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Literatur und Mehrsprachigkeit

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Beispiele für den Umgang mit anderssprachiger Figurenrede im Roman finden sich in den westlichen Literaturen auch und gerade im angeblich so sehr von nationalistischer Einsprachigkeit geprägten 19. Jahrhundert unzählige. So ist für Victor HugosHugo, Victor Roman Notre-Dame de Paris (1831) gezeigt worden, dass er durch die Mischung von zeitgenössischem Französisch, Latein und französischen Archaismen in Erzähler- wie Figurenrede den Eindruck erwecken kann, tatsächlich spätmittelalterliches Französisch wiederzugeben (HelmichHelmich, Werner, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 68). Teils verbindet sich die Darstellung anderssprachiger Rede nach wie vor mit humoristischen Effekten – etwa dann, wenn bei BalzacBalzac, Honoré de der Akzent deutschsprachiger Figuren im Französischen durch die Erfindung einer (den sprachlichen Realitäten allerdings kaum gerecht werdenden) Transkription dargestellt wird (siehe III.1); oder wenn in Gustave FlaubertsFlaubert, Gustave Madame Bovary (1856) der Apotheker Homais lateinisch radebrecht. Anderssprachige Figurenrede findet sich im realistischen Erzählen des 19. Jahrhunderts aber auch jenseits des Humoristischen an vielen Stellen, beispielsweise in Alessandro ManzonisManzoni, Alessandro I promesi sposi (1827), wenn das Spanische benutzt wird, um den Inhalt der Rede vor den Italienern zu verbergen. Theodor StormsStorm, Theodor Erzählungen spielen vielfach mit der punktuellen Wiedergabe einzelner Figurenrede auf Niederdeutsch (zum Dialekt im deutschen Realismus siehe WeningerWeninger, Robert, »Zur Dialektik des Dialekts im deutschen Realismus«); ähnliches findet sich in Texten Wilhelm RaabesRaabe, Wilhelm, die überdies viele anderssprachige, meist lateinische Zitate enthalten (siehe das erste Anwendungs-/Analysebeispiel in III.3). In FontanesFontane, Theodor Gesprächsromanen begegnet anderssprachliche Figurenrede vor allem in den westeuropäischen Bildungssprachen Englisch, Französisch und Latein (siehe GrätzGrätz, Katharina, »›Four o clock tea‹«), zumal oft in Form von (Bildungs-)Zitaten. Demgegenüber findet in amerikanischen Romanen des 19. Jahrhunderts auch eine Auseinandersetzung mit Sprachen statt, die jenseits des bildungssprachlichen europäischen Horizonts zu verorten sind. So kontrastieren die Leatherstocking Tales (1832–1841) von James Fenimore CooperCooper, James Fenimore das Englische mit Figurenrede in indigenen amerikanischen Sprachen – und folgen in der Figurenzeichnung einer ambivalenten, implizit kolonialen Kulturpolitik, die beispielsweise die ›Vielzüngigkeit‹ mit mangelnder Ehrlichkeit konnotiert (RosenwaldRosenwald, Lawrence A., Multilingual America, 20–47). MelvillesMelville, Herman Roman Moby Dick (1851), der vor allem Soziolekte des Englischen und Sprechweisen von Nicht-Muttersprachlern im Englischen kontrastierend nebeneinander stellt, lässt sich nachgerade als Bestandsaufnahme einer globalen Kolonialisierungsbewegung auffassen (LeeLee, Maurice S., »The Language of Moby-Dick«). Als Extremfall eines Erzähltextes mit manifest wiedergegebener mehrsprachiger Figurenrede aus dem 19. Jahrhundert gilt Prosper MériméeMérimée, Prospers Novelle Carmen (1847). Neben der französischen Grundsprache der Erzählung finden sich hier Spanisch, Baskisch und schließlich Romani (UllmannUllmann, Stephen, Style in the French Novel, 53–58). Mérimée stellt dabei durch spontane Übersetzungen im Erzähltext sowie durch einen erläuternden Appendix sicher, dass auch Lesern ein Verständnis möglich ist, die nur Französisch verstehen. (Im Sinne einer Theorie des Code-Switchings könnte man dies als Verfahren des ›medium repair‹ bezeichnen.) Noch üppiger als Mérimées Novelle fällt dann allerdings im 20. Jahrhundert Jaroslav HašeksHašek, Jaroslav Roman Osudy dobrého vojáka Švejka za sv ětové války (Die Geschicke des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges; 1921–1923) aus, in dem, neben dem Tschechischen, Deutsch, Polnisch, Ungarisch, Russisch, Slowakisch, Tatarisch und Mischformen aus diesen Sprachen gesprochen werden (MoserMoser, Wolfgang, Xenismen, 92f.). Die ›realistische‹ Darstellung von anderssprachiger Figurenrede bleibt im 19. Jahrhundert jedoch nicht auf den Roman beschränkt. Zwar gilt für die Lyrik weiterhin, dass sie Sprachwechsel und -mischung weitgehend ohne Relation zur Figurenrede betreibt. Dramentexte aber erproben viele unterschiedliche Verfahren. So markiert in GrillparzersGrillparzer, Franz Drama Das Goldene Vlies (1820), wie bereits erwähnt, die Differenz zwischen Blankvers und freiem Vers die Differenz zwischen den Griechen und den (›barbarischen‹) Kolchern – und dies in einem Drama, das in der Forschung als Allegorie der politischen Situation im mehrsprachigen Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts gedeutet worden ist.10Weissmann, DirkGrillparzer, Franz Und Frank WedekindWedekind, Franks Drama Die Büchse der Pandora (1902) umfasst ursprünglich Figurenrede auf Deutsch, Französisch und Englisch – passend zu den wechselnden Schauplätzen und Figurenkonstellationen (WeissmannWeissmann, Dirk, »Mehrsprachigkeit in Frank WedekindWedekind, Franks Büchse der Pandora«). Die wahrscheinlich bekanntesten Beispiele für Mehrsprachigkeit in der Figurenrede bleiben trotz dieser Fülle an Texten mit mehrsprachiger Figurenrede die Romane von TolstojTolstoj, Lev N., vor allem die frühen Fassungen von Война и мир (Krieg und Frieden, 1869), in denen die russisch-französische Diglossie der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dargestellt wird, sowie später das ›Walpurgisnacht‹-Kapitel aus Thomas MannsMann, Thomas Der Zauberberg (1924), in dem der Protagonist Hans Castorp in (schlechtes) Französisch wechselt, als er sich der von ihm geliebten Frau Chauchat annähert und damit das Liebesgeständnis in der Fremdsprache zum Topos werden lässt. Thomas MannMann, Thomas gilt in der Forschung im Übrigen auch mit anderen Texten als zentraler Autor mit Blick auf die Mehrsprachigkeit der Figurenrede: Die Buddenbrooks (1901) beginnen mit einem mehrsprachigen Dialog (Französisch, Deutsch, Niederdeutsch), und der späte Roman Doktor Faustus verwendet an zentralen Stellen ›LutherLuther, Martin-Deutsch‹ – allerdings weitenteils in Form von Zitaten (siehe III.3).11Brandes, PeterLuther, MartinMann, Thomas Schließlich ist zu konstatieren, dass sich in literarischen Texten aus Gegenden, in denen eine Diglossie-Situation herrscht, oftmals ein sehr unbefangener Umgang mit den entsprechenden Sprachen in der Darstellung von Figurenrede findet. Das ist etwa der Fall in der Luxemburger Literatur seit dem 19. Jahrhundert (siehe Hansen-PaulyHansen-Pauly, Marie-Anne, »The Languages of Literature«; GlesenerGlesener, Jeanne, »Le multilinguisme«) oder auch für Texte aus dem Elsass oder aus Québec (siehe Grutman,Grutman, Rainier Des langues qui résonnent). Der Anreiz, Texte zu schreiben, die problemlos in viele Sprachen übersetzt werden können, steht solchen Schreibverfahren allerdings zunehmend entgegen (siehe, aus der Perspektive der Gegenwart, LennonLennon, Brian, In Babel’s Shadow).

Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen neue kulturpolitische Gemengelagen die literarische Bedeutung von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede. Die wohl auffälligste Erscheinung sind die Texte der Shoah-Literatur oder allgemeiner alle literarischen Texte, die sich den nationalsozialistischen Konzentrationslagern widmen. Mit Primo LevisLevi, Primo Se questo è un uomo (1947) als prominentem Vorläufer gewinnt das Genre spätestens ab den 1970er Jahren an Prominenz. Die meisten Texte setzen sich u.a. mit der Sprachensituation in den Lagern auseinander, die einerseits von einer extremen Diversität, andererseits von der brutalen Vorherrschaft des Deutschen geprägt war und zur Ausbildung gemischter Lagersprachen geführt hat. Sehr oft werden dabei sowohl das Deutsch des Wachpersonals als auch die Lagersprache (und natürlich auch andere Sprachen) wörtlich wiedergegeben. HelmicHelmich, Wernerh erwähnt Darstellungen, die den Einsatz der (dem Wachpersonal unverständlichen) Muttersprache als Widerstandsstrategie oder auch die Entgegensetzung des Deutschen als Kultursprache gegen das Deutsch der SS vorführen (HelmicHelmich, Wernerh, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 91–98). Einer breiteren Öffentlichkeit am bekanntesten geworden sind Werke von Primo LeviLevi, Primo, Jorge SemprúnSemprún, Jorge (siehe Anwendungs-/Analysebeispiel 3), Elie WieselWiesel, Elie und Imre KertészKertész, Imre.

Die politischen Umwälzungen der Kriegsjahre und der Nachkriegszeit bilden auch den Hintergrund vieler anderer literarischer Erscheinungsformen von Mehrsprachigkeit in der Figurenrede, zumal in der deutschsprachigen Literatur. Zu erwähnen wären hier etwa die Romane von Uwe JohnsonJohnson, Uwe, in denen sich die Personenrede zwischen Deutsch, Plattdeutsch, Englisch, Russisch und Tschechisch bewegt, so in den Mutmassungen über Jakob (1959) wie auch im Folgeroman Jahrestage (1970–1983). Gegenstand der Texte sind nicht zuletzt die Auswirkungen der politischen Großereignisse (kalter Krieg, deutsche Teilung) auf das Leben der Individuen. In ihrer Mehrsprachigkeit stehen Johnsons Texte im Gegensatz zur überwiegenden Vielzahl der übrigen Autoren der Gruppe 47 (der Johnson wohl nicht zufällig nur lose angehörte). Das zeigt schon der Vergleich zu Günter GrassGrass, Günter’ im selben Jahr wie JohnsonJohnson, Uwes Mutmassungen erschienener Blechtrommel, die auf mehrsprachige Figurenrede verzichtet, obgleich die Handlung es nahegelegt hätte, beispielsweise vom Polnischen und Kaschubischen anders als nur durch die Erwähnung als Sprachen des Fluchens zu handeln (Dembeck, »Auf Polnisch wird nur geflucht«). Auf den welthistorischen Hintergrund lässt sich auch die Mehrsprachigkeit der Figurenrede in zwei weiteren von der Forschung prominent untersuchten Texten der westdeutschen Nachkriegsliteratur beziehen: Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg, ebenfalls ein eher randständiges Mitglied der Gruppe 47, führt in ihrer Erzählung Simultan (1972) ausführlich die Bewegung des Code-Switchings vor Augen, das der Protagonistin, einer Dolmetscherin, im Denken wie im Sprechen eigen ist (siehe hierzu RadaelliRadaelli, Giulia, Literarische Mehrsprachigkeit, 153–242). Die Erzählung gibt in weiten Strecken in erlebter Rede die Gedanken der Hauptfigur wieder und markiert dabei immer wieder mittels Sprachwechsel Momente, in denen (wahrscheinlich) die Rede anderer Personen gedanklich zitiert wird. Eine Leistung der Mehrsprachigkeit der Figurenrede besteht in dieser Erzählung darin, dass sie die ›Hybridität‹ des aus vielen fremden Stimmen bestehenden Bewusstseins der Hauptfigur vor Augen führt. Elias CanettiCanetti, Elias hat in Die Stimmen von Marrakesch (1967) die vielsprachige Realität des marrokanischen Alltags, die er als Journalist in den 1950er Jahren erlebt hatte, mehr oder weniger durchgängig einsprachig wiedergegeben – allenfalls Französisch und Englisch werden im Sprachwechsel (und meist mit Übersetzung) eingeschaltet (RadaRadaelli, Giuliaelli, Literarische Mehrsprachigkeit, 76–123; WeissmannWeissmann, Dirk, Métamorphoses interculturelles). CanettisCanetti, Elias Text kann als Versuch einer neuen anti-orientalistischen Orientdarstellung verstanden werden – die kulturpolitische Verbindung zu den während der Zeit der journalistischen Unternehmung stattfindenden Kolonialkriegen ist offenkundig. Die Folgen (verschütteter) individueller Traumatisierung durch die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind noch das Thema der meisten Erzählungen von W.G. SebaldSebald, W.G.; in dem Roman Austerlitz (2001) wird davon berichtet, wie der dem Ich-Erzähler bekannte Austerlitz entdeckt, dass er das Kind Prager Juden ist, die im Holocaust gestorben sind und ihn zuvor an eine englische Pflegefamilie gegeben hatten. Diese Entdeckung der eigenen Herkunft steht im engen Zusammenhang mit der Konfrontation mit der dem Bewusstsein Austerlitz’ unbekannten, aber dennoch verständlichen Sprache des Tschechischen (hierzu Helmich,Helmich, Werner Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 422–424). Bei SebaldSebald, W.G. unterlaufen die unauffällige Unzuverlässigkeit des Erzählens und die inszenierte Scheinauthentizität der begleitenden fotografischen Abbildungen indes jeden Anspruch auf Darstellbarkeit der (sprachlichen) Katastrophen, von denen die Texte handeln. Die hier zu beobachtende Verbindung eher ›realistischer‹ Verfahren der Darstellung mehrsprachiger Figurenrede mit avantgardistischen, in HelmichsHelmich, Werner Terminologie ›ludischen‹ Verfahren von Sprachwechsel und -mischung, wie sie im Grunde schon bei JoyceJoyce, James zu beobachten ist, finden sich auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – etwa bei JohnsonJohnson, Uwe, aber stärker noch bei Arno SchmidtSchmidt, Arno, dessen Verfahren der Sprachmischung zunächst in der (Ich-)Erzählerrede erprobt wird, aber auf die wiedergegebene Figurenrede übergreift (siehe III.1).

 

Auch in den anderen Sprachräumen der europäischen Literatur ist Mehrsprachigkeit in der Figurenrede in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Darstellungsverfahren. Insgesamt bleibt die französischsprachige Literatur, so der Eindruck der Forschung, ähnlich wie die deutschsprachige eher der Einsprachigkeit verhaftet, als dies beispielsweise in der englischsprachigen Literatur der Fall ist. Der englischsprachigen Literatur kommt vor allem mit Blick auf die Erschließung postkolonialer und postmigratorischer Themenfelder, in denen gerne mit anderssprachiger Figurenrede gearbeitet wird, eine Vorreiterrolle zu (Helmich,Helmich, Werner Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 118). Es findet sich anderssprachige Figurenrede aber auch in anderen Zusammenhängen, etwa in Christine Brooke-RoseBrooke-Rose, Christines Roman Between (1968), der thematisch ein Vorgänger von BachmannBachmann, Ingeborgs Erzählung Simultan ist (siehe LennonLennon, Brian, In Babel’s Shadow, 15–17, ausführlich 84–91), oder in Anthony BurgessBurgess, Anthony’ A Clockwork Orange (1963), der eine englisch-russische ›Jugendsprache‹ entwirft, die als Nadsat (›teen‹) bezeichnet wird (ebd., 101–108). In beiden Fällen wird mit der sprachwechselnden bzw. sprachmischenden Erzählerrede eine neuartige soziale Rollenprosa entworfen, die mittelbar auf kulturpolitische Globlisierungstendenzen antwortet. Noch die Konjunktur von Fantasy und Science Fiction in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei denen immer wieder die Inszenierung weltumspannender Konflikte mit der Erfindung von Sprachenvielfalt einhergeht – etwa in den Romanen von J.R.R. TolkienTolkien, J.R.R. oder bei Robert SheckleySheckley, Robert (Rosenwald,Rosenwald, Lawrence A. »On Linguistic Accuracy in Literature«, 36–39) – lässt sich mit der (kultur-)politischen Großwetterlage der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang bringen.

Die Tatsache, dass im und nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu den vorangehenden Jahrhunderten extreme Umwälzungen der europäischen Sprachlandschaft stattfanden (durch Deportation, Vertreibung, Flucht und neue Grenzziehung), hat nicht nur dazu beigetragen, dass Mehrsprachigkeit der Figurenrede in Verbindung mit politischen Bewegungen, die zu diesen Umwälzungen geführt haben, gesetzt wird. Vielmehr lässt sich wahrscheinlich auch die Bewegung zur literarischen Darstellung von Regionalität vor diesem Hintergrund verorten, insofern dieser das Bewusstsein für die ›Sprache als lokale Praxis‹ geschärft hat.12Pennycook, Alastair Zugleich ist die mehrsprachige Regionalliteratur sicherlich eine Fortsetzung der Dialektliteratur, wie sie in Europa im 19. Jahrhundert populär geworden war. Das traditionelle Verfahren der Dialektliteratur besteht darin, dass eine Erzählerrede in Standardsprache die dialektalen Figurenreden rahmt. Einige Erzählungen von Carmine AbateAbate, Carmine beispielsweise, die im südlichen Kalabrien spielen, arbeiten bei italienischer Erzählerrede mit unübersetzter und den Sprechern des Italienischen in der Regel unverständlicher Figurenrede auf Arbëresch – wodurch die regionale Eigenwertigkeit als Form unzugänglicher Intimität inszeniert wird (HelmichHelmich, Werner, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 129f.). Es finden sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch demgegenüber neuartige Darstellungsformen. Eine besonders auffällige Spielart der linguistischen Regionalisierung, die sich auch in anderssprachiger Figurenrede niederschlägt, liegt in den populären Krimis von Andrea CamilleriCamilleri, Andrea vor (ebd., 119–125), die in einer »sikulo-italienische[n] Mischsprache« (ebd., 121) verfasst sind (siehe III.1). Schließlich gibt es mehrere Beispiele für die allegorische Darstellung regionaler Sprachenvielfalt. HelmichHelmich, Werner nennt den Roman Amour bilingue (1982) von Abdelkébir KhatibiKhatibi, Abdelkébir, in dem eine französisch sprechende Geliebte zugleich für die vom arabisch und französisch sprechenden Erzähler geliebte französische Sprache einsteht, oder das Stück El holtelito (1985) von Antonio GalaGala, Antonio (141–143), in dem die Benutzung der Regionalsprachen der iberischen Halbinsel politische Konfliktlagen allegorisch darstellbar werden lässt (ebd., 205–207).

Die auffälligste Erscheinung in der jüngeren Geschichte der literarischen Mehrsprachigkeit in der Figurenrede sind aber (post-)koloniale und (post-)migrantische Schreibweisen. Natürlich ist die Bezugnahme auf den Kolonialismus und auf Migration keinesfalls neu; sie findet sich im 19. Jahrhundert besonders prominent in der amerikanischen Literatur. Die bereits erwähnten Romane von CooperCooper, James Fenimore und MelvilleMelville, Herman lassen sich in diesem Kontext lesen. Einen wichtigen Strang von Texten vor dem Hintergrund von Postkolonialismus und Migration stellt die Sprach-(Auto-)Biographie dar. Insofern hier meist die Interaktion der Erzählerfiguren mit unterschiedlichen Sprachkontexten dargestellt wird, ist unabhängig davon, ob die Rede anderer Figuren mit unterschiedlichen Sprachen in Zusammenhang gebracht wird, die Sprachwahl des Textes selbst als Teil dessen markiert, was erzählt wird, sie ist in irgendeiner Weise diegetisch motiviert. In der Forschung diskutiert worden sind u.a. Richard RodriguezRodriguez, Richard’ The Hunger of Memory (1982), Gloria AnzaldúaAnzaldúa, Gloria E.s Her Borderlands / La Frontera: The New Mestiza (1987), Eva HoffmansHoffman, Eva Lost in Translation: Life in a New Language (1989), Ilan StavansStavans, Ilan’ On Borrowed Words: A Memoir of Language (2001) und Junot DíazDíaz, Junot’ The Brief Wonderous Life of Oscar Wao (2007). Alle diese Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Erzählerrede durch mehr oder weniger komplexe Verfahren des Sprachwechsels und/oder der Sprachmischung gestalten (siehe detaillierter III.1). Avancierte Varianten von (teils fiktiven) Sprachbiographien finden sich beispielsweise in Emine Sevgi ÖzdamaÖzdamar, Emine Sevgirs viel diskutierten Erzählungen »Mutterzunge« und »Großvaterzunge« (1990). Die Rede der Ich-Erzählerin, die aus politischen Gründen aus der Türkei aus- und nach Deutschland einwandert, führt in ihrer Struktur eine Art Schwebezustand der sprachlichen Identität vor; sie ist durchsetzt von ›wörtlichen‹ Übersetzungen aus dem Türkischen, von einzelnen türkischen und dann auch arabischen Wörtern und handelt nicht zuletzt vom (scheinbaren) Verlust der ›Mutterzunge‹ (ein Xenismus für ›Muttersprache‹), dem die Erzählerin durch das Erlernen der ›Großvaterzunge‹, dem Arabischen, entgegenwirken möchte. Der Erwerb der arabischen Sprache ist dabei mit einem Liebesverhältnis verknüpft, und die arabische Schrift erhält den Status eines erotischen Mediums (vgl. zur literarischen Erotisierung der arabischen Schrift HelmHelmich, Wernerich, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, 142). Auch die Rede der übrigen Figuren ist in den beiden Erzählungen in der Regel klar einer (oder mehreren) Sprache(n) zugeordnet. In anderen sprachbiographischen Texten wird die Perspektive des Sprachlerners teils noch plakativer vor Augen geführt, etwa in Xiaolu GuoGuo, Xiaolus A Concise Chinese-English Dictionary for Lovers (2008), das im Englisch eines Sprachlernanfängers beginnt und durchsetzt ist von Hinweisen auf das Chinesische und die kantonesische Muttersprache der Erzählerin; parallel zur erzählten Liebesgeschichte der Erzählerin mit einem Engländer verbessert sich auch die Sprachrichtigkeit des Englischen, in der die Geschichte erzählt wird.13Walkowitz, Rebecca Die sehr bekannt gewordene und von der Forschung viel beachtete Sammlung von Mißtönen vom Rande der Gesellschaft, die Feridun ZaimogluZaimoglu, Feridun mit diesem Untertitel und dem Obertitel Kanak Sprak 1995 publiziert hat, präsentiert ebenso wie der Nachfolger Koppstoff (1998) in einer je unterschiedlich ausgeprägten Kunstsprache (siehe III.1) Formen von Figurenrede, die für die soziolektale und (potentiell) mehrsprachige Identität der Protagonisten einstehen sollen. Im französischen Sprachraum sind ähnliche Verfahren in der sog. ›Beurs‹-Literatur verwendet worden.

Mehrsprachige Figurenrede als Moment eines interkulturellen literarischen Programms findet sich spätestens um die Jahrtausendwende verstärkt auch im Theater. Dabei kann auf teils sehr reichhaltige Traditionen beispielsweise des Chicano-Theaters in Nordamerika oder anderer mehrsprachiger Theaterlandschaften (etwa Québec und das Elsass) zurückgegriffen werden. Interessante Beispiele für aktuellere mehrsprachige Dramentexte im deutschsprachigen Raum sind etwa ÖzdamarsÖzdamar, Emine Sevgi Stück Karagöz in Alamania von 1982 (siehe III.1) oder auch Yoko TawadasTawada, Yoko Drama Till von 1998, das die Interaktion japanisch und deutsch sprechender Personen vorsieht – eine japanische Touristengruppe aus dem 20. Jahrhundert besucht eine frühneuzeitliche deutsche Stadt. Die Tatsache, dass nur ein Bruchteil des Publikums sowohl in Deutschland als auch in Japan beide Sprachen verstehen wird, ist Teil des wirkungsästhetischen Kalküls, denn es macht die Verständnislosigkeit erlebbar, der die Figuren auf der Bühne ausgesetzt sind – und lässt auch nachvollziehen, welche Verständigung dennoch möglich ist (siehe WeissmannWeissmann, Dirk, »Vom Sprechen mit zwei Mündern«).

Auch wenn die interkulturell interessierte Literatur in den letzten Jahrzehnten stark an Gewicht gewonnen hat und daher gerade auch die Mehrsprachigkeit der Figurenrede an Verbreitung gewinnt, muss festgehalten werden, dass das erhebliche kulturpolitische Ungleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Sprachen der Welt einen sehr weitreichenden und konkreten Effekt zeitigt. Angesichts eines Buchmarkts, der stark auf Übersetzung setzt, ist Mehrsprachigkeit in der Figurenrede leichter zu vermitteln, wenn sie ›mächtige‹ Sprachen umfasst. Der Einsatz von Sprachen mit weniger Sprechern oder einem aus anderen Gründen geringeren kulturpolitischen Stellenwert ist demgegenüber schwieriger mit dem (Markt-)Regulativ der Einsprachigkeit zu vereinbaren.