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Wortbildung im Deutschen

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2.3 VerbpartikelnVerbpartikel als Wortglieder?

Stiebels/Wunderlich (1994) argumentieren ausführlich dafür, dass Ptk-Vn wie Pfx-V lexikalisch gebildet würden. In der Tat scheinen sie mit diesen eine Reihe von Eigenschaften zu teilen (ibd. 927ff.). Das stärkste Argument, das wir dann im nächsten Abschnitt ausführlich diskutieren werden, stellt aus unserer Sicht die Transparenz von Ptk-Vn für Wortbildungsoperationen dar: Genau wie Pfx-Vn, können sie augenscheinlich die Basis die deverbale NominalisierungNominalisierung oder Adjektivierung bilden (ibd. 923):


(33)a.Unter’nehmung, Um’gehung
b.’Aufklärung, ’Einarbeitung
(34)a.Unter’nehmer, Be’werber
b.’Ausreißer, ’Angeber
(35)a.über’setzbar, ent’zündbar
b.’einstellbar, ’annehmbar

Des Weiteren sind V-Ptkn genau wie V-Pfxe oft sogar obligate Komponente von denominalen und deadjektivischen VerbenVerb (ibd. 924):


(36)a.be’kleiden, *(über)’brücken
b.’ankleiden, *(’auf)tischen,
(37)a.er’wärmen, *(er)’weichen
b.’aufwärmen, *(’auf)weichen

Wie auch V-Pfxe, können abtrennbare V-Ptkn offenbar nicht iteriert werden (ibd. 925f.):


(38)a.
b.*’radeinfahren, *’einklavierspielen

Scheinbare Gegenbeispiele wie das folgende in (a) sind dadurch erklärbar, dass die vorangehende augenscheinliche Ptk in Wahrheit ein Adverbial ist, weshalb das Wort auch der VP vorangehen kann (b). *mitankommen ist also kein Ptk-V in unserem Sinne.


(39)a.weil er in Bern mit ankam
b.weil er mit [VP in Bern ankam]

Möglich dagegen sind die Kombinationen Pfx>Ptk sowie Ptk>Pfx, wobei vor allem erstere ein starkes Argument darstellen könnte, da lexikalische PräfigierungPräfigierung nach der Anwendung syntaktischer Operationen doch implausibel erscheint (ibd. 926):


(40)a.be’auftragen, über’anstrengen(Pfx+Ptk+V)
b.’anvertrauen, ’auserwählen(Ptk+Pfx+V)

Darüber hinaus argumentieren Stiebels/Wunderlich (1994: 927) noch mit Mundartdaten, da in Mundarten mit einer Verlaufsform am+InfinitivInfinitiv die als Aspektmarker grammatikalisierte Präposition am offenbar nicht zwischen V-Ptk und VERBUM SIMPLEX intervenieren kann (41b). Da sie auch nicht der VP vorangehen kann (41c), scheint Evidenz dafür vorzuliegen, dass die Verbindung Ptk+V ein Wort darstellt.


(41)a.%er ist sein Zimmer am aufräumen
b.*er ist sein Zimmer auf am räumen
c.*er ist am [VP sein Zimmer auf räumen]

Wie oben bereits skizziert, schlagen Stiebels und Wunderlich vor, dass Pfx-V und Ptk-V beide auf die gleiche Weise lexikalisch gebildet seien, jedoch hätten V-Pfxe und V-Ptk nunterschiedliche inhärente Eigenschaften (ibd. 929): Nur letzteren könne das Merkmal [+max] zugewiesen werden, um die Struktur [ Y+max V ] syntaktisch zu bilden.


(42)a.prefix verb: [ Y+min V ](⇒ Y cannot constitute a possible word)
b.particle verb: [ Y+max V ](⇒ Y enters the syntax as Y°)

Eine solche Annahme der Transzendenz von einer lexikalischen in eine syntaktische Kategorie ist freilich nur notwendig, wenn die Indizien für die lexikalische Bildung von Ptk-V eindeutig sind. Dies sind sie m.E. jedoch nicht. So zeigen die Mundartdaten in (41) hauptsächlich, dass die Aspekt-Ptk am nicht in gleicher Weise grammatikalisiert ist wie die Infinitiv-Ptk zu, die auch in den Mundarten, so vorhanden, wie im StandarddeutschenStandarddeutsch zwischen Partikel und SimplexSimplex interveniert, im Schwäbischen sogar in flektierter Form. In ebendieser Mundart kann am sowohl dem Objekt als auch dem Ptk-V vorangehen, nicht jedoch der Ptk folgen.


(43)a.%er hat versprochen, sein Zimmer auf zum räumen(an Standardlautung angepasst)
b.%er ist (am) die Küche (am) sauber (*am) machen

Auch Müller (2002: 304) diskutiert Evidenz mit intervenierenden nominalen Elementen in der Verlaufsform:


(44)a.Wir sind die grade am komplett Durchbestellen.
b.Er ist ständig am Werbung für sich machen.

Signalisierte die Ptk am tatsächlich die Wortgrenze, müssten Einheiten wie ‚komplett-Durchbestellen‘ u.ä. eine Art Phrasenkompositum darstellen; tut sie es nicht, kann ihr ein syntaktisches Element folgen. In beiden Fällen könnten V-Ptkn wie durch ebenso syntaktische Elemente sein, wie die ihnen vorangehenden Nomina.

Nicht zuletzt haben mir rheinische Sprecher bestätigt, dass für sie auch die Stellung von am nach der Ptk möglich ist, wenn es sich nämlich um ein dekomponierbares Ptk-V wie saubermachen handelt:


(45)%er ist die Küche sauber am machen

Stiebels/Wunderlichs (1994: 926) Argument, dass die Kombination Pfx>Ptk möglich sei (40a), spräche zwar stark für den lexikalischen Status des Ptk-V, doch scheinen zumindest die von ihnen hierzu angeführten Beispiele auch als die PräfigierungPräfigierung von Rückbildungen aus Nomen wie Auftrag oder Anstrengung (letztere mit Suffixtilgung, ähnlich wie bei uraufführen) erklärbar. Die Präfigierung von Ptk-V ohne parallelem Nomen scheint dagegen gar nicht möglich:


(46)*ent’festbinden; *über’einweichen

Dies ist m.E. auch die einfachste Erklärung dafür, dass diese Art von Ptk-V-Bildung nicht transparent für syntaktische Regeln ist: Da diese Rückbildungen gar nicht auf das SimplexSimplex zurückgehen, bedarf es keiner zusätzlichen Erklärung der nicht-Abtrennbarkeit der Ptk.


(47)a.*Er strengte sich überan.
*Sie reichten es ihm verab.(⇒ Y enters the syntax as non-head)

V-Ptkn, die mit Pfx-Vn verbunden werden, verhalten sich dagegen nicht anders als sonst.


(48)a.Sie bewahrten es auf.
b.Er vertraute es ihr an.(⇒ Y enters the syntax as Y°)

Dass V-Ptkn wie in (36b) und (37b) ähnlich den parallelen Pfx-Bildungen obligater Bestandteil von Verbalisierungen sein können, ist m.E. sowohl semantisch als auch pragmatisch erklärbar: Ohne entsprechende logische Ergänzung ergeben VerbenVerb wie *tischen oder *weichen (in der hier intendierten Bedeutung) bzw. deren Verwendung keinen Sinn. Ähnlich argumentiert Neef (1990: 89) bei seiner Erklärung für sogenannte „Zusammenbildungen“, die ebenso nach Reduktion um eines ihrer Morpheme kein sinnvolles oder zumindest kein informatives Denotat ergeben.

Somit steht als Letztes die augenscheinliche Transparenz von Ptk-V für Wortbildungsprozesse zur Diskussion. Diese ist wesentlich komplexer als die bisherigen und wird im folgenden Abschnitt zunächst anhand der Ptk-Vn mit dem SimplexSimplex komm- veranschaulicht.

3 NominalisierungNominalisierung als Beweis für die lexikalische Bildung von PartikelverbenPartikelverb?
3.1 NominalisierungNominalisierung von komm- und ihre Eigenschaften

Prinzipiell existieren zu Ptk-Vn mit komm- drei Arten von Nominalbildungen: Substantive mit der unproduktiven Nominalbildung [kunft], suffigierte Adjektive (mitunter auch in der Form von Partizipien) und nominalisierte InfinitiveInfinitiv:


(49)a.Ankunft, Herkunft
b.zukünftig, herkömmlich; zuvorkommend, heruntergekommen
c.Weiterkommen, Durchkommen, Einkommen

Diese Wortbildungsprodukte existieren offensichtlich unabhängig von der Separierbarkeit, selbst wenn es sich um V-Ptkn handelt, die augenscheinlich Phrasenköpfe sind (vgl. aber 32a. oben).


(50)a.Woher/ Von dort her seid Ihr alle gekommen?
b.Herkunft

Wie bereits eingangs bemerkt, ist die Bedeutung von Substantiven wie Herkunft stark idiomatisiert und muss nicht dem Denotat des Basisprädikats entsprechen. Viele dieser Bildungen sind demotiviert und semantisch intransparent.

 

(51)Woher kommst Du gerade? – *Meine Herkunft ist Wuppertal.

Was in der verbalen Verbindung abtrennbare Ptk ist, ist zudem in der NominalisierungNominalisierung stets nicht-abtrennbar; dies trifft auch dann zu, wenn das Nomen ohne Ptk verwendbar ist (54).


(52)a.Von Norden her sind sie alle gekommen.
b.Der Zug kam in Bern an.
(53)a.*Dorther/ hieran war ihre Kunft.
b.*Ihre Kunft war her/an.
(54)a.*Dorther/ daran war ihre Leitung.
b.*Ihre Leitung war her/an. (vs. Sie leiteten es her/an.)

Und, wie ebenfalls bereits eingangs bemerkt, werden die meisten dekomponierbaren Ptk-Vn, die mutmaßlich die jüngere Bildungen sind (weshalb sie kaum in den etymologischen Lexika gelistet werden), ausschließlich als InfinitiveInfinitiv nominalisiert:


(55)a.Viel weiter sind wir leider nicht gekommen.
b.Ein Weiterkommen/*eine Weiterkunft war unmöglich.

In der folgenden Tabelle ist die Mehrzahl der noch gebräuchlichen oder zumindest geläufigen Ptk-Vn, z.T. in verschiedenen Lesarten, mit zugehörigen oder potentiellen, ggf. auch unmöglichen Nominalformen aufgelistet. Es scheint offensichtlich, dass auch die NominalisierungNominalisierung mit dem nach wie vor produktiven InfinitivInfinitiv wenig lexikalisch genutzt zu sein scheint. Die Verbindungen mit der Nominalbildung +kunft, die selbst nicht mehr als Substantiv verwendet wird, sind darüber allesamt nicht rezent, meist idiomatisiert und vor allem nicht produktiv.


(56)(vgl. Augst 2009; Kluge 2011; Pfeifer 2000; DWB)


VNAInfinitivnominalisierung
% = archaisch oder auf regionale Varietäten beschränkt# = potentielle Bildung, nicht lexikalisiertid. = idiomatisiert, Bedeutung nicht systematisch* = nicht mögliche oder blockierte Bildung
%abkommen1 (17. Jh.) ‚herkommen‘%Abkunft (17. Jh.) / Abkömmling%abkünftig*Abkommen
%abkommen2 (17. Jh.) ‚wegkommen‘*Abkunft(un)abkömmlichAbkommen (id.) (17. Jh.) urspr. ‚von Schuld abkommen‘
ankommen1Ankunft/ %Ankömmling (arch.)ankommend/*ankünftig#Ankommen
ankommen2 (gegen) (id.)*Ankunft#ankommend/*ankünftigAnkommen
ankommen3 (auf)*Ankunft#ankommend/*ankünftig*Ankommen
aufkommen*Aufkunftaufkommend/ aufgekommen#Aufkommen
aufkommen (id.) ‚zusammenkommen‘*Aufkunft*aufkommend/ *aufgekommenAufkommen (id.)
auskommen1 (id.) (mit etw.)*Auskunft%auskömmlich (arch.) / *auskünftig / #auskommendAuskommen (id.)
auskommen2 (mit jdn.) (id.)*Auskunft*auskömmlich/*auskünftig#auskommend%Auskommen (arch.)
*auskommen3 ‚herauskommen‘Auskunft (id.) (15. Jh.)*auskömmlich/*auskünftig*auskommend*Auskommen
beikommen (id.)*Beikunft*beikömmlich#Beikommen
durchkommen1*DurchkunftdurchkommendDurchkommen
durchkommen2 (id.) ‚überleben‘*Durchkunftdurchgekommen#Durchkommen
%einkommen (14. Jh.)Einkünfte/?Einkunft (14. Jh.)(id.)*auskünftig/*einkömmlich/ *einkommendEinkommen (id.) (14. Jh.)
fortkommen*Fortkunft*fortkünftig/*fortkömmlichFortkommen
*fürkommen*Fürkunft*fürkommend*Fürkommen
herkommenHerkunft (id.) (16. Jh.)herkömmlich (id.) / *herkünftig#Herkommen
herunterkommen (id.)*Herunterkunftheruntergekommen/ *herunterkünftig#Herunterkommen
hinkommen%Hinkunft (ö.; ‚Zukunft‘)hinkünftig (id.)#Hinkommen
mitkommen*Mitkunft#mitkommend/ *mitkömmlich#Mitkommen
nachkommen*Nachkunft/ Nachkomme/ Nachkömmlingnachkommend#Nachkommen
niederkommen (id.) (9. Jh.)Niederkunft#niedergekommen/ *niederkünftig#Niederkommen
übereinkommen (id.)Übereinkunft*übereinkömmlich/ *übereinkünftigÜbereinkommen
umkommen (id.)*Umkunftumgekommen#Umkommen
unterkommen (id.)Unterkunftuntergekommen/ *unterkünftig#Unterkommen
vorkommen*VorkunftvorkommendVorkommen (id.)
weiterkommen*Weiterkunft*weiterkömmlichWeiterkommen
wiederkommen?Wiederkunftwiederkommend/ *wiederkünftig#Wiederkommen
(hin)zukommen(*Hin)Zukunft (id.) (9. Jh.)*(hin)zukommend/ zukünftig*(Hin)zukommen
*(zu)rückkommen(*Zu)rückkunft(*zu)*rückkünftig/ zurückkommend#Zurückkommen
zusammenkommenZusammenkunft#zusammenkommend#Zusammenkommen
zuvorkommen*Zuvorkunft/ Zuvorkommenheitzuvorkommend (id.)Zuvorkommen (id.)

Tabelle 1

PartikelverbenPartikelverb

Ich will nur einige Beispiele exemplarisch besprechen, zunächst die 3 Lesarten von auskommen. Den zwei jüngeren, (mit etw./jdn.) auskommen, entspricht das N Auskunft offensichtlich nicht; nur zur letzten Lesart, die synchron gar nicht mehr verwendet wird, existiert das demotivierte Nomen Auskunft. Nur zur ersten Lesart existiert ein nominalisierter InfinitivInfinitiv, dieser idiomatisiert als ein NOMEN ACTI (ein Auskommen haben) bereits im Fnhd. (vgl. Pfeifer 2000). Auch Infinitivbildungen mit der Lesart eines NOMEN (F)ACTI, wie z.B. Aufkommen oder auch Übereinkommen, sind zunächst als syntaktische Konversionen zu betrachten, die mit einer idiomatisierten Bedeutung lexikalisiert wurden, letztere vielleicht in Analogie zum älteren Übereinkunft.1

Adjektive werden zu keiner der drei Lesarten gebildet, jedoch sind für die ersten beiden Partizipien möglich, die prinzipiell lexikalisiert werden könnten; dies gilt natürlich nicht zum nicht mehr verwendeten auskommen3. Zu Adjektivbildungen wie %abkünftig oder zukünftig ist zu sagen, dass sie eher denominal als deverbal gebildet sein müssen, ähnlich wie abkömmlich (2. H. 18. Jh.; vgl. Pfeifer 2000) als DerivationDerivation von dem aufgrund der frühen Idiomatisierung schon vor dem 17. Jh. anzusetzenden lexikalisierten InfinitivInfinitiv gelten sollte. Die geringe Produktivität dieses Musters lässt zudem darauf schließen, dass solche Bildungen in jüngerer Zeit eher der Analogie als einer Wortbildungsregel zuzuschreiben sind. Ähnliches sollte auch für das Muster Abkömmling, Emporkömmling u.ä. gelten.

Produktiv scheinen von diesen Mustern also nur die syntaktischen Bildungen zu sein, jedoch werden sie offenbar nicht sehr häufig lexikalisiert und in den Wortschatz übernommen. Dies wird noch deutlicher bei den Pfx-Vn, zu denen es keine +kunft-Bildungen gibt, allerdings ein einziges Derivat auf -lich mit bekommen2 (etw. bekommt jdm. gut). Außer Entkommen existiert keine Infinitivnominalisierung, während Willkommen die Konversion eines erstarrten Partizips II darstellt (vgl. DWB). Somit ist auch die Infinitivkonversion bei Pfx-V mit komm- nicht sonderlich produktiv.


(57)Präfixverben


VNAInfinitivnominalisierung
be’kommen1 (8. Jh.)*Bekunft#bekommen#Bekommen
be’kommen2*Bekunftbekömmlich#Bekommen
ent’kommen*Entkunft*entkömmlichEntkommen
%über’kommen*Überkunftüberkommen (id.)#Überkommen
ver’kommen*Verkunftverkommen#Verkommen
*willkommen*Willkunftwillkommen(Willkommen)

Tabelle 2

Präfixverben

+kunft-Bildungen sind weder regelbasiert, sodass sie bei Pfx-Vn vorkommen könnten, noch scheinen sie ein geeignetes Vorbild für Analogie, das zu Bildungen mit Ptk-Vn in jüngerer Zeit geführt hätte.

Anders ist dies bspw. bei +gabe. Letzteres Morph wird in der NominalisierungNominalisierung des Pfx-Vs verwendet (58a), obgleich diese Art der Substantivbildung mit einer Ablautform wie auch die nach dem Muster von +kunft im Nhd. unproduktiv ist.2 Ebenso wird es mit neueren, semantisch dekomponierbaren Ptk-Vn verwendet (58b), obgleich Nominalisierungen mit -gabe ebenso wenig für die Dekomposition transparent sind (58c) wie die mit +kunft: Das Substantiv Gabe korreliert zwar formal mit dem SimplexSimplex geb-, hat aber keineswegs das gleiche Ereignisdenotat; während sich Rückgaben, Weitergaben, Übergaben etc. ereignen, ist Gabe zumindest synchron betrachtetet ein NOMEN ACTI.


(58)a.ein Preis wird vergeben – die Vergabe eines Preises
b.Geben Sie das Buch bitte weiter, nicht zurück.
c.#Diese Gabe ist eine Weitergabe, keine Rückgabe.

3.2 NominalisierungNominalisierung vs. Nominalkomposition

Wie könnte diese Asymmetrie erklärbar sein? Die entscheidende Idee für die Beantwortung dieser Frage wurde bereits von Stiebels/Wunderlich (1994: 923f.; 939f.) selbst vorgebracht, wenngleich sie dadurch nur das Auftreten von Wurzelnomina, die ebenfalls keine produktive Klasse mehr darstellen, bei Nominalformen von Ptk-Vn erklären wollten: Substantive, die eine EntsprechungEntsprechung in Ptk-Vn haben, seien nicht zwangsläufig AbleitungenAbleitung (siehe auch Derivation), sondern semantisch mehr oder weniger parallele Nominalkomposita von Präpositionen oder Adverbien mit einer im Lexikon verfügbaren Wurzel, die alternativ zum produktiven verbalen Lexem verwendet werden kann – also ein Allomorph. Natürlich kann diese Sicht auch auf andere Wortbildungsprodukte nach nicht mehr produktiven Regeln, wie die Bildungen Wurzel(allomorph) + e (Gabe, Suche) oder Wurzel(allomorph) + t (Sicht, Kunft) ausgeweitet werden.

Für diese Analyse sprechen verschiedene Argumente: Da Nominalkomposita immer auf dem Erstglied betont werden (59a), ist der WortakzentWortakzent kein Indiz für ein Ptk-V als Ableitungsbasis (59b); nicht zuletzt existieren auch Nominalkomposita, die auf dem Erstglied betont sind und die eine Parallele in einem Pfx-V haben (59c).


(59)a.’Umweg, ’Vorzimmer, ’Überbett(Stiebels/Wunderlich 1994: 923)
b.’Umgang, ’Vorstand, ’Übergang
c.über’nehmen vs. ’Übernahme

Präfigierte deverbale Substantive sind dagegen nicht auf dem Erstglied betont:


(60)Ver’gabe, Ent’nahme(ibd. 924)

Die Existenz von Nominalkomposita, die parallel zu Ptk-Vn verwendet werden, scheint nicht nur plausibel, weil oft Substantive verwendet werden, deren AbleitungAbleitung (siehe auch Derivation) vom Basisverb intransparent ist – wie z.B. Sicht vs. seh- (61a). Sie ist auch evident, wenn das KompositumZusammensetzung (siehe auch Kompositum)Kompositum nicht mit dem Wurzelnomen sondern mit einem ge-präfigierten deverbalen Nomen gebildet wird (61b+c).

 

(61)a.durchsehen vs. Durchsicht: [N durchAdv + sichtN]
banbieten vs. Angebot: [N anP + gebotN](ibd. 939f.)
c.anquatschen vs. Angequatsche: [N anP + gequatscheN]

Da KompositionKomposition rekursiv durchführbar ist, Iteration von V-Ptkn jedoch nicht möglich ist, existieren zu entsprechenden Substantiven keine parallelen Ptk-Vn (vgl. Stiebels/Wunderlich 1994: 940):


(62)a.Vorabdruck, Wiederanspiel, Überangebot, Oberaufsicht
b.*vorabdrucken, *wiederanspielen, *überanbieten, *oberbeaufsichtigen/ *oberaufsehen

Der Rückgriff auf alternative Morphe erklärt aus unserer Sicht nicht nur die Möglichkeit der Verwendung des Allomorphs [gabe] für deverbale Bildungen trotz der semantischen Einschränkung des Substantivs Gabe. Es eröffnet sich auch eine Erklärung für die nicht-produktivität von Bildungen mit +kunft.

Das Substantiv Kunft ist als deverbales Nomen bezeugt seit dem 8. Jh., ebenso wie das ahd. Adjektiv kumftīg (vgl. Kluge 2011). Ursprünglich hatte es ein Ereignisdenotat.


(63)sine cunft was so wunderlich(Anf. 12. Jh.; MSD 101; vgl. DRW)
≈ ‚Sein Kommen war wie ein Wunder.‘

Dass *kunft als selbständiges Substantiv nicht mehr vorhanden ist und zugleich Nominalbildungen mit +kunft unproduktiv sind, legt nahe, dass die KompositionKomposition mit einer/m Wurzel(allomorph) zur Bildung einer dem Ptk-V parallelen Form von der Verfügbarkeit des Substantivs im Lexikon abhängt. Aus systematischer Sicht ist das nicht weiter verwunderlich, da diese Bildungen als KompositaKompositum selbständige Glieder voraussetzen, will man nicht die sog. KonfixeKonxif ins Spiel bringen, die hier ja aber ohnehin nicht vorliegen. Augenscheinliche Ptk-V-NominalisierungenNominalisierung sind zwar nicht einfach Nominalkomposita – andernfalls wären ereignisdenotierende Substantive wie Weitergabe nicht möglich. Es liegt aber die Verwendung eines Allomorphs vor, das das Vorhandensein eines entsprechenden Nomens voraussetzt; aus diesem Grund sind Bildungen mit +kunft nicht mehr produktiv.

Wenn nun, wie oben vorgeschlagen, syntaktisch völlig eigenständige V-Ptkn eigentlich resultative sekundäre Prädikate in Form lexikalischer Kategorien (Adv, Adj) sind (64a+b), so sind die zum komplexen Prädikat parallel existierenden Substantive mit dem InfinitivInfinitiv kommen folgendermaßen zu analysieren: Mangels zur NominalisierungNominalisierung verwendbarem Allomorph steht als einzige Nominalform der Infinitiv zur Verfügung (64c).


(64)a.[AdvP Wesentlich weiter als erhofft] sind wir wieder nicht gekommen.
b.Wir sind heute [AdvP wesentlich weiter als erhofft].
c.Wir hofften auf ein Weiterkommen/ *eine Weiterkunft.

Hierfür spricht meines Erachtens auch die prinzipielle Erweiterbarkeit durch zusätzliche Glieder, wie z.B. Adverbiale.


(65)a.Schon wieder kamen die selben Fragen auf.
b.Das Wiederaufkommen von Fragen ist für solche Arbeiten typisch.
c.?Das Schonwiederaufkommen der selben Fragen überrascht also nicht.

Somit sind, systematisch betrachtet, augenscheinliche NominalisierungenNominalisierung solcher „PartikelverbenPartikelverb“ durch den InfinitivInfinitiv eigentlich Zusammenrückungen bzw. Phrasenkomposita, also ebenfalls syntaktisch motivierte Bildungen.