Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

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Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland
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Rahel Beyer / Albrecht Plewnia

Handbuch der Sprachminderheiten in Deutschland

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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Dr. Rahel Beyer ist wissenschaftliche Angestellte am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.

Dr. Albrecht Plewnia ist Leiter des Programmbereichs Sprache im öffentlichen Raum am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim.

Umschlagabbildung: www.shutterstock.de, © Max Broszat

Einbandgestaltung: Bernd Rudek Design GmbH, www.rudek.de

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8261-4 (Print)

ISBN 978-3-8233-0234-6 (ePub)

Inhalt

  Einleitung Literatur

 Dänisch als Minderheitensprache in Deutschland1 Geographische Lage, Demographie und Bevölkerungsstatistik1.1 Geographische Lage1.2 Demographie und Statistik2 Geschichte2.1 Die historische Entwicklung bis ins frühe 20. Jahrhundert2.2 1920–19452.3 Nach 19453 Rolle und Präsenz der Minderheitensprache in Bezug auf Wirtschaft, Politik, Kultur und rechtliche Stellung3.1 Wirtschaftliche Situation3.2 Politische Situation3.3 Rechtliche Stellung3.4 Kulturelle Institutionen, Medien und Literatur4 Soziolinguistische Situation: Kontaktsprachen, Sprachform(en) des Deutschen und der Minderheitensprache, sprachliche Charakteristika, Code-Switching und Sprachmischung4.1 Kontaktsprachen4.2 Die einzelnen Sprachformen des Dänischen4.3 Sprachenwahl: Code-Switching, Sprachmischung5 Spracheinstellungen gegenüber dem Südschleswigdänischen als Schriftsprache6 Linguistic Landscapes7 Zusammenfassung8 Literatur

 Die Friesen und das Friesische in Nordfriesland1 Geographische Lage2 Statistik und Demographie3 Geschichte3.1 Die Entwicklung der nordfriesischen Mehrsprachigkeit3.2 Auswanderung nach Amerika4 Wirtschaft und Wanderbewegungen5 Politische Aspekte5.1 Symbolische und instrumentale Politik5.2 Sprachenpolitik5.3 Politische Entwicklungen auf unterschiedlichen Ebenen5.4 Die finanzielle Förderung der friesischen Volksgruppe6 Die rechtliche Stellung des Friesischen6.1 Die regionale Ebene (Land)6.2 Die nationale Ebene (Staat)6.3 Die übernationale Ebene7 Kulturelle Aspekte7.1 Die nordfriesischen Vereine und Verbände7.2 Kulturelle Einrichtungen7.3 Friesisch im Bildungssystem7.4 Friesisch in der Kirche7.5 Friesisch in den Medien7.6 Literatur, Theater, Musik und weitere kulturelle Felder8 Die soziolinguistische Situation8.1 Das Friesische8.2 Sprache in Nordfriesland8.3 Sprache in der Statistik8.4 Sprache in der Familie8.5 Sprachnorm und Sprachwandel9 Spracheinstellungen: Friesisch als Ausdruck kultureller Identität10 Linguistic Landscapes10.1 Streetscape – Die Widerspiegelung der Mehrsprachigkeit in den Straßen Nordfrieslands10.2 Gebäudenamen10.3 Informationsschilder10.4 Churchscape – Mehrsprachige Inschriften im Zusammenhang mit der Kirche10.5 Unvermitteltes Auftreten von Inschriften10.6 Symbole10.7 Linguistic Soundscapes11 Zusammenfassung12 Literatur

 Saterfriesisch1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation der Minderheit4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Saterfriesischen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Mündliche Kommunikation und schriftlicher Sprachgebrauch6.3 Weitere Kommunikationssituationen (Domänen und Anlässe)7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung und Ausblick10 Literatur

 Niederdeutsch1 Geographische Lage2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation der Regionalsprache Niederdeutsch4.3 Rechtliche Stellung der Niederdeutsch-Sprecher und ihrer Sprache sowie bildungspolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, regionalsprachliche Medien und Literatur, Kirche5 Soziolinguistische Situation5.1 Status des Niederdeutschen (Sprache oder Dialekt)5.2 Kontaktsprachen5.3 Profil des Niederdeutschen5.4 Die einzelnen Sprachformen im norddeutschen Raum6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz im Niederdeutschen6.2 Spracherwerb6.3 Mündliche Interaktion6.4 Schriftlicher Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Einstellungen gegenüber der Regionalsprache und der Standardsprache (als Identitätsmerkmal)8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung10 Literatur

 Sorbisch1 Geographische Lage2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Situation4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Sprachkontakte5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und ‑kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)8 Linguistic Landscape9 Zusammenfassung und Ausblick10 Literatur

 Romanes, die Sprache der Sinti und Roma1 Demographie und Geschichte2 Rechtliche Stellung3 Status des Romanes3.1 Medien3.2 Kulturbetrieb3.3 Bildungssystem4 Situation und Struktur des Romanes4.1 Profil des Romanes4.2 Sprachkontakterscheinungen im Romanes4.3 Romanes im Deutschen5 Sprachgebrauch und Sprachkompetenz5.1 Romanes als gesprochene Sprache5.2 Schriftlichkeit5.3 Sprachgebrauchswandel6 Spracheinstellung6.1 Einstellung gegenüber Mehrheitssprachen6.2 Einstellung zum Romanes7 Ausblick8 LiteraturAnhang

 

 Russisch1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte3.1 Vorgeschichte der deutschstämmigen Aussiedler bis zum Zweiten Weltkrieg3.2 Nachkriegsgeschichte der deutschstämmigen (Spät-)Aussiedler3.3 Zur Migrationsgeschichte der jüdischen Kontingentflüchtlinge3.4 Zu Migrationsentwicklungen anderer postsowjetischer Migranten4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Politische Partizipation und Situation der Minderheit4.3 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache, schulpolitische Förderung4.4 Kulturelle Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache (inkl. Varietäten, besondere Charakteristika)5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Weitere Kommunikationssituationen7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)7.4 Beziehungen zum Herkunftsland8 Linguistic Landscapes9 Zusammenfassung und Ausblick10 Literatur

 Türkisch in DeutschlandVorwort1 Geographie2 Demographie und Statistik3 Geschichte4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Rechtliche Stellung und politische Situation der Minderheit4.3 Aspekte der Bildung und Schulpolitik4.4 Institutionen, Verbände und minderheitensprachliche Medien5 Soziolinguistische Situation5.1 Kontaktsprachen5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachformen des Deutschen5.4 Sprachenwahl, Code-Switching und Sprachmischung6 Sprachgebrauch und -kompetenz7 Spracheinstellung als Identitätsmerkmal und Beziehung zum Herkunftsland8 Linguistic Landscapes9 Ausblick10 Literatur

 Die polnischsprachige Minderheit1 Geografie, Demografie und Statistik2 Geschichte3 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur3.1 Wirtschaftliche Situation und rechtliche Stellung der Minderheit3.2 Sprachenpolitik und schulpolitische Förderung des Polnischen3.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, Kirche und polnischsprachige Medien4 Soziolinguistische Situation4.1 Kontaktsprachen4.2 Profil der Minderheitensprache4.3 Sprachformen des Deutschen4.4 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung5 Sprachgebrauch und -kompetenz5.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten5.2 Mündliche Interaktion: Sprecherkonstellationen und -typen5.3 Schriftlicher Sprachgebrauch und weitere Kommunikationssituationen6 Spracheinstellungen6.1 Affektive Bewertung6.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation6.3 Einstellung gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)6.4 Beziehungen zum Herkunftsland7 Linguistic Landscapes8 Zusammenfassung und Ausblick9 Literatur

 Deutsche Gebärdensprache (DGS)1 Einleitung2 Demographie und Statistik3 Geschichte3.1 18. Jahrhundert3.2 19. Jahrhundert3.3 20. Jahrhundert3.4 Gebärdensprachforschung seit den 1960er Jahren4 Wirtschaft, Politik, rechtliche Stellung und Kultur4.1 Wirtschaftliche Situation4.2 Rechtliche Stellung der Minderheit und ihrer Sprache sowie schulpolitische Förderung4.3 Kulturelle Institutionen, Verbände, minderheitensprachliche Medien und Literatur5 Soziolinguistische Situation5.1 Sprachkontakte5.2 Profil der Minderheitensprache5.3 Sprachenwahl, Code-Switching, Sprachmischung5.4 Schrift6 Sprachgebrauch und -kompetenz6.1 Sprachkompetenz in den verschiedenen Sprachen/Varietäten6.2 Sprachgebrauch7 Spracheinstellungen7.1 Affektive Bewertung7.2 Kosten-Nutzen-Kalkulation7.3 Einstellungen gegenüber der Minderheitensprache und Deutsch (als Identitätsmerkmal)8 Zusammenfassung und Ausblick9 Literatur

Einleitung

Rahel Beyer / Albrecht Plewnia

Das vorliegende Buch bildet den Abschluss einer Handbuchserie zu Sprachminderheitenkonstellationen unter Beteiligung des Deutschen. Ihren Anfang nahm die Serie 1996 mit einem Band zur Situation der Sprachminderheiten in Mitteleuropa (Hinderling/Eichinger 1996b). Dieser Band, der noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs konzipiert worden war, war bald vergriffen. Es folgten weitere Bände zu anderen Regionen der Welt, die sich von der Struktur her an dem Mitteleuropa-Band orientierten: zunächst die Länder Mittel- und Osteuropas (Eichinger/Plewnia/Riehl 2008), sodann die deutschen Sprachminderheiten in Übersee (Plewnia/Riehl 2018). Das Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa (Beyer/Plewnia 2019) war der erste Band einer vollständigen Neufassung des Handbuchs von 1996, wo über die Dichotomie von Mehrheit und Minderheit hinaus auch weitere Ausprägungen gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit berücksichtigt wurden.

Das Anliegen jeden Bandes dieser Serie sowie des vorliegenden war und ist zweiteilig: Zum einen geht es – einem Handbuch entsprechend – um die Bereitstellung von geordneten Informationen, so dass Interessierte Erläuterungen zu bestimmten Stichworten nachschlagen und sich auf diese Weise relativ schnell einen Überblick verschaffen können – sei es zu einer bestimmten Minderheit oder einem spezifischen Aspekt einer bestimmten Minderheit. Zum anderen soll die Zusammenstellung der Artikel bzw. Sprachminderheiten eine vergleichende Betrachtung ermöglichen und wiederkehrende Muster/Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede/Besonderheiten zu Tage treten lassen.

Die Idee eines vergleichenden Blicks auf Sprachminderheiten unter Beteiligung des Deutschen geht zurück bis in die 1980er Jahre. Damals wurden im Rahmen zweier Projekte zunächst die „Methodik von Beschreibung und Vergleich der sprachlichen und sprachenrechtlichen Situation von Minderheiten“ anhand von zwei Minderheitenszenarien getestet und in einem zweiten Schritt auf weitere Gemeinschaften übertragen. Das Ziel wurde damals folgendermaßen formuliert:

Es geht darum, unterschiedliche Sprachgemeinschaften, die oft sonst in jeder Hinsicht verschieden sind, aber eben alle als Sprachminderheiten charakterisiert werden können, nebeneinanderzustellen und aus dieser Nebeneinander- und Gegenüberstellung wenn möglich zu lernen. (Hinderling/Eichinger 1996a: X)

Ergebnis des zweiten Projekts war das „Handbuch der mitteleuropäischen Sprachminderheiten“ (Hinderling/Eichinger 1996b), bei dem deutsche Minderheiten und anderssprachige Minderheiten in deutschsprachigem Mehrheitsgebiet vergleichend gegenübergestellt wurden – eben der eingangs erwähnte Ausgangspunkt der Serie.

Mit dem vorliegenden, letzten Band der Reihe wird nun eine Perspektivenumkehr vorgenommen: Beschrieben werden Charakter und soziolinguistische Situation von Gemeinschaften, die sich im deutschen Diasystem befinden und für die Deutsch Mehrheitssprache ist. Dabei beschränken wir uns auf Deutschland. Mit der sprachlich-geographischen Verortung ist im Wesentlichen auch schon das verbindende Element genannt. Wenn schon die Sprachminderheiten in den vorhergehenden Bänden recht unterschiedlich waren, so gilt dies umso mehr für die in diesem Buch versammelten Situationen. Auf kleinste gemeinsame Nenner gebracht lassen sich auf einer Makroebene drei dominante Grundtypen von Sprachminderheiten ansetzen:

(1) Zunächst die autochthonen Gruppen, die sich durch Altansässigkeit in dem Gebiet, das heute die Bundesrepublik Deutschland konstituiert, auszeichnen. Schon zur Zeit der Staatsgründung lebten in bestimmten Gegenden Gruppen von Menschen mit einer anderen Kultur, einer anderen Tradition und eben anderen Sprachen. Im Zuge der Staatenbildung und der staatenweiten Vereinheitlichung auf sprachlicher Ebene erfuhren diese Sprecher im Vergleich zu jenen der Mehrheitssprache teils starke Benachteiligungen. Sie oder mindestens ihre Sprache wurden unter der vorherrschenden Einsprachigkeitsideologie an den soziopolitischen Rand gedrängt; das ist ein Prozess, der sich praktisch überall in Europa beobachten ließ. Etwa seit den 1970er Jahren gibt es auf europäischer Ebene eine wachsende Aufmerksamkeit für diese autochthonen Minderheiten. Ergebnis der weitreichenden Diskussionen sind eine Reihe von Erklärungen und Abkommen, die die kulturelle und sprachliche Identität der Minderheiten schützen sollen. Das bis heute wichtigste Dokument ist dabei die Europäische Charta für Regional- oder Minderheitensprachen von 1992. Mit ihrer Unterzeichnung gehen Staaten die Verpflichtung ein, die von ihnen anerkannten Minderheiten zu fördern. Für ihr Staatsgebiet hat die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifizierung Dänisch, Friesisch (Nord- und Saterfriesisch), Sorbisch und Romanes als Minderheitensprachen im Sinne der Charta bestimmt. Das Niederdeutsche hat den Status einer Regionalsprache.

(2) Einen zweiten Typ von Sprachminderheit – der europaweit einzigartig ist – stellen die sogenannten Aussiedler und Spätaussiedler dar. Dabei handelt es sich um Personen mit deutscher Familiengeschichte, deren Vorfahren zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit in das ehemalige Russische Zarenreich bzw. die Sowjetunion emigriert sind oder die in den (ehemaligen) deutschen Ostgebieten lebten und die seit den 1950er Jahren in die Bundesrepublik übersiedelten. Sie sind also deutscher Abstammung und haben zumindest teilweise noch deutsche Erziehung und Kultur vermittelt bekommen; gleichzeitig kommen sie von einem Gebiet außerhalb der heutigen Staatsgrenze und verwenden in ihrem Alltag häufig Russisch oder Polnisch. Ihr spezifischer Status spiegelt sich auch in ihrer rechtlichen Stellung wider: Über die Regelungen im Bundesvertriebenengesetz bzw. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz verfügen sie über einen sicheren Aufnahme- und Aufenthaltsstatus inklusive Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit. Da sie Deutsche sind, werden sie von der Politik auch nicht als Sprecher einer Minderheitensprache betrachtet; entsprechend gibt es – im Gegensatz zu den autochthonen Minderheits- und Regionalsprachen – keinerlei rechtlichen Schutz- und/oder Förderungsbestimmungen für ihre (nicht-deutschen) Sprachen.

 

(3) Der politische Sprachminderheitsdiskurs, wie er sich auch in der Charta manifestiert, ist überwiegend auf die autochthonen Minderheiten fokussiert. Eine relevante Gruppe bilden jedoch, drittens, Personen und Gemeinschaften mit einer gebietsfremden sozialen Herkunft oder Abstammung, d.h. die migrationsinduzierten allochthonen oder „neuen“ Minderheiten, die zudem meist eine andere Staatsangehörigkeit mitbringen. Diese sind jedoch weder als Minderheit anerkannt, noch bestehen für sie Förderungsmaßnahmen – im Gegenteil: Ihre Mehrsprachigkeit wird hauptsächlich als Problem wahrgenommen (Extra/Gorter 2007: 23). In den letzten einhundert Jahren sind durch mehrere Migrationswellen Sprecher vieler verschiedener Sprachen nach Deutschland gekommen. Für das Handbuch musste hier aus praktischen Gründen recht restriktiv ausgewählt werden. Auch wenn es noch keine zufriedenstellende und erst recht keine rechtsgültige Definition von Minderheit gibt, ist klar, dass nicht jede anderssprachige Personengruppe eine Minderheit im Sinne einer Sprachgemeinschaft bildet. „Minderheiten bilden diese Migranten […] nur, wenn sie in Gruppen organisiert auftreten“ (Rindler Schjerve 2004: 482). Neben den objektiv beobachtbaren Faktoren – wie zahlenmäßig geringer Umfang und (politische) Dominiertheit von der Mehrheitsgesellschaft – werden also weitere, v.a. subjektive Faktoren bedeutsam, die dann wiederum in objektiven Elementen (mehr oder weniger) sichtbar werden. So ist typischerweise die Differenz bzw. die Abstammung zentrales Merkmal der Identität und die Grundlage für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sowie für die Herausbildung einer sozialen Organisationsform (Rindler Schjerve 2004: 484). Gemeinsames Ziel ist die Pflege von Kultur, Brauchtum und Traditionen, die die Gruppenmitglieder auch über Verwandtschaften hinaus in gemeinsame Interaktion treten lässt. Nur Gemeinschaften mit diesen Merkmalen können in unserem Zusammenhang relevant sein. Aber auch deren Anzahl übersteigt den verfügbaren Platz. Als mögliche Orientierung für die engere Auswahl bieten sich nun Typen der Migration an. Mutmaßlich am verbreitetsten sind als überindividuelle Phänomene die Arbeitsmigration sowie ganz aktuell die Fluchtmigration.1 Letztere hat in Deutschland v.a. ab 2014 erheblich an Bedeutung gewonnen, als der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien eine Flüchtlingswelle auslöste. Schätzungen zufolge kamen 2015 etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland, bei denen Arabisch als (einzige) Erstsprache vorherrschte (Hünlich et al. 2018: 18f.) – eine durchaus beachtliche Zahl. Die Konturen dieser Gruppe und ihrer soziolinguistischen Realitäten sind zurzeit jedoch nicht recht erkennbar, und ihre Erforschung steht noch ganz am Anfang. Dementsprechend konnten sie im vorliegenden Handbuch noch nicht berücksichtigt werden. Einwanderung zum Zweck der Arbeitsaufnahme blickt in Deutschland dagegen schon auf eine mehr als hundertjährige Geschichte zurück. Waren es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert v.a. Polen, die im Ruhrgebiet in der Schwerindustrie und im Bergbau eingestellt wurden, kamen die ab 1955 angeworbenen „Gastarbeiter“ vorwiegend aus dem südeuropäischen Raum. Die größte Gruppe der als Folge von Arbeitsmigration entstandenen Minderheiten in Deutschland bilden dabei die Türkischstämmigen bzw. Türkeistämmigen, inzwischen in zweiter und dritter Generation.

Das vorliegende Handbuch umfasst zehn Beiträge. Diese erläutern zunächst nacheinander die fünf – bzw., wenn man Nordfriesisch und Saterfrisisch getrennt zählt, sechs; wenn man Obersorbisch und Niedersorbisch getrennt zählt, sieben – chartageschützen Sprachen Deutschlands. (1) Dänisch in Schleswig-Holstein als Grenzminderheit ist dabei der einzige Fall, der insofern eine Symmetrie aufweist, als es jenseits der Grenzen den genauen Gegenfall (also Deutsch als Minderheitssprache in Dänemark) gibt. Die historisch-autochthone dänische Minderheit in Schleswig-Holstein umfasst zirka 50.000 Personen; sie ist von der Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich anerkannt. Die Mitglieder der Minderheit sind in der Regel mehrsprachig. Häufig ist Deutsch die Erstsprache und Südschleswigdänisch, eine durch Sprachkontakt geprägte Form des Dänischen, Zweitsprache oder weitere Erstsprache; daneben wird ggf. das Standarddänische Dänemarks und gelegentlich Niederdeutsch und/oder Friesisch gesprochen. Der Status des Dänischen in der Minderheit ist variabel. Während in der privaten Alltagskommunikation häufig Deutsch bevorzugt wird, hat die Beherrschung des Dänischen hohe Relevanz auf Entscheidungs- und Leitungsebenen. Für die fortgesetzte ökonomische Unterstützung aus Dänemark spielen seine Bewahrung und Förderung eine zentrale Rolle.

(2) Friesisch gehört zu den Minderheitensprachen, die keinen Nationalstaat haben. Ihre Sprecher verteilen sich auf drei nicht (mehr) zusammenhängende Gebiete im Nordseeraum, von denen zwei in Deutschland liegen: Zum einen im schleswig-holsteinischen Kreis Nordfriesland sowie auf der Insel Helgoland, wo es in einer ausgeprägten Mehrsprachigkeitssituation unter Beteiligung des Friesischen, Niederdeutschen, Hochdeutschen, Jütischen wie Dänischen steht bzw. stand. Die Herausforderungen für das Nordfriesische liegen sowohl in der großen Dialektvielfalt, durch die nur selten eine gegenseitige Verständlichkeit gegeben ist, als auch im Fehlen eines schlüssigen, stringenten Konzepts für die Spracharbeit: Bei den zahlreichen Aktivitäten, Strukturen und Rechtsinstrumenten zur Förderung des Friesischen „stellt sich jetzt [die Frage], inwiefern diese Maßnahmen, insbesondere die Strukturen, effektiv sind“ (Walker, in diesem Band) und wie der vorhandene Sachverstand sinnvoll gebündelt werden kann.

(3) Zum anderen ist Friesisch in der Gemeinde Saterland im Nordwesten Niedersachsens zu finden. Das dortige Saterfriesisch ist die letzte noch gesprochene Varietät des Ostfriesischen; sie kam erst ab zirka dem 11. Jahrhundert durch emsfriesische Einwanderer in das ursprünglich sächsisch besiedelte Gebiet. Erst seit den 1980er Jahren gibt es in der Bevölkerung ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass es sich beim Saterfriesischen um eine Ausprägung des Friesischen – und nicht des Niederdeutschen – handelt. Durch Zuzug Plattdeutsch sprechender Kolonisten aus der Umgebung im 19. Jahrhundert und Zuzug v.a. aus den Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg stellen die Saterfriesischsprecher nur noch eine Minderheit der Gesamtbevölkerung mit einem eingeschränkten Kommunikationsraum dar. Umso gewichtiger wird die Rolle der schulischen Bildung als „wohl die beste[…] Möglichkeit[…], die Gebrauchsdomänen für das Saterfriesische zu erweitern“ (Peters, in diesem Band).

(4) Im Mittelalter bzw. in der Hansezeit als Sprache voll umfänglich ausgebaut und verwendet, wurde das Niederdeutsche als Folge des Schreibsprachwechsels der norddeutschen Städte zum Hochdeutschen soziolinguistisch zu einem Dialekt heruntergestuft. „Damit einher gingen niedrige Prestigewerte und eine weitgehende Unbesetztheit von Feldern der öffentlichen Kommunikation“ (Goltz/Kleene, in diesem Band). Mit der Aufnahme des Niederdeutschen als Regionalsprache in das deutsche Ratifizierungsdokument der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen begann ein Prozess der Umbewertung zugunsten eines kulturellen Wert- und Identitätsfaktors. Zudem zeigen aktuelle Umfragen ein in den letzten zehn Jahren gleichgebliebenes Kompetenzniveau unter den Sprechern. Dennoch bergen die nur zu einem sehr geringen Teil in der Familie stattfindende Weitergabe und die im Alltag fehlende Notwendigkeit, Plattdeutsch zu können, ein gewisses Gefährdungspotenzial.

(5) Auch die Lausitzer Sorben hatten zu keinem Zeitpunkt der Geschichte einen eigenen Staat.

Nach vorherrschender Ansicht gibt es nur ein sorbisches Volk, das aber zwei Schriftsprachen hervorgebracht hat, die nieder- und die obersorbische […]. Es handelt sich um zwei eigenständige westslawische Sprachen mit jeweils spezifischer Dialektgrundlage, wobei die Sprachgrenze aufgrund des Vorliegens von Übergangsdialekten in der mittleren Lausitz nicht eindeutig festzulegen ist. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)

Auch in soziolinguistischer Hinsicht befinden sich Nieder- und Obersorben in unterschiedlichen Situationen: So ist der Großteil der Niedersorben im Laufe des 20. Jahrhunderts von deutsch-sorbischer Zweisprachigkeit zur deutschen Einsprachigkeit übergegangen. Das Kerngebiet des Sorbischen liegt in der Oberlausitz, wo die Obersorben leben. Dabei spielen auch die beiden unterschiedlichen Konfessionen eine große Rolle: Evangelische Regionen der Lausitz und deutschsprachige Region sind im Grunde deckungsgleich.

Anders ist die Konstellation im obersorbischen Kerngebiet, in dem die Weitergabe der Sprache bis heute ohne Bruch stattfand. Die Kirche entwickelte sich hier aufgrund eines historischen Sonderweges zu einem Schutzraum für das Obersorbische. (Menzel/Pohontsch, in diesem Band)

(6) Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, gilt als nicht territorial gebundene Sprache, d.h. als Sprache „die keinem bestimmten Gebiet innerhalb des betreffenden Staates zugeordnet werden [kann]“ (Europarat 1992: 2). Sie ist integraler Bestandteil der (gesamt-)europäischen Kultur; ihre Sprecher sahen sich v.a. in der Vergangenheit jedoch Marginalisierung, stereotypen Vorurteilen sowie Diskriminierung seitens der Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt. Der seit ein paar Jahren stattfindende politische Emanzipationsprozess und die vermehrte Verwendung des Romanes auf internationaler Ebene durch Aktivisten bewirken nicht nur seine Aufwertung, sondern auch einen Funktions- und Strukturausbau. Eine Erforschung dieser Sprache mit indoarischen Wurzeln und starker Prägung durch die jeweiligen Kontaktsprachen erweist sich (v.a.) für Deutschland vor dem historischen Hintergrund als äußerst schwierig. Zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind die Aktivitäten

von sogenannten Forschungsinstitutionen vor und während der NS-Zeit […], um u.a. die familiären Strukturen der Sinti zu dokumentieren, die dann wiederum Basis der Deportationen waren. (Halwachs, in diesem Band)

(7) Die russischsprachige Minderheit setzt sich aus verschiedenen Untergruppen zusammen. Die mit dem Russischen in Deutschland salienteste Verknüpfung besteht dabei wohl zu den (Spät-)Aussiedlern, den Nachfahren deutscher Siedler aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten. Sie stellen mit zirka 2,3 Millionen Angehörigen auch die größte Untergruppe dar. Bei ihnen stellt sich neben der Frage nach dem Erhalt des Russischen auch die Frage nach dem Erhalt der sogenannten russlanddeutschen Dialekte, der Hauptvarietät der ältesten noch lebenden Generation.

Über sehr gute Kenntnisse der russischen Sprache verfügt vornehmlich die zweite Generation, da sie das Russische in der Schule erlernt im Beruf und Alltag später als Hauptkommunikationssprache verwendet haben und diese bereits vor der Auswanderung als Familiensprache etabliert haben. (Dück, in diesem Band)

Der (rechtliche) Sonderstatus und die negative Fremdwahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft bzw. deren Kategorisierung als Russen wirken sich zudem destabilisierend auf die Identitätskonstruktion der (Spät-)Aussiedler aus.

(8) Stellvertretend für durch Arbeitsmigration entstandene Minderheiten im Allgemeinen und die Gruppe der Gastarbeiter im Speziellen – und unter den allochthonen Minderheiten numerisch am stärksten – wird in diesem Handbuch die Minderheit der Türkeistämmigen beschrieben. Auch hier gilt: Eine Gleichsetzung von türkischstämmigen (Nachkommen von) Gastarbeitern und Türkischsprechern ist verkürzend und unzulässig (so gibt es auch Migranten aus anderen ethnischen Minderheiten in der Türkei, die auch Türkisch erworben haben, wie auch aus türkischen Minderheiten in Südosteuropa usw.), und doch ist genau diese Verbindung für die überwiegende Mehrzahl der Türkischsprecher zutreffend. Nachdem es sich nach Jahren der Rotation von „Gastarbeitern“ für die Industrie als sinnvoller erwies, eingearbeitete und bewährte ausländische Arbeitskräfte längerfristig zu halten, begannen diese „im Laufe der 1970er Jahre ihre Ehepartner und Kinder nachzuholen, wodurch spätestens ihr Ansiedlungsprozess begann“ (Cindark/Devran, in diesem Band). Türkisch ist eine sehr vitale Sprache in Deutschland. Sie wird sowohl mündlich als auch schriftlich in vielen verschiedenen Domänen und bei unterschiedlichen Anlässen verwendet, d.h. nicht nur von der ersten Generation der Migranten, sondern auch von den Nachfolgegenerationen; bei Letzteren lässt sich typischerweise viel deutsch-türkisches Code-Switching beobachten. Angesichts unter anderem der relativ stark ausgebildeten ethnischen Identität ist nicht davon auszugehen, dass die Vitalität der türkischen Sprache in Deutschland in naher Zukunft nachlassen wird.

(9) Für viele allochthone Minderheiten lassen sich mehrere Migrationsmotivationen finden, die zeitgleich zusammenfallen oder zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte relevant waren. Dies trifft zum Beispiel für die Sprecher des Polnischen in Deutschland zu. Hierbei handelt es sich um eine große, sehr heterogene Gruppe, die sich aus Nachkommen von Arbeitsmigranten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts („Ruhrpolen“), (Spät-)Aussiedlern (v.a. in den 1980er Jahren) und Arbeitsmigranten im Kontext der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit (seit 2011) zusammensetzt; hinzu kommt eine nennenswerte Individualmigration.