Landes zu mehr Demokratie. (Die Zeit, 05.05.2011)

In diesen Textstellen finden sich die AkronymeAkronym AQAH und AQIM, die auf Al-Qaida respektive regionale Untergruppen von Al-Qaida referieren. Mit Hilfe von Antconc, einer Software zur Textanalyse und Konkordanzerstellung, konnte festgestellt werden, dass im gesamten Untersuchungskorpus acht unterschiedliche KurzwörterKurzwort als Referenzausdrücke für Al-Qaida-Divisionen (Type-Wert) genau 125 mal vorkommen (Token-Wert). Diese Werte erscheinen in Bezug auf das Gesamtkorpus (Word Types gesamt 414604, Word Tokens gesamt 17625840) als sehr gering (der Anteil dieser Al-Qaida-Akronyme am Korpus liegt type-basiert bei 0,00193 % und token-basiert bei 0,00071 %), was aber angesichts der möglichst weitgefassten, textsortenübergreifenden Zusammenstellung aller thematisch relevanten Presseartikel im Laufe von 18 Jahren nicht überraschend ist.4Akronym Die genaue Suchworteingabe lautete „AQ*“ und brachte insgesamt 147 Treffer, von denen aber nach inhaltlicher Prüfung 22 ausgeschlossen wurden, da es sich entweder um rein technische Artefakte (als Zeichenfolgen in arbiträren Dokumentcodes) oder um Graphemfolgen in mehr oder weniger bedeutungsvoller Majuskelschreibung ohne Bezug auf Al-Qaida handelte (etwa: Job-AQTIV, AL-AQSA-BRIGADEN und KÖLNER AQUARIUM).5

Eine Sortierung der identifizierten Treffer nach Denotatsbereich lieferte folgende Einteilung, die jeweils durch Beispiele illustriert wird:

1 30 Treffer für den Type AQ mit ReferenzReferenz auf Al-Qaida als Gesamtorganisation.


(3)Stirbt nun auch der Binladinismus? […] Der ja, aber nicht der Al-Qaida-Terror. AQ ist keine leninistische Truppe, die nur enthauptet werden müsste, um sie unschädlich zu machen. (Der Tagesspiegel, 09.05.2011)

1 51 Treffer für die zwei Types AQAH und AQAP mit ReferenzReferenz auf eine Untereinheit von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel.


(4)Vergangene Woche feuerte eine US-Drohne Raketen auf ein Fahrzeug, in dem wahrscheinlich Anwar al Awlaki saß, eine der gefährlichsten Figuren des islamistischen Terrors, nicht nur weil er zu Anführern der Vereinigung „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH)“ zählt. (Der Tagesspiegel, 13.05.2011)
(5)Seit Bin Ladens Netzwerk im Januar 2009 seine Kämpfer in Saudi-Arabien und im Jemen zur „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP) zusammengeführt hat, gehen die perfidesten Aktionen vom Jemen aus. (Der Spiegel, 08.11.2010)

1 39 Treffer für die drei Types AQIM, AQMI und AQM mit ReferenzReferenz auf eine maghrebinische Untereinheit von Al-Qaida.


(6)Al-Qaida im Maghreb (AQIM) gelang derweil in Marrakesch ein überraschend zielgenaues Attentat […] (Die Zeit, 05.05.2011)
(7)„Boko Haram“ soll mittlerweile Verbindungen zu der in Algerien, Mauretanien, Mali und Niger aktiven „al-Qaida im islamischen Maghreb“ (AQMI) unterhalten. (taz, 01.11.2010)
(8)Ableger gibt es außer im Irak inzwischen auch in Nordafrika, das ist „Al Qaida im islamischen Maghreb“ (AQM), in Saudi-Arabien und Jemen, „Al Qaida auf der arabischen Halbinsel“ (AQAH) genannt, und in Somalia. Dort hat sich die Shabab-Miliz der Terrororganisation angeschlossen. (Der Tagesspiegel, 03.05.2011)

1 3 Treffer für den Type AQI mit ReferenzReferenz auf eine irakische Unterorganisation von Al-Qaida.


(9)Was Wunder, dass den Sunnis im Überlebenskampf jeder Verbündete recht war, auch die Terror-Brigaden der „Al-Qaida im Irak“ (AQI). (Die Zeit, 19.06.2008)

1 2 Treffer für den Type AQT mit ReferenzReferenz auf eine gemeinsame OrganisationOrganisation von Al-Qaida und den Taliban.


(10)Was offenbar nicht ganz deutlich wurde, ist erstens die Rolle, die Osama bin Laden bei der Detailplanung spielte, und zweitens sein Verbleib. Die Londoner Times will aus einem Versprecher herausgehört haben, dass er nicht mehr lebe. Das ist jedoch nicht sicher. Spezialeinheiten aus den USA und Großbritannien suchen jedenfalls noch immer nach ihm und nach „AQT“ in bestimmten Regionen Afghanistans. Die Abkürzung bedeutet „Elemente der Al Qaeda und der früheren Taliban“. (Frankfurter Rundschau, 11.09.2002)

Die Konkurrenzformen unter b.) und c.) erklären sich daraus, dass fremdsprachliche, nämlich englische und französische KurzwörterKurzwort auf Basis exogener Bildungen ebenso vorkommen wie deutschsprachige Bildungen auf Basis von Übersetzungsparaphrasen. Im Fall von AQAP versus AQAH betrifft dies die letzte Initialenvariante (P/H < peninsula/Halbinsel). Im anderen Fall ist die Anzahl und Reihung der AQ nachfolgenden Initialen betroffen (OrganisationOrganisation al-Qaïda au Maghreb islamique versus Al-Qaida im (islamischen) Maghreb). Damit wird zugleich deutlich, dass Kurzwörter im Allgemeinen und insbesondere AkronymeAkronym für international beachtenswerte Organisationen einen global relevanten Phänomenkomplex ausmachen, der nicht auf eine einzelsprachliche Betrachtung beschränkt werden sollte.

Von Bedeutung ist in den exemplarischen Textstellen der Vorkommensmodus der AkronymeAkronym, nämlich in (4) bis (9) in Gestalt der erwähnten dominanten Einführungsstrategie „Vollform (KurzwortKurzwort)“. Es handelt sich jeweils um die Erstnennungen der Akronyme, im Fortlauf der Texte werden sie dann ohne weitere Erläuterungen verwendet. In Gestalt eines ganzen Satzes und zusätzlich metasprachlich markiert erfolgt die Texteinführung hingegen in Beispiel (10). Die Erklärung des akronymischen Organisationsnamens erfolgt durch die Wiedergabe der Vollform, die im Grunde nur eine formseitige Erweiterung des Namenszeichens durch einen Rekurs auf den Kürzungsinput darstellt. Das Wissen über Al-Qaida und die Taliban wird dabei weiterhin vorausgesetzt, sonst ergäbe auch die Namensrückführung keinen Sinn. Auffällig ist auch, dass die zur Erklärung angeführten Vollformnennungen oft durch Anführungszeichen typographisch abgesetzt werden, so etwa in (4), (5), (7) bis (10), was wiederum den metasprachlichen Charakter dieser textuellen Prozesse verdeutlicht.

Des Weiteren ergab sich aus der Korpusanalyse eine Bestätigung der im Vorigen angenommenen Wortbildungsaffinität, wie die folgende Kompilation von Determinativkomposita mit AkronymenAkronym in der Rolle des Determinans und verschiedenen Grundwörtern verdeutlicht:


(11)AQ-Schule; AQAP-Krieger; AQAH-Propaganda; AQM-Kämpfern; in AQM-Camps; „AQT“-Führern

Verfahrensorientiert lassen sich die beschriebenen Kürzungen als Reihenbildung bestimmen. Der bekannte Reduktionsprozess liefert zunächst die generischen Default-Initialen AQ, die je nach Bezug um weitere Initialen wie AH/I/MI ergänzt und sozusagen attributiv spezifiziert werden können. Die Kurzwortbildungen fungieren hier so als erweiterbares Label für eine OrganisationOrganisation mit einer tiefen Binnenstrukturierung und regionaler Differenzierung. Al-Qaida wird folglich als ein Netzwerk mit einer übergreifenden Ideologie konzeptionalisiert, das aus Untereinheiten mit großer Handlungsautonomie besteht. Hierzu passt auch die häufige Übersetzung des Namens al-qā’ida als „Basis“ (cf. Wichmann 2014: 202). Entsprechend wird auch manchmal von Mutter- und Tochterorganisationen gesprochen (ebd.).

 

Auch MetaphernMetapher können fruchtbar mit den AkronymenAkronym zusammenwirken. Eine analoge KonzeptualisierungKonzeptualisierung, die nunmehr durch metaphorische Konstruktionen erfolgt, nämlich AL-QAIDA ALS (FRANCHISE-)UNTERNEHMEN, findet sich etwa in folgendem Beispiel:


(12)Al-Qaida hat sich in ein Franchise wie McDonald’s verwandelt. […] Wer die AQ-Schule durchlaufen hatte, konnte eine „Filiale“ aufmachen. (Die Zeit, 05.05.2011)

Mehrere solcher Franchise-MetaphernMetapher treten in der öffentlichen Berichterstattung über Al-Qaida auf (siehe hierzu v.a. Schwarz-Friesel (2014: 66–68) und Kromminga/Becker 2015: 72–77). Fokussiert wird hierbei die Strukturkomplexität und Handlungseffizienz der Gesamtorganisation, die deshalb auch nur sehr schwer zu bekämpfen sei. Al-Qaida sei gerade wegen ihrer Untereinheiten strategisch sehr erfolgreich und gefährlich. Interessanterweise ergeben sich diese Lesarten erst aus der kontextuellen Konzeptkombination und Merkmalsexplikation. Metaphorisierungen als Franchise-Unternehmen haben, im Gegensatz zu beispielsweise mythischen Ungeheuern wie Hydra und tödlichen Erkrankungen wie Krebs, zunächst kein starkes Implikatur- und Emotionspotenzial, vermitteln im gegebenen Fall aber dennoch ein große Bedrohung und eine intensivierte Gefahrenlage durch die so perspektivierte Al-Qaida (cf. Kromminga/Becker 2015: 75–76).

Innerhalb dieses Konzeptualisierungsmusters zeigen die metaphorischen Verbalisierungen und die AQ-AkronymeAkronym auch eine ähnliche Auftretensverteilung, sowohl in Bezug auf den diachronen Diskursverlauf als auch im Kontrast der analysierten Publikationsmedien. Die ersten Vorkommen der Akronyme wie auch der Franchise-MetaphernMetapher finden sich vereinzelt Anfang/Mitte der 2000er Jahre (die ersten Metaphern treten 2004 auf, AQT bereits 2002), dann vermehrt ab 2008 und schließlich mit einer signifikanten Häufung in den Jahren 2010 und 2011 (den letzten Jahren des Untersuchungszeitraums). Es ist zudem auffällig, dass sowohl die Akronyme als auch die genannten Metaphern überhaupt nicht in den ebenfalls untersuchten Boulevardzeitungen (Bild, B.Z., Kölner Express) vorkommen, sondern nur in umfangreicheren Presseartikeln, die sich um präzise Darstellungen terroristischer Gruppen bemühen und teilweise auch Hintergrundanalysen einbeziehen.

Zwischen beiden sprachlichen Mitteln, den innovativen MetaphernMetapher mit dem Herkunftsbildbereich der Ökonomie und den zur Referenzialisierung komplexer Organisationen dienenden AkronymenAkronym, kann somit ein enger Konnex konstatiert werden. Sie tragen gemeinsam entscheidend zu einem elaborierten und aktuellen Deutungsmodell über islamistischen TerrorismusTerrorismus bei.

4 Kleiner Exkurs zum sogenannten Islamischen Staat (IS)

Der öffentliche Diskurs zum islamistisch motivierten TerrorismusTerrorismus wird aktuell, im Herbst 2014, sehr stark von der Berichterstattung über nur eine OrganisationOrganisation dominiert. Seit Juni 2014 erscheinen nahezu täglich Presseartikel über die Gruppierung, die sich selbst als „Islamischer Staat“ bezeichnet, vor allem über ihre militärischen Erfolge und über ins Internet gestellte brutale Videos, die Enthauptungen dokumentieren. In einigen Medienberichten werden auch immer wieder der aktuelle Name der Organisation, Alternativbenennungen, ältere Namensvarianten und die entsprechenden AkronymeAkronym, thematisiert. Das folgende Beispiel möge dies illustrieren:


(13)Von jenem Tag an [15.10.2006, Anm. JHK] nannte sich die Gruppe, die zuvor als „Al-Kaida im Irak“ (AQI) bekannt war, nur noch „Islamischer Staat Irak“. Terrorexperten benutzten fortan die Abkürzung ISI oder blieben bei AQI. […] [2013 änderte die Gruppe ihren Namen], um ihre Transnationalität herauszustellen. Sie taufte sich um in „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“. ISIS bot sich an, aber ebenso ISIL – denn „Al-Schaam“ wird oft mit dem Begriff „Levante“ wiedergegeben. Deutsche Sicherheitsbehörden wollten ganz korrekt sein und erfanden zusätzlich „IStIGS“. Araber wiederum ersannen ein eigenes Wort. Und zwar jenes, das sich ergibt, wenn man die arabischen Anfangsbuchstaben von „Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien“ als Wort ausspricht (so wie wir „Nato“ sagen). Auf diese Weise entstand der Begriff „Daisch“. Die Terroristen hassen diese Verballhornung und drohen damit, jeden zu bestrafen, der sie benutzt. Vier Namen also für dieselbe Gruppe. Das war schon mal verwirrend genug. Aber noch nicht das Ende. Denn was geschah im Juni 2014, nach der Einnahme der irakischen Stadt Mossul? Die Gruppe änderte ihren Namen ein weiteres Mal – in „Islamischer Staat“. Der Verzicht auf eine geografische Verankerung sollte nun den universalen Anspruch unterstreichen. (Die Zeit, 30.10.2014)
(14)

Wenn die Selbstbezeichnungen der OrganisationOrganisation sich ändern, indem je nach Vermarktungsstrategie regionale Spezifizierungen hinzukommen oder weggelassen werden, folgen die Kurzwortbildungen nach. Zugleich stehen sich aktuelle Selbstbezeichnungen, derzeit IS, und Fremdbezeichnungen wie Da’isch gegenüber. Durchsichtiger ist die Bezeichnung Un-Islamic State, die wiederum gleich zu UIS akronymisiert wurde, oder die von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon gebrauchte Doppelverneinung des IS-Namensclaims als „Un-Islamic Nonstate“ (New York Times, 02.10.2014). Die Hinzufügung der Negationssuffixe dient hierbei sowohl zur Abwertung der Organisation als auch zur Abgrenzung zwischen der äußerst gewalttätigen Organisation und muslimischen Gemeinschaften, die sich mit der Organisation in keiner Weise verbunden fühlen. Die AkronymeAkronym UIS versus IS konstituieren hier zugleich einen semantischen Kampf in Form einer Bezeichnungskonkurrenz, also eines Widerstreits zwischen kontradiktorischen Positionen zur gegenstandsadäquaten Nomination.


(15)Weitere Verwendungskonkurrenzen entstehen aufgrund der Tatsache, dass ISIS ein Homonym darstellt, und zwar nicht nur zum Namen einer ägyptischen Göttin, sondern auch zum Markennamen einer belgischen Schokolade (Süddeutsche Zeitung, 24.10.2014), einer britischen Dessous-Kollektion, eines Studentenmagazins und zum Titel eines Songs von Bob Dylan. (Jungle World, 28.08.2014)

Eine präzise Beschreibung des Verhältnisses von Al-Qaida und Islamischer Staat zueinander ist sicherlich eine Aufgabe für die Terrorismusforschung und weniger für diesen Aufsatz. Bislang kursieren in der medialen Berichterstattung mehrere konträre Darstellungen: Entweder dass Al-Qaida den Islamischen Staat eher als Konkurrenten versteht und sogar vor ihm warnt (bspw. Süddeutsche Zeitung, 04.09.2014) oder dass Al-Qaida-Tochterorganisationen ihre Unterstützung und Solidarität ausdrücken, was zu der folgenden AkronymAkronym-gesättigten Überschrift führt:


(16)AQMI und AQAP für IS. (Telepolis, 16.09.2014)

In deutschsprachigen Medien ist die Übernahme der aktuellen Selbstbezeichnung und die Verwendung des dazugehörigen AkronymsAkronym nach den oben beschriebenen Gebrauchsmustern dominant. Eine kleine Analyse von neun zufällig kompilierten Artikeln verschiedener Zeitungen (Der Spiegel, Süddeutsche Zeitung, taz, Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berner Zeitung, Der Standard) vom 16.11.20141 zeigt dies deutlich: IS tritt insgesamt 84 mal auf. In sieben der neun Überschriften wird ebenfalls das Akronym verwendet, dann aber in den ersten Zeilen der Artikel in Kontaktstellung zu der Vollform eingeführt. Interessanterweise tritt hier oftmals eine kategorisierende Beschreibung der OrganisationOrganisation in Form einer übergeordneten Nominalphrase hinzu. Bei den Beispielen handelt es sich jeweils um die ersten Sätze der Artikel:


(17)Die Extremistenmiliz Islamischer Staat (IS) hat nach eigenen Angaben eine weitere westliche Geisel enthauptet. (Berner Zeitung)
(18)Die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS) hat nach eigenen Angaben den US-Bürger Peter Kassig enthauptet. (Der Spiegel)
(19)Mehr als einen Monat nach der Ermordung einer britischen Geisel hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) im Internet ein Video zur angeblichen Enthauptung des US-Bürgers Peter Kassig veröffentlicht. (Der Standard)
(20)Die USA haben die Enthauptung der US-Geisel Peter Kassig durch die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat“ (IS) bestätigt. (Der Spiegel)

Erneut zeigt sich ferner die Wortbildungsaffinität der AkronymeAkronym mit einer klaren Präferenz dazu, das Erstglied in Determinativkomposita zu stellen, wie die folgende Beispiele verdeutlichen:

IS-Terroristen, IS-Kämpfern, IS-Extremisten, IS-Schergen, IS-Kriegsminister, IS-Henker, IS-Geiseln, IS-Propaganda, IS-Video, IS-Propagandavideo, IS-Provinzen, IS-Zahlung

Die Produktivität von AkronymenAkronym zur Organisationsbenennung wird umso deutlicher in der Berichterstattung zu den Ereignissen im Kurdengebiet an der Grenze zwischen Türkei und Syrien. Bei den Kämpfen um Kobanê/Ain al-Arab werden als politische und militärische Konfliktparteien IS, PKK, PYD (beides kurdische Parteien), YPG, YPJ (beides kurdische Kampfverbände), FSA (Freie syrische Armee) und weitere genannt.

5 Einige Hypothesen zu Organisationsakronymen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bildung von KurzwörterKurzwort grundsätzlich hochproduktiv ist und die Wortbildungsresultate einen wichtigen Beitrag zur Lexikonerweiterung im DeutschenDeutsch darstellen. Vor allem der Typus der multisegmentalen Initialkurzwärter, hier als AkronymeAkronym behandelt, erfüllt verschiedene Ausdrucksbedürfnisse und trägt zu einer ökonomischen, kohäsiven und informationell dichten Textgestalt bei.

In den hier vorgestellten Fällen ging es um militante islamistische Organisationen, die AkronymeAkronym auch aus der Eigenbenennungsperspektive verwenden, um damit neben dem bloßen Nominationsakt verschiedene Effekte zu erzielen. So dient AQ**AQ** als Label, das eine ideologische Zugehörigkeit ausdrückt und zugleich eine lokalspezifizierende Reihenerweiterung erlaubt. Die akronymischen Referenzialisierungen treten im medial vermittelten TerrorismusTerrorismus-Diskurs erst relativ spät und nur in bestimmten Segmenten des Spektrums der Publikationsmedien auf. Sie lassen sich außerdem zu diskursprägenden Metaphorisierungen von Al-Qaida als Franchise-Unternehmen, als eine Art ideologisch vereinter GmbH mit autonom operierenden und deshalb schwer zu bekämpfenden Filialen, in Beziehung setzen. Diese MetaphernMetapher liefern zusammen mit den akronymischen Referenzausdrücken einen besonderen Beitrag zur KonzeptualisierungKonzeptualisierung der terroristischen Akteure als strukturkomplexer, binnendifferenzierter Gesamtorganisation.

Mit den multiplen IS-AkronymenAkronym werden in den verschiedenen Etappen der Namensgebung analoge, aber auch komplementäre Etikettierungen vollzogen; nach einer regionalen Erweiterung (von AQI zu ISIL/ISIS) wird eine De-Regionalisierung und Universalisierung (von ISIL/ISIS zu IS) angestrebt. Diese Selbstbenennungen treten auch im deutschsprachigen Mediendiskurs auf und wurden im Rahmen dieser Arbeit, in der arabisch-sprachige Texte nicht mit herangezogen werden konnten, allein aus der Fremdbenennungsperspektive behandelt. Zusätzlich zeigen sich auch semantische Kämpfe, die teilweise mittels pejorativen Alternativ-Akronymen (UIS) geführt werden.

 

Im Hinblick auf die identifizierten Verwendungsweisen lässt sich zusammenfassen, dass diese AkronymeAkronym insofern einem mittlerweile relativ festen Textgebrauchsmuster unterliegen, als sie häufig in Überschriften auftauchen und je nach Konventionalitätsgrad dann zu Beginn des Fließtextes einmalig in Kontaktstellung zur Vollform eingeführt werden, um anschließend frei verwendet zu werden, wobei sie häufig auch zu KompositaKompositum zusammengesetzt werden. Dass KurzwörterKurzwort besonders als Namen für Institutionen und Organisationen Wortbildungsmöglichkeiten eröffnen, die die jeweiligen Vollformen nicht bieten, betont auch Steinhauer (2007: 152).

Gerade AkronymeAkronym werden in auffälliger Weise dazu genutzt, um Gruppierungen zu benennen. Hinweise auf die Vielzahl von KurzwortKurzwort-Eigennamen, besonders für Personengruppen, finden sich auch bei Starke (1997: 93), Busse/Schneider (2007: 165), Grebovic (2007: 56–61) und Fleischer/Barz (2012: 285–286). Deutlich wird dies etwas durch einen Blick auf gängige Benennungsstrategien politischer Parteien (SP, SVP, FDP, CVP, etc.), Sportvereinen (YB, FCSG, GC, SCB etc.) oder Institutionen (SRF, SAC, FIFA, WHO, CERN etc.). Bei allen Unterschieden zwischen diesen Akronymen – etwa im Hinblick auf ihre Aussprache oder darauf, ob es sich um die gebräuchlicheren Bezeichnungen, wie bei Parteien, oder um Alternativbenennungen wie bei den Fußballclubs handelt – haben sie viele Gemeinsamkeiten. Ihre Denotate sind jeweils prototypisch kollektive oder auch korporative Akteure, also Gruppierungen von Personen, die sich ihrer Kollektivstrukturiertheit bewusst sind und die planmäßig und zielorientiert gemeinsam agieren.

Es wird hier deshalb vorgeschlagen, diese Vorkommen als OrganisationsakronymeOrganisationsakronym begrifflich festzuhalten. Dieser hochproduktive Nominationstypus entspricht dann einer nicht-diskreten Teilmenge innerhalb der KurzwörterKurzwort einerseits und der Personengruppenbenennungen andererseits; d.h. die Organisationsakronyme unterscheiden sich nicht fundamental von anderen Kurzwörtern und Gruppennamen, zeigen aber viele auffällige Charakteristika bei der Benennung von kollektiven Akteuren aus Selbst- oder Fremdperspektive. Um die tatsächliche Eigenständigkeit in Form und Funktion dieses Typus eingehend bestimmen zu können, sind sicherlich noch weitere und weiterführende Untersuchungen notwendig.1Organisationsakronym

Die Prävalenz der OrganisationsakronymeOrganisationsakronym erklärt sich aus verschiedenen kommunikativen Bedürfnissen. Aus der Perspektive der Fremdbenennung eignen sich AkronymeAkronym besonders gut zur Bezeichnung von Organisationen. Die ausdrucksseitig sehr kurzen Namensetiketten tragen zu einer ökonomischen, kohäsiven Textgestaltung, zu einer verdichteten Informationsstruktur und -vermittlung bei. Diese Charakteristika der KurzwörterKurzwort führen dazu, dass Textproduzenten sie häufig benutzen und sich so wiederum ihre Bekanntheit und die mediale Präsenz der so benannten OrganisationOrganisation verstärkt.

In Selbstbenennungsakten ergeben AkronymeAkronym ein erwünscht prägnantes Label mit einer einfachen emblematischen Struktur, in der aber zugleich umfangreiche inhaltliche Angaben kondensiert sind. Mittels Akronymen lässt sich zwar prädikationsfrei referieren, zugleich können aber Bedeutungselemente der Vollformen entfaltet und sozusagen resignifiziert werden. Die oftmals syntaktisch komplexen, im KurzwortKurzwort univerbierten Ausgangsnamen sind ja nicht verloren. Vielmehr sind ihre Prädikationen und Attribuierungen sekundär präsent und können durch Rekurse hervorgehoben und neu aufgeladen werden. Beispielhaft findet dies statt, wenn in kritischen Diskursen danach gefragt wird, wofür das „S“ der SPD denn noch stehe, wenn diese keine sozialdemokratische, sondern nur noch neoliberale Politik betreibe, oder wenn christlich-konservative Kreise nicht mehr genug „C“ in der CDU sehen (cf. Der Spiegel, 27.02.2010).

Die Mehrstufigkeit des Zeichens im Verhältnis von Vollformbedeutung und initialem AkronymAkronym-Bestandteil lässt sich auf verschiedene Arten diskursiv ausnutzen. Hier greift der u.a. von Steinhauer (2007: 149–150) beschriebene Vorgang der Remotivierungen als „gezielte Umdeutungen der Vollformen im Nachhinein“. Klassische Beispiele hierfür betreffen Unternehmen, die obsolet gewordene Namensbestandteile ablegen oder in neue Werbeslogans umwandeln (AEG < „Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft“ wird zu „Aus Erfahrung gut“). Dies kann aber auch einer Umweg-Nomination dienen: Der DFB (Deutsche Fußball-Bund) untersagte einem bekannten Getränkehersteller, seinen neugegründeten Verein RedBull Leipzig zu nennen, da Firmennamen nicht in Vereinsnamen auftreten dürften. Daraufhin wurde der Verein als RasenBallsport Leipzig gegründet und kann so trotzdem unter dem intendierten Akronym RBL firmieren.2Akronym

AkronymeAkronym sind somit semiotisch mehrdimensional einsetzbar und können auch in Konstellationen semantischer Kämpfe metasprachlich thematisiert und sozusagen rekodiert werden.3OrganisationsakronymAkronym

Die oben besprochenen Reihenbildungen durch Initial-Erweiterungen (AQ zu AQAP) stellen außerdem besondere Fälle von AkronymenAkronym für kollektive Akteure dar. Sie erlauben nämlich eine geschickte sprachliche Aktualisierung der Organisationsstruktur und eine nebenbei ablaufende Vermittlung von Informationen über intraorganisationale Beziehungen des Denotats.4OrganisationsakronymAkronym

Die Gründe für die Präferenz von Initialkurzwörtern bei Selbstbenennung durch die Organisationen und bei Referenzialisierungen aus Fremdperspektive sind letztlich konvergent. Kollektive Akteure wünschen sich kompakte, gut zu merkende Namen und Journalist_innen wünschen sich ökonomische, musterhaft zu gebrauchende Benennungsmittel; und dass diese Interessen sich durch AkronymeAkronym gemeinsam erfüllen lassen, erklärt, warum es in den letzten Jahrzehnten zu einem Auftreten und starkem Anstieg dieser Wortbildungsprodukte kam. OrganisationsakronymeOrganisationsakronym sind emblematisch prägnante, multifunktionale, diskurssemiotisch komplexe Spracheinheiten.