Große Werke der Literatur XV

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Große Werke der Literatur XV
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Große Werke der Literatur XV

Herausgegeben von Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

Print-ISBN 978-3-7720-8705-9

ePub-ISBN 978-3-7720-0115-4

Inhalt

  Vorwort

 Dietmar von Aist: MinneliederI ‚Slafest du, friedel ...LiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Rezeption des Orlando furioso von AriostoLaura Terracina (1519–1577?)Discorso sopra il Principio di tutti i canti d’Orlando Furioso: Laura Terracina im Dialog mit AriostoLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Henry David Thoreau: WaldenLiteraturverzeichnnisPrimärliteratur:Deutsche Übersetzungen:Sekundärliteratur:

 ‚Effi Briests arme Schwestern‘Erzähl-Fäden und -MusterPrimärliteratur:

  Sprachschrott oder Lautmusik? Kurt Schwitters’ Ursonate I. II. III. Literaturverzeichnis

 Louis-Ferdinand Céline: Voyage au bout de la nuitLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:Publikationen von Till R. Kuhnle zum Thema:

 Hermann Hesse: Das GlasperlenspielLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

  Thomas Mann: Doktor Faustus Nachschrift Literaturverzeichnis

 Arthur Miller: Death of a Salesman1. Biographische Vorbemerkungen2. Handlungsskizze3. Thematik und Form4. Figurenkonstellation5. Der American Dream in Death of a Salesman6. Kultur und NaturLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Deutsche Übersetzung:Sekundärliteratur:

 Arbeit am Werk – Ingeborg Bachmann: EnigmaI.II.III.IV.V.VI.VII.LiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Die Kreissäge und das Radio, das sind die zwei wichtigsten Sachen im LebenLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Derek Walcott: Omeros1. Derek Walcott, St. Lucia und die anglophone karibische Literatur2. Die Figurationen des Omeros3. Die epische Tradition und Omeros: Struktur, Figurenkonstellation, Narration4. Postkoloniale InterpretationsansätzeLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Wolfgang Herrndorf: TschickVorbemerkung1. Wolfgang Herrndorf und die Entstehung von Tschick2. Die Erzählweise und der Inhalt von Tschick3. Intertextuelle und intermediale Bezüge in Tschick – ausgewählte Beispiele4. Tschick als Adoleszenzroman4.1. Peer-Beziehungen und Freundschaft in Tschick4.2. Der Umgang mit Sexualität4.3. Die Loslösung aus dem Elternhaus5. Tschick als Bildungsroman6. Die Rezeption von Tschick6.1 Beim Publikum und in der literarisch-künstlerischen Welt6.2. Im schulischen KontextLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

 Maria Hummel: MotherlandHandlungsskizzeLiteraturverzeichnisPrimärliteratur:Sekundärliteratur:

  Die Beiträgerinnen und Beiträger

Vorwort

Dieser Band setzt die Reihe von Interpretationen großer Werke der Literatur fort, die aus einer Ringvorlesung an der Universität Augsburg entstanden ist. Er versammelt Beiträge aus den Bereichen der deutschen, italienischen, französischen, US-amerikanischen, estnischen und karibischen Literatur und umspannt einen Zeitraum vom Mittelalter über das 16., 19. und 20. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart. Die Diversität, man könnte auch sagen, die Heterogenität der Autoren und Werke ist durchaus gewollt, ermöglicht sie doch den Dialog und den vergleichenden, oft Überraschendes zu Tage fördernden Blick der literarisch Interessierten über die gewohnten Grenzen von Epochen, Nationalliteraturen, Gattungen und Literaturformen hinweg.

Der Titel „Große Werke der Literatur“ mag in einer Zeit der Kanondebatten, der Ausweitung des Textbegriffs, der Einbeziehung anderer Medien, der Erweiterung der Literatur- auf Kulturwissenschaften fragwürdig erscheinen. Dazu sei hier zweierlei gesagt. Zum einen werden sowohl der Begriff der Literatur wie auch der Begriff des Werks in dieser Publikationsreihe recht weit gefasst – so tauchten etwa Euklid, Kants Kritik der reinen Vernunft oder Heideggers Sein und Zeit, aber auch Texte der Populärliteratur in der bisherigen Reihe der „großen Werke“ auf. Ebenso wird auffallen, dass immer wieder auch neueste Texte vertreten sind, für die ein kanonisierter Status derzeit nicht beansprucht werden kann oder soll, die aber gerade im Dialog mit der literarischen Tradition zur Lebendigkeit der Debatte um Grundfragen des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur beitragen können, um die es in der Literatur geht.

Zum andern führt auch in einer Zeit radikaler Kanonrevisionen kein Weg daran vorbei, dass an irgendeinem Punkt dann doch wieder eine Wertung ins Spiel kommt, die Frage nach der ästhetischen, historischen oder gesellschaftlichen Bedeutung eines Werkes, d.h. die Frage danach, inwiefern es das in Sprache und kultureller Textualität vorhandene Erkenntnis- und Kreativitätspotential überzeugend nutzt und in eine aussagekräftige, kulturell relevante, ästhetisch überzeugende und kompositorisch gelungene Form bringt. Es gibt eben Texte, die über lange Zeiträume hinweg gültig und wirksam bleiben, und auch wenn dies keinen ontologischen Eigenstatus großer Werke der Literatur begründet, so stellen sie doch ganz offensichtlich kulturprägende und kulturstiftende Instanzen dar, die der immer neuen Auslegung und Aneignung bedürfen.

Literarische Texte sind stets erneuerbare Quellen der Kreativität, die in je neuen historischen Phasen und individuellen Akten der Rezeption in immer wieder neuer Weise aktivierbar sind. Sie stellen damit gewissermaßen eine Form nachhaltiger Textualität dar, die ihr Potential kultureller Repräsentation nicht allein aus den Bedingungen ihrer historisch-kulturellen Genese, sondern aus dem Umstand gewinnt, dass sie offenbar in besonderer Weise bestimmten Grunddispositionen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes im Sinn einer ecology of mind, eines komplex vernetzten und vielfältig mit Lebensprozessen rückgekoppelten Denkens entspricht. Um sowohl dieses transhistorische Funktions- und Wirkungspotential wie auch die Vielfalt der möglichen Rezeptionsweisen literarischer Werke zur Geltung zu bringen, ist die Reihe der Großen Werke so konzipiert, dass die Texte allein aufgrund der subjektiven Präferenz der Beiträger ausgewählt werden, die diese Auswahl dann in ihrem Beitrag begründen. Damit wird einerseits die Notwendigkeit einer Verständigung über ästhetische Modelle, Wertungskriterien und Kanonisierungsprozesse vorausgesetzt, andererseits aber auch die Unmöglichkeit anerkannt, eine autoritative Letztinstanz für die Begründung dieser Auswahl zu finden.

 

In allen im Buch besprochenen Werken wird die literarische Imagination in ganz unterschiedlicher Weise für die Erkundung kultureller Probleme, Konflikte und Grenzerfahrungen eingesetzt, die in der ästhetisch-symbolischen Transformation der Literatur in besonderer Eindringlichkeit dem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich werden. Und gerade darin mag eine wesentliche Funktion literarischer Texte für die beständige kulturelle Selbstkritik, Selbstreflexion und Selbsterneuerung liegen, die für die Vitalität und langfristige Überlebensfähigkeit einer Kultur notwendig sind.

Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern, der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie Herrn Bub vom Francke Verlag für die gewohnt zuverlässige Zusammenarbeit. Ihr besonderer Dank gilt Kathrin Windholz und Judith Kárpáty für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck eingerichtet haben.

Augsburg, im Juni 2020 Günter Butzer, Katja Sarkowsky und Hubert Zapf

Dietmar von Aist: Minnelieder

Klaus Wolf

I ‚Slafest du, friedel ziere?

wan weket uns leider schiere.

ein vogellin so wol getan,

daz ist der linden an daz zwi gegan.‘

II „Ich was vil sanfte entslafen,

nu rüfestu, kint, wafen.

lieb ane leit mag niht sin.

swaz du gebiutest, daz leiste ich, min friundin.“

III Diu frouwe begunde weinen:

‚du ritest hinnen und last mich einen.

wenne wilt du wider her zuo mir?

owe, du fürest mine fröide sant dir.‘1

I. ‚Schläfst du, lieber Freund? Man weckt uns leider bald. Ein Vöglein so schön, das ist auf der Linde Zweig geflogen.‘

II. Ich war so sanft eingeschlafen, nun rufst du, Kind, ‚wach auf!‘ Lieb ohne Leid kann nicht sein. Was du gebietest, das tue ich, meine Freundin.

III. Die Dame begann zu weinen. ‚Du reitest von hinnen und lässt mich allein. Wann wirst du wieder zu mir kommen? O weh! Du führst meine Freude mit dir.‘2

Der mittelhochdeutsche Text stammt ursprünglich aus dem umfänglichen Codex Manesse, der durch seine Autorenbilder berühmt ist.3 Die Übersetzung von Günther Schweikle präsentiert textnah das erste deutsche Tagelied überhaupt. Die Gattung Tagelied wiederum thematisiert das Erwachen des Liebespaares nach einer geheimen Liebesnacht. Dabei muss angemerkt werden, dass dieses Paar nicht verheiratet ist und eine Entdeckung fürchten muss. Deshalb entschwindet der Geliebte heimlich im Morgengrauen, denn er reitet von dannen beziehungsweise genauer ‚von hinnen‘, wie es übersetzt aus dem Mittelhochdeutschen heißt. Die Bezeichnung der Frau als mittelhochdeutsch vrouwe in Strophe 3 macht dabei klar, welchen Stand sie innehat, weil vrouwe mit ‚adelige Dame‘ zu übersetzen ist. Ansonsten reden sich die beiden Adeligen mit friedel beziehungsweise vriundin vertraut an. friedel bedeutet ‚Geliebter‘ und ist dasselbe Kosewort, das auch Kriemhild für Siegfried im Nibelungenlied benutzt.4 Die beiden Liebenden im Tagelied Dietmars werden dabei durch den Gesang eines kleinen Vogels geweckt. Dies entspricht natürlich der allzu bekannten weltliterarischen Frage am Morgen: War es die Nachtigall oder die Lerche? Wir befinden uns hier allerdings nicht im Verona Romeos und Julias, sondern nördlich der Alpen im deutschen Sprachraum. Und dieses mittelhochdeutsche Tagelied des Dietmar von Aist ist überhaupt der erste Vertreter seiner Gattung. Deshalb firmiert in einigen Handbüchern Dietmar von Aist als Erfinder des deutschen Tageliedes.5 Romanische Vorbilder werden bei Dietmar generell nicht angenommen, obwohl die Tageliedsituation natürlich in ganz Europa besungen wurde.

Was wissen wir über diesen Dichter des ersten deutschen Tagelieds? Es ist nicht viel, denn die Quellen zur Biographie hochmittelalterlicher Dichter fließen bekanntlich spärlich. Erfreulicherweise gibt es sogar zwei mittelalterliche Miniaturen von Dietmar.


Codex Manesse6 stellt den Dichter im Reisemantel und mit Reisehut als fahrenden Kaufmann vor, der so zu seiner geliebten Dame vordringen kann, die durch das Gebände auf ihrem Kopf als verheiratete Frau zu erkennen ist. Überflüssig zu sagen, dass die aus einer Burg heraustretende Dame nicht mit Dietmar oder präziser dem Handlungsreisenden verheiratet ist. Zu sehen ist sie als eine durch teure Kleidung anhand des üppigen Faltenwurfes gekennzeichnete Adelige, die auf dem Arm ein Schoßhündchen hält, was definitiv den reichen Damen vorbehalten war. Der als Kaufmann verkleidete Dietmar führt in der Satteltasche seines Esels Spindeln mit sich. Auf einer Stange hängen aufwendig gefertigte Taschen und ebenso damals modische schmale Gürtel. Zeitgleich zum Codex Manesse aus Zürich gab es in Erfurt solche Gürtel mit einem mittelhochdeutschen Minnegedicht darauf.


Konkret hat man in Erfurt bei Ausgrabungen 79 Gürtelapplikationen7 mit mittelhochdeutschen Silben (in der Regel zwei bis drei Vokale und Konsonanten) gefunden. In der richtigen Reihenfolge ergeben die mittelhochdeutschen Silben oder Buchstaben ein Minnegedicht. In England gab es beispielsweise Minnegürtel mit der Inschrift amor vincit omnia, das heißt ‚die Liebe überwindet alles‘. Charakteristisch für diese schmalen Gürtel war ihre luxuriöse Gestalt, was Material und Verarbeitung anbelangte, sowie der ‚Sitz im Leben‘ Minne und Hochzeiten. Für Erfurt lässt sich die Besitzgeschichte im jüdischen Stadtbürgertum vor 13508 feststellen, wobei das Minnegedicht auf dem Gürtel mit dem ungefähr zeitgleichen und ebenfalls mittelhochdeutschen Epos Ducus Horant korreliert, das in hebräischen Buchstaben aufgezeichnet wurde.9 Hinzu kommt, dass der Erfurter Minnegürtel in seiner Entstehungszeit wohl nicht allzu weit vom Codex Manesse entfernt ist, wobei er überdies in das gleiche urbane Milieu führt, denn vom Lebensgefühl her dürften sich die oberschichtigen Erfurter Juden nur wenig von dem Patriziergeschlecht der Manesse in Zürich unterschieden haben. Der kleine Exkurs soll nur zeigen, dass die vom Händler Dietmar angepriesenen Waren, insbesondere die Gürtel, durchaus in einem erotischen Kontext zu verstehen sind.10 Die Situation, mit dem als Kaufmann verkleideten Dietmar, entspringt sogar einer sogenannten Minnelist, wie sie ähnlich im Heldenepos ‚Kudrun‘ geschildert wird, bei welcher ein als Händler getarnter Werber ein Verkaufsgespräch dafür nutzt, um in die Burg der Dame vorzudringen.11

Eine denkbare kunsthistorische Deutung der Miniatur zeigt verschiedene verschlüsselte Hinweise auf Dietmar im Bild. Der Dichter selbst ist nämlich nicht sofort in der Miniatur als Dietmar identifizierbar, wobei hier jedoch metaphorisch gedacht werden muss. Dietmar heißt übersetzt einerseits ‚berühmt beim Volk‘. Denkbar wäre aber auch quasi als Volksetymologie ‚Volkspferd‘, konkret der Esel, auf den Dietmar mit seiner linken Hand zeigt. Die Stange hingegen deutet auf Dietmars Nachnamen, hier ‚Ast‘, hin, was auch im Codex Manesse im Titulus so steht. Das Wappen und die Helmzier mit einem Einhorn entspringen dagegen wohl der Fantasie des Grundstockmalers im Codex Manesse, da es Familienwappen erst ab dem 13. Jahrhundert gab und Dietmar vermutlich noch im 12. Jahrhundert gestorben ist und keine Nachkommen hinterließ.12 Ebenso gilt der Hund auf dem Arm der Dame als Symbol der Todsünde, der Luxuria, der Lasterhaftigkeit und deutet damit auf die unangemessene Situation zwischen Dietmar und der verheirateten, adeligen Dame hin.13 Wie im Tagelied liegt auch hier eine Ehebruchssituation vor.

Von diesem Bildtypus gibt es noch einen zweiten Vertreter für Dietmar:


Hier zeigt sich auf den ersten Blick, dass wir es mit einem verkleinerten Ausschnitt der Prachtminiatur des Codex Manesse zu tun haben. Die Stuttgarter oder Weingartner Liederhandschrift14 beinhaltet die Szene nur unvollständig und ohne die Minnedame. Der Eseltreiber Dietmar bleibt so seltsam unmotiviert. Seit längerem wird die Verwandtschaft der Bilder so erklärt, dass sie auf eine gemeinsame, freilich nur postulierte Vorstufe zurückgehen.15 Für beide Bilder gilt aber, dass sie durchaus keine authentischen Porträts darstellen. Denn in der Buchmalerei gibt es dergleichen erst viel später. Es handelt sich sowohl beim Codex Manesse als auch bei der Stuttgarter Liederhandschrift um die Fantasieprodukte mittelalterlicher Miniatoren. Die Bilder sind amüsant, aber biographisch wertlos. Man muss deshalb nach anderen Quellen fahnden, wenn man etwas über die Dichterbiographie wissen will. Zum Glück gibt es eine Fülle von Urkunden aus dem heutigen Österreich, die einen Dietmar von Aist als Adeligen erwähnen. Beispielsweise taucht Dietmar von Aist in einer Urkunde, die am 22. April 1161 in Wien durch Herzog Heinrich II. von Österreich ausgestellt wurde, in der Zeugenreihe unter den Adeligen auf:

Testibus adhibitis de ordine nobilium: Engelberto comite de Gorz […] Tiedmaro de Agist.16

Die urkundlichen Zeugen ergeben in der Summe einen österreichischen Adeligen, der um 1170 kinderlos starb. Über den Dichter freilich erfährt man in diesen Urkunden naturgemäß nichts, denn die Urkunden dokumentieren nur Rechtsgeschäfte. Die Herkunftsbezeichnung Agist gibt es auch kontrahiert als Aist und Eist. So heißt auch ein Fluss in Österreich. Neben Aist als Herkunftsnamen überliefern die Urkunden darüber hinaus Agasta und Agist. Jedenfalls ist Dietmar urkundlich und herkunftsmäßig als österreichischer Adeliger im 12. Jahrhundert nachgewiesen. Nach 1170 wird er nicht mehr erwähnt. Das genaue Todesjahr ist unbekannt. Lediglich der Todestag, nämlich der 31. Dezember, ist in den Nekrologen des Klosters Aldersbach zu finden, dem Dietmar seinen Besitz vermachte, was darauf schließen lässt, dass er ohne männlichen Erben starb.17

Dagegen berichtet uns ein späterer Dichterkollege, nämlich Heinrich von dem Türlin, um 1230 in seinem Artusroman ‚Diu Crône‘ folgendes:

„Och muoz ich klagen den von Eist,

Den guoten Dietmâren,

Und die anderen die dô wâren

Ir sûl unde ir brücke:

Heinrîch von Rücke,

Und von Hûsen Friderîch,

Von Guotenburg Uolrîch,

Und der reine Hûc von Salza.“18

Dietmar von Aist befindet sich hier in guter Gesellschaft berühmter und wohl adeliger Minnesänger, wie der Schwabe Heinrich von Rugge. Freilich wird Dietmar hier schon als verstorben genannt. Die Berühmtheit beruht wohl auf einem gewissen Erfindungsreichtum.

So gilt Dietmar von Aist nach den gängigen Literaturgeschichten im deutschsprachigen Raum als Erfinder des Tageslieds und des Natureingangs.19 Das heißt, ein Minnelied beginnt mit der Betrachtung über die Jahreszeit, die gleichzeitig als Einleitung der inneren Gestimmtheit des lyrischen Ichs fungiert. Darüber hinaus formulierte Dietmar von Aist als erster deutscher Dichter die Idee der Gedankenfreiheit, indem er sang:

Gedanke die sint ledic fri

Das kann man folgendermaßen übersetzen: ‚Die Gedanken sind frei‘.20

Neben solchen im hohen Mittelalter durchaus originellen Versen gibt es bei Dietmar auch Langzeilenstrophen in der Tradition des Donauländischen Minnesangs, wie wir sie beim Dichter Kürenberger, aber auch im Nibelungenlied finden:

 

TON 1 21 erste Strophe


C B M
Dietmar von Aist: Ton 1 (MF 32, 1) Dietmar von Aist Anonym
I ‚Was ist für das truren guot, / das wib nach liebem manne hat? lieben G senen guot F; lieber G
gerne das min herze erkande, / wan es so betwungen stat.‘ wie gerne M; wan daz iz so G
also redte ein frouwe geneme, also redete ain vrouwe schöne F also reit ein vrowe schone F
‚vil wol ichs an ein ende keme, köme M an ein ende ich des wol chöme F
enwer diu huote. wan diu huote F wan diu huote F
selten sin vergessen wirt in minem muote.‘

Dies heißt übersetzt, wobei ich mich auf den Text links beziehe, der dem Codex Manesse, hier gekennzeichnet mit dem Großbuchstaben C, entnommen ist:

„Was hilft gegen das Trauern, das eine Frau wegen ihres Geliebten empfindet?

Gerne würde das mein Herz verstehen, weil es so ganz und gar überwunden ist.“

So sprach eine schöne Dame:

„Sehr gerne würde ich damit an ein Ende kommen,

wenn nicht die Moralapostel wären.

Nie werde ich meinen Geliebten vergessen.“

Wer spricht hier? Hier ist die Minneklage einer adeligen Dame zu vernehmen, verfasst vom männlichen Dichter Dietmar von Aist. Interessant sind darüber hinaus aber die Varianten der anderen Handschriften. Die mittlere Spalte meiner eigenen Dietmar-Edition zeigt die Abweichungen der Stuttgarter Liederhandschrift, welche mit dem Großbuchstaben B markiert wird. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass Handschrift B den Reim schöne auf köme aufweist. Dies ist ein unreiner Reim. Dagegen ist der Reim nach Handschrift C22 geneme auf keme perfekt klingend. Hier sollte man darüber diskutieren, wer für diese unterschiedlichen Reimformen eigentlich verantwortlich ist. Die traditionelle Minnesangexegese sieht hier überall nur Überlieferungsvarianz. Das heißt, die Abschreiber der Handschriften hätten noch etwas verändert. Nach traditioneller Sichtweise wäre der Halbreim in Handschrift B wohl typisch für den Donauländischen Minnesang, also für eine Frühstufe des Minnesangs. Halbreime hat auch der frühe Minnesänger Kürenberger.23 Der reine Reim in Handschrift C ginge dann auf die Abschreiber wohl in Zürich selbst zurück, welche den Text eigenständig verbesserten. Damit aber bürdet man einem Abschreiber eine enorme poetische Last auf. Bereits Günther Schweikle äußerte Zweifel an solch einem Konstrukt.24 Heute deutet man daher solche Varianten eher als Autorvarianten. Das heißt, Dietmar von Aist selbst ist verantwortlich für die verschiedenen Lesarten. In einer Frühphase hätte Dietmar dann den Halbreim gedichtet, wie wir ihn in der Handschrift B finden. In einer späteren Phase schuf er die Fassung mit reinem Reim, wie sie sich jetzt in Handschrift C findet. Damit aber blicken wir in die Dichterwerkstatt Dietmars. Er sitzt auf seiner österreichischen Burg und nimmt sich ein altes Gedicht wieder vor und verbessert den Reimklang. Ein Dichter, der lebenslang an seinem Werk feilt, ist in der Neugermanistik keine ungewöhnliche Vorstellung. So gibt es vom Gedicht römischer Brunnen des Conrad Ferdinand Meyer mehrere edierte Fassungen.25

Ich erkläre deshalb die verschiedenen Varianten von Ton I zu Autorfassungen, die also auf den Dichter Dietmar selbst zurückgehen. Dies schließt natürlich nicht aus, dass es im Überlieferungsgang auch zu Überlieferungsvarianz durch Schreiberversehen kommen konnte. Dennoch ist der Lyriker Dietmar grundsätzlich methodisch nicht anders zu edieren als ein moderner Lyriker. Die hier gewählte Dokumentation der Autorvarianz mittels Synopse bewährt sich besonders bei der Fassung M, denn ein Blick auf Handschrift M, hinter der sich die berühmten Carmina Burana verbergen, die wohl in Neustift bei Brixen aufgezeichnet wurden,26 ergibt eine Lesart ganz eigener Prägung. In dieser beihnahe legendären Handschrift finden sich am Ende von lateinischen Liedern vereinzelt deutsche Strophen, freilich anonym. Die gängige Deutung besagt, dass mit dem deutschen Text die bekannte Melodie signalisiert wurde, auf die dann auch die lateinischen Strophen zu singen waren. Unsere Dietmar-Strophe erscheint in der Carmina Burana-Handschrift ebenso anonym, wie an anderer Stelle eine Strophe Walthers von der Vogelweide oder Heinrichs von Morungen.27 Der Text der anonymen Dietmarstrophen steht für eine andere Fassung, die für mich eine Autorfassung darstellt. Im ersten Vers der Strophe heißt es in der Fassung der Carmina Burana-Handschrift senen, also ‚Sehnsucht‘, statt truren im Sinne von ‚Trauer‘ in den Handschriften B und C. Während Sehnsucht noch Hoffnung zulässt, scheint die Trauer doch deutlich pessimistischer zu sein. Geht man von Autorvarianz aus, dann schuf Dietmar eine optimistischere und eine pessimistischere Version seiner Strophe.

Doch auch in der Metrik gibt es Autorvarianz. Formal liegt in Ton I eine Langzeilenstrophe mit Zäsur in der Mitte vor, wie man sie ganz ähnlich auch beim Nibelungenlied findet und ebenso beim Kürenberger oder Meinloh von Sevelingen, beide Vertreter des frühen oder Donauländischen Minnesangs.28 Wie der Kürenberger weist auch die Fassung B von Ton I vornehmlich Halbreime auf, während die Fassung C rein gereimt ist. Dennoch ist auch die Fassung C mit ihren Langzeilen als formal durchaus konservativ zu betrachten. Doch Dietmar von Aist hat auch Lieder in der moderneren Kanzonenform, so wie hier in Ton VIII29:


C B
Dietmar von Aist: Ton VIII (MF 36,5) Reinmar der Alte


C 19 B24
I Diu werlt noch ir alten sitte
an mir begat mit nide. niden G M
Si vert mir wunderliche mitte.
si wellent, daz ich mide
Den besten friunt, den ieman hat.
wie sol des iemer werden rat?
sol ich ir lange frömde sin, sol ich ime F vrömede M
ich weis wol, daz tuot ir we. tuot ime we F
daz ist diu meiste sorge min.
C20 B25


II Nieman vindet mich dar an
munstete mines muotes,
In si der eine, der ir gan ich si G
vil eren und guotes.
Si kann mir niemer werden leit,
des biutte ich mine sicherheit.
also trurig wart ich nie,
swenne ich die wolgetanen sach,
min senendes ungemach zergie.

Das heißt übersetzt:


Die Leute begegnen mir alter Gewohnheit gemäß
noch immer mit Neid.
Sie verfahren seltsam mit mir,
sie wollen, dass ich
die beste Geliebte meide, die man haben kann.
Was kann man da machen?
Bin ich lange von ihr entfernt,
so tut ihr das, wie ich genau weiß, weh.
Das ist meine größte Sorge.
Keiner wird es herausfinden, dass ich
davon abzubringen bin,
der eine zu sein, der ihr
große Ehre und Gutes gönnt.
Sie kann mir niemals verleidet werden,
das schwöre ich!
Nie wurde ich so traurig,
dass nicht, wann immer ich die Schöne sah,

In meiner Edition sieht man links die Fassung nach Codex Manesse oder auch Handschrift C. Rechts sieht man hingegen eine Fassung nach der Stuttgarter Liederhandschrift mit der Sigle B. Während Codex Manesse das Lied Dietmar von Aist zuschreibt, steht es in Handschrift B unter dem Minnesänger Reinmar dem Alten. Hat nun Reinmar einfach Dietmar plagiiert? Nein, denn die erste Strophe bei Reinmar stellt die Verhältnisse auf den Kopf. In Vers 7 und Vers 8 finden man bei Reinmar die Pronomina ime also ‚ihm‘. Das heißt, beim Dichter Reinmar ist das lyrische Ich eine Frau. Bei Reinmar spricht in Strophe I eine Frau und in Strophe II ein Mann. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Wechsel. Reinmarkenner wissen außerdem, dass er ein gewisses Faible für Frauenstrophen hatte.31 Eine statistische Auswertung bei Dietmar von Aist zeigt dagegen, dass bei ihm Frauenstrophen, ganz im Gegensatz zu seinem donauländischen Dichterkollegen Kürenberger, eher selten sind. Die linke Spalte meiner Edition zeigt also bei Dietmar zwei Männerstrophen. Und die rechte Spalte zeigt bei Reinmar eine Frauenstrophe und eine Männerstrophe. Fest steht auch, dass der adelige Dietmar von Aist der ältere Minnesänger ist, während der eher niederständische und sich als Berufsdichter verdingende Reinmar im Vergleich zu Dietmar jünger war. Sein Beiname ‚der Alte‘ wird nur verwendet, um ihn von Sangspruchdichtern wie Reinmar von Zweter zu unterscheiden.32 Also noch einmal: Dietmar ist der Ältere, den Reinmar nicht plagiiert, sondern weiterdichtet. Modern gesprochen: Reinmar featuring Dietmar. Ein derartiges Verfahren kennt man bei Reinmar häufiger. Er benutzt beispielsweise viele Lieder des adeligen Minnesängers Heinrich von Rugge, die er weiterdichtet und unter seinem Namen laufen lässt.33 Ältere Editionen34 dagegen interpretieren einen derartigen Überlieferungsbefund dahingehend, dass nur eine einzige Fassung einem Dichter angehört, während die anderen Fassungen auf Schreiberversehen beruhen. Damit also wäre es ein Versehen in Handschrift B, dass dort diese beiden Strophen unter Reinmar stehen. Dies hätte gemäß traditioneller Auffassung ein nachlässiger Abschreiber verursacht. Die moderne Minnesangphilologie dagegen greift Mehrfachzuschreibungen in den Überlieferungen im Sinne kommunikativer und performativer Bedingungen auf.35 So ist etwa im Codex Manesse im Oeuvre Walthers von der Vogelweide über einem Waltherlied zu lesen: