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Wortbildung im Deutschen

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Abkürzungsverzeichnis


ABLAblativ
AKKAkkusativ
DATDativ
[DIK]türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen
[ECEK]türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen
GENGenitiv
NEGNegation
PLPlural

Literatur

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Quellen für Sprachbelege: Internetquellen

(in der Reihenfolge des Vorkommens im Text; zuletzt aufgerufen 30.03.2015):

beim gemeinsamen Kuchenbacken: www.altefeuerwache-wuppertal.de/loeschblatt_1/foerderverein.html

die Sache mit dem Frühaufstehen: http://lumma.de/2014/04/18/die-sache-mit-dem-fruehaufstehen/

Genderkritisches Kindererziehen: andersdeutsch.blogger.de/stories/2078592/

Tipps fürs Kaffeekochen: www.vox.de/cms/themen/kochen/ernaehrung/tipps-fuers-kaffeekochen.html

beim Pornos gucken aufm Handy: twitter.com/LarsChaos/status/160006466491793408

beim heimlich Lauschen: http://blog.fabylon-verlag.de/2007/10/

stellt euch einfach schlauer an beim heimlich Pornos gucken: www.lovetalk.de/kummer-und-sorgen/98306-vater-lebt-hinter-dem-mond-d.html

Technik zum heimlich Filme aufnehmen: www.android-hilfe.de/7475413-post10.html

das tägliche Brote schmieren, Hausaufgaben kontrollieren und Vokabel abfragen wird uns für ein paar Wochen erlassen: www.yumpu.com/de/document/view/1971820/aus-der-asendung-mit-der-mausa-elternzeitung-luftballon

[…] obwohl das „sich einfach nicht mehr meldennur von ihm ausging: www.elitepartner.de/forum/kinder-die-ohne-vater-aufwachsen-welche-folgen-fuer-die-kinder-45101-2.html

Dass einen in der ÖVP das „offen seine Meinung“ Sagen schon zur „Kapazität“ macht […]: http://derstandard.at/3115490 (Kommentare)

Und das sich ständig beklagen […], das kann ich nachvollziehen: http://www.kambodscha.don-kong.com/2011/10/06/nachtrag-zum-letzten-bar-girl-fall.html

für mich ist das ständige sich-Beklagen-über-alles DIE typisch deutsche Eigenschaft schlechthin: http://frauansku.wordpress.com/page/64/

Viel Spass schon ma beim Geld für Laser sammeln, Herr […]: www.facebook.com/Sillaofficial/photos/a.407905225894426.100927.129741027044182/518566734828274/?type=1

[…] Musik, die sich perfekt beim Für-die-Party-Zurechtmachen hören lässt, […]: www.madonnahiphopmassaker.de/info/

Habe mir heute beim fürs Mittagessen gemüseschneiden so stark in den Daumen geschnitten […]: http://forum.nfsplanet.com/showthread.php?p=330713

weil mein auf ihn einreden echt überhaupt nichts bringt: www.dogforum.de/index.php/Thread/185340-Hund-greift-meinen-immer-an/

 

[…] zunächst, um Jedem beim Sich-Einander-Vorstellen in spaßvoller und interaktiver Weise zu helfen […]www.gmg-materialien.de/?q=Bulletin-0238

dass Dir genau dieser Zustand und das Sich-ständig-beklagen-können besonders gefällt: http://forum.giga.de/politik-kultur-und-wirtschaft/3419-sinn-des-lebens-35.html

Das Sich-Verstecken-Wollen sei ein Merkmal seiner Kunst: Fuldaer Zeitung vom 30. April 2014, zitiert nach www.kleinsassen.de/gal-2014/frmey02.php

[…] das „nichts gesehen haben wollen“: www.rennrad-news.de/forum/threads/vorfall-mit-polizeiruf.89562/

Heute vormittag waren wir auch noch kurz Pilze fürs Mittagessen sammeln und es gab soooo viele :o: www.erziehung-online.de/forum/monats-threads/__-februar-mamis-2006-__/1825/

beim Pilzesammeln für den privaten Bedarf: www.italienforum.de/cgi-bin/yabb2/YaBB.pl?action=print;num=1227956508

Der Einfluss von SprachkontaktSprachkontakt und SilbenstrukturSilbenstruktur auf die WortbildungWortbildung

Roland Hofer

Abstract

The following paper deals with the influence of language contact and syllable structure on word formation. It focuses on the different influences on word formation in language contact, as shown by suffix formation in Swiss German.

The best known interference in language contact is that on the lexical level: Loanwords. Besides this, suffixes and word formation patterns can also be borrowed: For example the collective suffix -ere in Swiss German, a loan suffix from the Latin suffix -āria.

Finally, borrowings are also possible on the phonetic-phonological level: Language contact can have effects on the syllable structure of languages: The large amount of different diminutive suffixes in Swiss German can be explained in this way.

1 Einleitung

Thema des vorliegenden Aufsatzes sind die verschiedenen Einflüsse auf die WortbildungWortbildung in Sprachkontaktsituation, dargestellt anhand der SuffixbildungSuffixbildung im SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch.

Treffen zwei verschiedene Sprachen aufeinander, werden diese gewissen Interferenzen ausgesetzt. Am bekanntesten sind solche gegenseitigen Einwirkungen wohl auf lexikaler Ebene (Stichwort LehnwortLehnwort), daneben sind aber auch solche auf morphologischer (Stichworte LehnsuffixLehnsuffix, Lehn-WortbildungsmusterWortbildungsmuster) und auf phonetisch-phonologischer Ebene zu verzeichnen: Treffen nämlich verschiedene Sprachtypen mit unterschiedlicher SilbenstrukturSilbenstruktur zusammen (z.B. eine Wortsprache auf eine Silbensprache oder die Silbensprache X auf die Silbensprache Y), so kann auch die Silbenstruktur (der einen Sprache) Einfluss auf die WortbildungWortbildung (der anderen Sprache) haben.

Die Interferenzen auf den letzten zwei Ebenen sollen im Folgenden anhand von ein paar verschiedenen schweizerdeutschen Suffixen dargelegt werden.

2 Neue Suffixe durch EntlehnungEntlehnung

Exemplarisch soll hier das LehnsuffixLehnsuffix schwzd. -ere < mhd. -erra, -er(r)e < ahd. -arra < lat./roman. -āria vorstellt werden (vgl. Hofer 2012: 92; Sonderegger 1958: 471f.; Szadrowsky 1938: 31; Bach 1952–1956, II/1: 198). Das Suffix schwzd. -ere hat, entsprechend seinem lateinisch/romanischen Vorbild, kollektive Funktion und die Bildungen damit sind ausschliesslich desubstantiv, d.h. ihre Basis ist eine Sache. Das Suffix verbindet sich in der Regel mit Pflanzenbezeichnungen, Tierbezeichnungen, Bezeichnungen für Mineralien oder für sonstiges Erdmaterial (Hofer 2012: 92; vgl. Beispiele unten).

Das Suffix -ere ist in der schweizerdeutschen, insbesondere in der westschweizerdeutschen Toponymie weit verbreitet: Damit gebildete FlurnamenFlurname sind vor allem sogenannte Standortkollektiva, d.h. sie zeigen den räumlichen Bereich an, wo die in der Derivationsbasis genannte Sache von Natur aus in großer Menge vorhanden ist, angepflanzt oder abgebaut wird (Hofer 2012: 92, 208; Sonderegger 1958: 471; Bach II/1, 198). Beispiele dafür aus dem bernischen Namengut sind Nesslere ‚Stelle, wo viele Nesseln wachsen‘, Dinklere ‚Stelle, wo Dinkel angebaut wird‘, Fröschere ‚Ort, wo viele Frösche sind‘, Dräckere ‚Stelle, wo viel Dreck, Morast ist‘, Chalchere ‚Ort, wo viel Kalk vorhanden ist/gebrannt wird‘, Leimere ‚Stelle, wo viel Lehm ist, Lehmgrube‘ (Hofer 2012: 97, 100f., 103, 105–108).

Mit den lateinischen Suffixen -ārius m., -āria f. und -ārium n. wurden ursprünglich Zugehörigkeitsadjektive von Sachbezeichnungen gebildet (z.B. ferrārius ‚zum Eisen gehörig‘). Schon im Lateinischen entstanden durch Ellipse von Bezugswörtern wie z.B. faber ‚Verfertiger‘ zahlreiche Substantivierungen: faber ferrārius ‚Schmied‘ > ferrārius ‚Schmied‘ (vgl. Lühr 2008: 44f., 120).

Substantivierte Bildungen im Femininum und Neutrum dienten dann im späteren Lateinischen bzw. im Romanischen v.a. als Bezeichnungen für Örtlichkeiten, wo z.B. ein Gegenstand vorkommt, hergestellt, verkauft wird, Orte für Tieraufzucht usw., z.B. arēnāria ‚Sandgrube‘, calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘, ficćria ‚Feigenpflanzung‘ oder oviāria ‚Schafzuchtbetrieb‘ (Lühr 2008: 52f.; Meyer-Lübke 1894: 509–512). Überaus produktiv wird das Suffix -āria im Romanischen, insbesondere in Verbindung mit Pflanzenbezeichnungen (Meyer-Lübke 1894: 511f.).

Zum Entlehnungsprozess (Hubschmied 1940: 29f.; Szadrowsky 1938: 37–41): Das lateinish-romanische Suffix -āria wurde von den Alemannen nicht als isoliertes Suffix übernommen, sondern in Verbindung mit verschiedenen Wörtern. Vorbilder von auf -ere ausgehenden schweizerdeutschen FlurnamenFlurname sind lateinische/romanische Bildungen wie z.B. lat. calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘ bzw. darauf basierende romanische Flurnamen. Die Alemannen übernahmen so auch die Funktion des Suffixes und wandten es nach dem romanischen Muster auch an eigenem Wortgut an. Schweizerdeutsche Flurnamen wie Chalchere können also entweder direkt auf eine rein romanische Bildung calcāria zurückgehen (roman. calcāria > schwzd. Chalchere mit Reduktion von roman. -āria zu schwzd. -ere aufgrund des deutschen Initialakzents und durchgeführter zweiter Lautverschiebung von roman. c > schwzd. ch), oder können, was in den meisten Fällen wahrscheinlicher ist, auch jüngere, rein schweizerdeutsche Bildungen sein: Calch + -ere > Chalchere (Hofer 2012: 94).

3 EntlehnungEntlehnung von WortbildungsmusternEntlehnung von Wortbildungsmustern

Durch SprachkontaktSprachkontakt können wie eingangs angetönt neben Wörtern und Suffixen auch WortbildungsmusterWortbildungsmuster entlehnt werden. Konkret geht es hier um das in der schweizerdeutschen Toponymie weit verbreitete Wortbildungsmuster, mittels Movierung den Besitz oder Wohnsitz einer Person/Familie (auch einer Gemeinschaft oder Institution) anzuzeigen, z.B. Müllere f. ‚Besitz (Wiese, Hof usw.) der Familie Müller‘. Die Basis bildet hierbei meist ein Familienname, der auf -er ausgeht (Hofer 2012: 119).

Movierung mittels Suffixableitung wird im appellativen Bereich bekannterweise dafür verwendet, um aus persönlichen maskulinen Bildungen feminine Bildungen zu machen (Bußmann 2008: 458). Im SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch wird neben dem (mit nhd. -in identischen) Suffix -i(n), z.B. Lehreri(n) f., auch mit dem Suffix -(er)e moviert, z.B. Lehrer m. – Lehrere f., FN Kopp m. – Koppere f. ‚Frau (des Herrn) Kopp‘ (Hofer 2012: 119; SDS III, 159f.).

Es ist nun nichts Außergewöhnliches, dass Bildungen in der Toponymie neue oder andere Funktionen erhalten können, die sie im normalen Sprachgebrauch nicht haben. Beispielsweise werden Diminutivbildungen in der SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch Toponymie oft nicht dafür benutzt, um die Kleinheit einer Flur hervorzuheben, sondern um damit die geographische Lage bzw. Zugehörigkeit zu einer anderen Flur anzuzeigen, z.B. in Langnau im Emmental Büelti neben Büel, in Brienzwiler Schlusselti neben Schlussel usw., wobei das Grundstück mit dem DiminutivsuffixDiminutivsuffix im Namen flächenmäßig nicht unbedingt kleiner sein muss als das andere (Hofer 2012: 31, 55; cf. auch Odermatt 1903: 59). Weiter können auch unveränderte und unflektierte Personennamen bzw. Familiennamen als besitzanzeigende oder wohnsitzanzeigende FlurnamenFlurname stehen, v.a. bekannt im Berner Oberland: Flurname Wäfler (4 Häuser in Frutigen; zum Familiennamen Wäfler), Flurname Schuler (Heimwesen in Adelboden; zum Familiennamen Schuler) oder Flurname Balsiger (Weide in Reichenbach; zum Familiennamen Balsiger) (Hofer 2012: 120; Hubschmied 1940: 49f.).

Eine neue Funktion hat nun auch die Movierung in der schweizerdeutschen Toponymie angenommen, nämlich die Funktion der Besitzanzeige. Solche movierte feminine Bildungen sind v.a. im Westschweizerdeutschen, insbesondere in den Kantonen Bern und Freiburg, also in Sprachgrenzregionen, sehr häufig (Szadrowsky 1938: 35; Hofer 2012: 119–167). Vorlage für solche schweizerdeutschen FlurnamenFlurname sind die im Romanischen, im Französischen und in der Romandie (der französischsprachigen Schweiz) häufigen besitzanzeigenden femininen Toponyme, gebildet mit unterschiedlichen Suffixen: Richardière ‚Besitz, Wohnsitz eines Richard m.‘, La Perretta f. ‚Gut, Alp eines Perret m.‘, La Philipona f. ‚Gut, Alp eines Philipon m.‘ (Hubschmied 1938: 722; Hubschmied 1940: 51; Vincent 1937: 274f.; Muret 1930: 89f.; Hofer 2012: 209f.).

In diesem Fall wurde von den Alemannen also nicht ein Suffix entlehnt, sondern das Muster. D.h. die Motionsbildung wurde mit Mitteln aus der eigenen Sprache dem romanischen Muster lediglich nachempfunden (Hofer 2012: 210); konkret mit eigenem Suffix schwzd. -e < ahd. -(i)a < germ. *-(j)ōn (cf. Henzen 1965: 134, 163), das an mask. Bildungen mit -er-Auslaut angehängt wurde.

Dadurch, dass der Ausgang dieser movierten femininen Bildungen die gleiche Lautgestalt hat wie bei den Kollektivbildungen auf -ere, entsteht die Schwierigkeit, die Bildungen auseinanderzuhalten: Der bernische FlurnameFlurname Haslere kann demnach als ‚Stelle, wo viele Haselstauden wachsen‘ oder ‚Besitz der Familie Hasler‘ gedeutet werden (Hofer 2012: 183). Abhilfe schaffen kann in solchen Fällen die Realprobe oder die Familiennamenforschung.

4 Neue Suffixe durch Einfluss auf der Ebene der SilbenstrukturSilbenstruktur

Die Schweiz beherbergt wohl die größte Suffixvielfalt des ganzen deutschen Sprachraumes. Dies wird im Bereich der Diminution besonders deutlich. Während beispielsweise im StandarddeutschenStandarddeutsch Verkleinerungsformen mit -chen und -lein gebildet werden, verfügt das Schweizerdeutsche über eine ungleich größere Palette, Diminutiva abzuleiten (Hofer 2012: 12). So gibt es neben dem üblichen und am weitesten verbreiteten DiminutivsuffixDiminutivsuffix -(e)li (Mätteli ‚kleine Matte‘, Hüsli ‚Häuschen‘) auch noch die vor allem im Berner Oberland, im Wallis, in der Zentralschweiz und in Graubünden vorkommenden Verkleinerungssuffixe -i (Öpfi ‚Äpfelchen‘), -ti (Tälti ‚Tälchen‘), -elti (Brüggelti ‚Brücklein‘), -etli (Alpetli ‚kleine Alp‘) und die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe -ji (Lammji ‚Lämmchen‘), -si (Mundsi ‚Küsschen‘), -schi (Hundschi ‚Hündchen‘), -tsi (Manntsi ‚Männchen‘) und -tschi (Hüentschi ‚Hühnchen‘).

 

Wie erklärt sich nun diese Suffixvielfalt? Voraussetzung dafür ist der SprachkontaktSprachkontakt von Alemannen und Romanen, genauer frankoprovenzalisch sprechenden Menschen. Schauen wir uns die Entstehung dieser Suffixe genauer an (cf. Abb. 1): Ausgangssuffix all dieser DiminutivsuffixeDiminutivsuffix ist ahd. -ī(n). Verbindet sich dieses mit einem Wort mit ahd. -il-Auslaut, entsteht die Lautverbindung ahd. -ilīn (z.B. ahd. leffil ‚Löffel‘ - leffilīn ‚Löffelchen‘), die sich dann selbständig machen kann und als eigenständiges Suffix produktiv wird: Suffix ahd. -ilīn (z.B. in ahd. kindilīn).

Abb. 1

Suffixstammbaum (aus: Hofer 2012: 86)

Folgendes (vereinfachtes) Szenario der Entwicklung der walserischen DiminutivsuffixeDiminutivsuffix ist nun denkbar: Als die Alemannen vor dem Jahr 1000, aus dem Berner Oberland kommend, ins das romanisch sprechende bzw. von Romanen besiedelte Wallis (heutiges Deutschwallis) vorstießen (cf. Abb. 2), brachten sie auch ihr Suffix ahd. -ilīn dorthin. Das langjährige Neben- und Miteinander von Alemannen und Romanen im Wallis führte naturgemäss zu Interferenzen. Das Suffix ahd. -ilīn wurde im romanischen Mund zu altwalliserdeutsch *-(i)(n) und schließlich zu walliserdeutsch -ji gewandelt (Hofer 2012: 63): Der deutsch lernende Romane (wir befinden uns ja im späteren Deutschwallis) sprach das von den Alemannen mitgebrachte ahd. *huntilīn also als *hundijīn aus. Fällt das -i- später aus, ergibt sich heutiges walliserdeutsch Hundji ‚Hündchen‘.

Diese sog. -l-Palatalisierung betraf nun nicht nur das althochdeutsche Suffix. -ilīn, sondern allgemein die althochdeutsche Phonemfolge -il + Vokal (Haas 1983: 1112). Somit waren auch andere Suffixe davon betroffen, z.B. ahd. -ila, cf. ahd. distila f. ‚Distel‘ > walliserdeutsch Distja (cf. Moulton 1941: 41). Wieso nun diese Palatalisierung? Sie ist ein Resultat des Einflusses der romanischen Substratsprache, genauer des Frankoprovenzalischen (Moulton 1941: 32f. u. 41f.). Die Lautfolge -ilīn scheint nicht in die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur zu passen. D.h. der deutsch lernende Romane passte diese Lautverbindung -ilīn der eigenen Silbenstruktur an, indem er das -l- vokalisierte. -l-Vokalisierung ist typisch für die romanischen Sprachen, man vgl. dazu postkonsonantisch in den Lautverbindungen cl, gl, pl, bl, fl, z.B. lat. flamma > ital. fiamma, und intervokalisch, z.B. lat. filia > frz. fille [fij] (cf. Meyer-Lübke 1890: 345–351, 435–439; Rheinfelder 1976: 200).

Abb. 2

Besiedlung der Schweiz (aus: Zinsli 1971: 49)

Das neue durch -l-Palatalisierung entstandene Suffix -ji ist wiederum Grundlage der meisten anderen Suffixe (cf. Abb. 1). Je nach Lautumgebung entwickeln sich daraus die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe -si, -schi oder -ti (Letzteres nach -l-Auslaut, Genaueres dazu und zu den Suffixen, die hier nicht behandelt werden, siehe Hofer 2012: 45–82), je nach Region oder Intensität des Sprachkontaktes kann das Suffix -ji aber auch unverändert bleiben (Hofer 2012: 78). Daher finden sich auf engem Raum im Wallis mehrere Formen noch heute nebeneinander, z.B. Hundji neben Hundsi und Hundschi (cf. SDS III, 156).

Tritt das Suffix -ji an einen d-Auslaut an, ergibt sich die Lautfolge -dji-. Diese ist im Romanischen phonotaktisch nicht zulässig und führt zudem zu einem „schlechten“ SilbenkontaktSilbenkontakt (s. dazu weiter unten) und damit zu einer „schlechten“ SilbenstrukturSilbenstruktur. Phonotaktik ist der Bereich der Phonologie, der sich mit möglichen und unmöglichen Kombinationen von Segmenten in einer Sprache befasst: /pft/ z.B. ist im DeutschenDeutsch nur im Silbenauslaut (er hüpft), nicht aber im Silbenanlaut zulässig (Hall 2000: 60; Bussmann 2008: 528).

Die Romanen passen nun auch diese Lautfolge an die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur an, indem sie den „schlechten“ SilbenkontaktSilbenkontakt und die phonotaktische Hürde beseitigen, und zwar mittels Assibilierung (auch Assibilation, zu lat. ad ‚hinzu‘ und sībilāre ‚zischen‘), einer Zischlautentwicklung u.a. zwischen Dental und -i/-j (Bussmann 2008: 64f.; Knobloch 1986: 182f.; Abraham 1988: 64). Dies führt dann nach Ausfall des -j- zu den neuen Suffixen schwzd. -si und -schi: Hund-ji > Hund-s(j)i > Hund-si bzw. Hund-ji > Hund-sch(j)i > Hundschi (Hofer 2012: 76, 79f.).

Man vgl. dazu ähnliche Assibilierungsfälle: lat. generatio > nhd. Generation [-tsion] bzw. frz. génération [-siõ]; oder die bernischen FlurnamenFlurname Bütschel < altfrankoprovenzalisch *pudzyol, assibiliert aus lat./roman. *podiolum ‚kleine Anhöhe‘, DiminutivDiminutiv von lat. podium ‚Erhöhung‘ (cf. BENB I/4, 767f.).

Die Suffixe -si, -schi und auch -ji sind also als romanisch-alemannische Interferenzerscheinungen zu werten, sie sind lautbestimmte Suffixe, die aus der Anpassung von für den Romanen fremden Lautverbindungen an die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur resultieren (Hofer 2012: 79f., 83).

Solche eben beschriebenen Vorgänge (Verbesserung des Silbenkontakts, phonotaktische Vereinfachung) sind typisch für Silbensprachen. Sie tendieren dazu, die Silbe bzw. die SilbenstrukturSilbenstruktur zu optimieren. Als Silbensprachen gelten insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch das Schweizerdeutsche (insbesondere das Walliserdeutsche) und das Althochdeutsche. Im Gegensatz dazu gilt das Neuhochdeutsche als Wortsprache (Nübling/Schrambke 2004: 281–286, 293–299; Nübling 2008: 17, 22–24; Szczepaniak 2007: 317–325). Es ist hier noch anzumerken, dass nicht jede Silbensprache alle möglichen Merkmale einer Silbensprache besitzen muss; auch kann eine bestimmte Silbensprache ein typisches silbensprachliches Merkmal aufweisen, welches aber andere Silbensprachen nicht notwendigerweise auch enthalten müssen (cf. Nübling/Schrambke 2004: 285).

Zur Analyse des „schlechten“ Silbenkontakts /d.j/ werden hier zunächst ein paar silbenstrukturelle Ausführungen benötigt. Eine optimale Silbe besteht aus einem starken Konsonanten (C) im Silbenonset (cf. Abb. 3), einem Vokal (V) im Silbennukleus (Silbenkern) und einer leeren Silbenkoda (Silbenauslaut, Silbenendrand). Dies führt also zu sog. CV-Silben wie z.B. [ta], die am leichtesten aussprechbar sind (Vennemann 1986: 33; Nübling 2008: 17).

Abb. 3

Sonoritäts- bzw. Stärkeskala (vereinfachte Abb. nach Nübling 2008: 15 u. Vennemann 1986: 36)

Vokale haben naturgemäß die größte Sonorität (auch Schallfülle: relative Lautheit eines phonologischen Segments, cf. Restle/Vennemann 2001: 1310; Bussmann 2008: 633). Je weniger sonor ein Konsonant ist, desto höher ist seine konsonantische Stärke.

Wenn man die Stärkeskala mit numerischen Werten versieht, kann man den SilbenkontaktSilbenkontakt /k1.k2/ berechnen (cf. Abb. 4).

Abb. 4

Stärkeskala mit numerischen Werten (nach Restle/Vennemann 2001: 1318)

Je größer die Differenz in der konsonantischen Stärke zwischen k2 und k1 ist, desto besser ist der SilbenkontaktSilbenkontakt (Vennemann 1986: 39–42; Hall 2000: 227; Restle/Vennemann 2001: 1317). Das heisst also, je grösser also k2 – k1 ist, desto besser ist der Silbenkontakt. Bspw. hat nhd. /hal.ten/ einen sehr guten Silbenkontakt: Das /t/ ist mit dem numerischen Wert 6 ist k2, das /l/ mit dem numerischen Wert 3 ist k1 (k2 – k1 = 3). Aneinandergereihte CV.CV-Silben wie */ta.ta/ haben den besten Silbenkontakt (6–0 = 6; unter Ergänzung des Werts Null für den Vokal /a/ in der Abb. 4).

Schauen wir uns das jetzt exemplarisch am schweizerdeutschen Suffix -schi an: /Hund.ji/ (-4 = sehr schlechter SilbenkontaktSilbenkontakt) > /Hun.dschi/ (1 = guter Silbenkontakt) > /Hun.tschi/ (2 = guter Silbenkontakt). Durch Assibilierung hat sich also der Silbenkontakt enorm verbessert (Hofer 2012: 80). Zudem wird dadurch die Silbengrenze zu Ungunsten der Morphemgrenze verschoben, was ein typisches Merkmal von Silbensprachen ist (Nübling/Schrambke 2004: 281f.). Es ist hier die romanische Segmentierung angegeben, da es eine romanische Entwicklung ist und /tsch/ im Romanischen als Silbenonset phonotaktisch zulässig ist. Im DeutschenDeutsch hingegen scheint dies nicht der Fall zu sein, cf. nhd. rutschen oder Bratsche, die als /rut.schen/, /Brat.sche/, nicht als /ru.tschen/, /Bra.tsche/ silbifiziert werden; die Lautfolge /tsch/ ist im Deutschen sekundär entstanden, cf. nhd. rutschen < spätmhd. *ruckezen, Intensivbildung zu nhd. rucken (Lexer II, 559; DWB VIII, 1568f.; Id. VI, 1856–1859), durch Vokalausfall, cf. ahd. diutisc > nhd. deutsch (Kluge 2002: 193f.; Starck/Wells, 1971–1990, 103), oder aus Fremdwörtern, cf. nhd. Bratsche < ital. viola da braccio, zu lat. brac(c)hium ‚Arm‘ (Kluge 2002: 146).

Durch die Verbesserung des Silbenkontakts und die Verschiebung der Silbengrenze sind die Voraussetzungen gegeben, erneut ein neues Suffix zu generieren, nämlich schwzd. -tschi, und zwar durch Verschmelzung von -d-/-t-Auslaut mit dem neuen Suffix -schi und anschliessender morphologisch falscher Ablösung (Hofer 2012: 75, 80): Hund-schi > Hun-dschi bzw. fortisiert Hun-tschi. Das Suffix kann sich dann verselbständigen und produktiv werden, z.B. SchafSchaf-tschi ‚Schäfchen‘.

Dieser eben beschriebene Vorgang (Verschmelzung und falsche Ablösung) ist in der Bildung von Diminutivsuffixen häufig (Hofer 2012: 60, 62, 236), cf. die Entstehung der Suffixe schwzd. -li (ahd. leffil-īn > leff-ilīn; ahd. -ilīn > schwzd. -(i)li; s. auch oben) oder schweizerdeutsch -elti (Stafel-ti ‚kleine Alphütte‘ > Staf-elti; das abgelöste Suffix -elti wird dann produktiv, z.B. in Brügg-elti ‚kleine Brücke‘).