Große Werke der Literatur XV

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Wie kam es dazu? Thoreau hatte gehofft, sich wie sein großes Vorbild Emerson eine Existenz als freier Schriftsteller aufzubauen. Mit seinem ersten Buch jedoch, A Week on the Concord and Merrimack Rivers (1849), gelang ihm ein Achtungserfolg bei der Kritik, der Verkauf aber war derart miserabel, dass der Autor vier Jahre später auf Bitten des Verlegers die Restauflage – 706 von 1000 auf eigene Kosten gedruckte Exemplare – zurücknahm. Der launige Vermerk im Journal müsste an sich schon ausreichen, den Vorwurf auszuräumen, Thoreau habe keinen Humor besessen: „I have now a library of nearly nine hundred volumes, over seven hundred of which I wrote myself.“9 Nach dem finanziellen Fiasko der Week konnte Thoreau um 1849 nicht damit rechnen, einen Verleger für ein weiteres Buch zu finden. Walden war einstweilen nicht zu veröffentlichen, aber weder das Manuskript noch die darin abgehandelten Themen waren damit erledigt. Nach einer Zäsur von knapp zwei Jahren nimmt Thoreau einen neuen Anlauf, und was nun mit dem Text geschieht, ist atemberaubend. Die auf die economy-Thematik fokussierten Tiraden werden angereichert, zugleich aber von einer Sicht ergänzt und überwölbt, die die gefallene Welt des zeitgenössischen Wirtschaftens in einer Hymne an die Natur aufhebt. Und in dem Maße, wie die Natur in den Vordergrund rückt, verliert das Thoreausche Ich an Aggressivität, es wird ruhiger, ja über weite Strecken nimmt es sich ganz zurück und entäußert sich in der Hingabe an die Natur.

Die Natur ist für Thoreau ein ständig wiederkehrender Geburtsvorgang, Geburt aber geht mit Wehen einher, und die können heftiger sein als die Schmerzen, die der Tod verursacht. Walden ist ein (im Sinne Schillers) sentimentalisches, aus der Erinnerung geschriebenes Buch, aber es ist nicht sentimental, es ergeht sich nicht in Gefühlsduselei und Naturschwärmerei. Davor bewahrt Thoreau nicht zuletzt ein persönlicher Entwicklungsschub, der mit der zweiten Entstehungsphase von Walden zusammenfällt und vor allem im Journal eindrucksvoll dokumentiert ist. Seit den frühen 1850er Jahren macht er während der Ausflüge detaillierte Notizen über seine Naturbeobachtungen, die er entweder noch am selben Abend oder später zu ausführlichen Berichten mit genauen Zeit- und Datumsangaben ausarbeitet. Die Intensität der Naturstudien hat die letzten Fassungen von Walden nachhaltig beeinflusst. Schon vorher Thoreaus bevorzugter Aufenthalt, wird die Natur nun zum zentralen Erfahrungsraum. Als Inbegriff des Lebens zeichnet sie sich durch Wandel aus, durch den Rhythmus von Tod und Geburt, und nirgends erscheint dieser Rhythmus dramatischer als im Wechsel der Jahreszeiten. Bereits in einem der ersten Kapitel, „Solitude“, spricht er von ihrer heilenden Kraft: „While I enjoy the friendship of the seasons I trust that nothing can make life a burden to me“ (131). Mit den Jahreszeiten ‚befreundet‘ zu sein heißt zum einen, ihren Ablauf in allen Details und Zusammenhängen zu studieren und zu dokumentieren. Zum anderen kommt es darauf an, das Ich den Jahreszeiten anzupassen, deren Rhythmen und die eigenen aufeinander abzustimmen, im Idealfall nicht nur mit ihnen, sondern – wie es am Schluss des posthum erschienenen Essays „Huckleberries“ heißt – in ihnen zu leben.

Der thematischen Fokussierung entspricht die literarische Form. Es ist möglich, die einzelnen Kapitel von Walden für sich als Essays zu lesen, ihre Anordnung ist jedoch schon im ersten Teil keineswegs beliebig. Motivische Parallelen und Kontraste, die Überleitungen, Wiederholungen und Variationen folgen dem Prinzip der inneren, organischen Form im Sinne Coleridges: Ein Kapitel wächst gleichsam aus dem anderen heraus, führt Gedanken und Bilder weiter, oder stellt sich quer zum vorher Gesagten. Geradezu straff aber wird die Struktur nach „Higher Laws“ und „Brute Neighbors“. In den folgenden Kapiteln schlägt die – angeblich „for convenience“ (84) getroffene – Entscheidung, die beiden Jahre am See zu einem zusammenzufassen, voll auf die Form durch. An die Stelle der bis dahin eher lockeren Essay-Folge tritt eine Art Plot, beherrscht vom Fortgang der Jahreszeiten. Im Oktober zwingt die einsetzende Kälte zum Verputzen der Hütte („House-Warming“), der Winter mit Schnee und Eis schränkt den Radius des Wanderers ein („Winter Visitors“, „Winter Animals“, „The Pond in Winter“), bis sich im Frühjahr mit dem Aufbrechen des Eises das Wiedererwachen der Natur ankündigt („Spring“). Am Ende steht der Entschluss, die Hütte zu verlassen und nach Concord zurückzukehren („Conclusion“). Was genau ihn dazu bewegt, kann Thoreau offenlassen, schließt doch die Zukunft nach allem, was er gelernt hat, die Aussicht auf „several more lives“ (323) ein. Die destruktive Dynamik des den ersten Teil beherrschenden Todes-im-Leben wird im Zyklus des neuen Lebens aufgehoben, einem Regenerationsvorgang, der sich Jahr um Jahr wiederholen wird: „And so the seasons went rolling on into summer“ (319). Im Unterschied zur gefallenen Welt von Ökonomie und Politik ist diese ‚Revolution‘ kein Leerlauf, sie kennt Tod und Leben, aber keinen Verschleiß.

Wie das Leben im Wald sich um den Walden Pond herum und auf ihm abspielt, so finden sich im See auch die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen der Natur gebündelt. Thoreaus praktische und literarische Strategien umfassen ein breites Spektrum, vom Vermessen des Sees, der Beschreibung des Wassers aus verschiedenen Blickwinkeln und zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, seiner ökonomischen Nutzung durch Angler und Eis-Arbeiter (Eisblöcke dienen als Kühlmittel) bis hin zu symbolischen und allegorischen Zuschreibungen. Am Gegenpol zur quantitativen Vermessung und zur kommerziellen Nutzung stehen die symbolisch-allegorischen und die rituellen, sakralen Funktionen. Das Wasser ist nicht nur physisch ungewöhnlich sauber, es steht auch für moralische Lauterkeit. Das Fehlen eines sichtbaren Zu- und Abflusses deutet auf Autonomie, auf ‚Charakter‘. Als Spiegel des Himmels vermittelt das Wasser Ahnungen von Transzendenz, Gerüchte über seine bodenlose Tiefe sprechen die Fantasie an. Symbolik gerinnt zur Allegorese, wenn er als „earth’s eye“ (186) oder „God’s Drop“ (194) apostrophiert wird. Dem Bewohner der Hütte dient der See zum Wasserschöpfen, als „my well ready dug“ (183), dem Angler bietet er mit seinen Fischen reichlich Nahrung. Im morgendlichen Bad verbinden sich praktische und sakrale Elemente; es dient der Reinigung und Erfrischung, zugleich ist es ein „religious exercise“ (88), in dem der Badende sich der Regenerationskraft des Wassers versichert.

In der Regel frühmorgens absolviert, ist das Baden einer von mehreren Modi dessen, was Thoreau als „morning work“ (36) bezeichnet. Wie das Jahr seine Jahreszeiten durchläuft, so hat auch der Tag seine Zyklen, mehr noch, der Tag ist das Jahr im Kleinen: „the day is an epitome of the year“ (301). Die privilegierte Tageszeit aber ist – dem Frühling des Jahres entsprechend – der Morgen. Er steht für das Erwachen, im Erwachen wiederum zeigt sich das Leben in gesteigerter Intensität. Glücklich der, dem es gelänge, mit der Sonne Schritt zu halten und den Morgen in den Tag hinein zu verlängern: „To him whose elastic and vigorous thought keeps pace with the sun, the day is a perpetual morning“ (89). Als höchste Form des Lebendigseins ist Wachsein nichts weniger als die Freisetzung des Göttlichen in uns; einem, der ganz wach wäre, könnte man, wie einem Gott, nicht ins Angesicht schauen: „I have never yet met a man who was quite awake. How could I have looked him in the face?“ (90).

Walden Pond ist ein Mikrokosmos. Im See kristallisiert sich eine Fülle konkreter Naturbeobachtungen ebenso wie symbolischer Assoziationen. Zugleich bietet er Anlass zu globalen Spekulationen, etwa wenn er mit anderen heiligen Gewässern wie dem Ganges in Dialog tritt. Immer wieder verbinden sich zentripetale und zentrifugale, erdgewandte und transzendente Dynamik. Als sich die Gedanken beim nächtlichen Angeln in „vast and cosmogonal themes in other spheres“ (175) verloren haben, werden sie durch ein Zupfen an der Angel wieder ‚geerdet‘. Kontemplation und Meditation wechseln mit Phasen, in denen Thoreau aktiv und bisweilen massiv in die Natur eingreift, etwa wenn er durch Paddelschläge Echoeffekte erzeugt oder durch Positionswechsel den Blickwinkel zum See verändert. Dass Thoreau bei allem Drang, der Natur nahezukommen, auch ein Gefühl für ihre Fremdheit bewahrt, zeigt die Jagd nach dem Taucher (loon). Was immer er anstellt, der Vogel schlägt ihm ein Schnippchen, ja mit seinem ‚Lachen‘ scheint er sich über die Anstrengungen des Jägers lustig zu machen (234–236).

Thoreaus Naturbegriff – wenn man denn von einem ‚Begriff‘ sprechen will – ist kaum auf einen Nenner zu bringen. Den einen erscheint er widersprüchlich, andere sehen in der femininen Konnotation vieler Naturbeschreibungen eine Verlängerung des altvertrauten patriarchalischen Bedürfnisses nach Herrschaft, nach Dominanz über die Natur. Hier ist durchaus Spielraum für Kontroversen, und er wird von der Kritik ausgiebig genutzt. Über jeden Zweifel erhaben ist dagegen Thoreaus stilistische Brillanz. Selbst seine schärfsten Kritiker stehen einigermaßen fassungslos vor Sätzen und Absätzen, die zu den komplexesten in englischer Sprache gehören und dabei stets transparent und kontrolliert daherkommen. Der Reichtum des Wortschatzes; der Wechsel von griffigen Aphorismen und anspruchsvollen Perioden; die zwanglose Kombination abstrakter Gedanken mit schlichten, der Alltagserfahrung entnommenen Bildern; eine Syntax, die wie die Prosa eines Melville in Moby-Dick die Lungen und das Hirn zu weiten scheint (so Cesare Pavese über Moby-Dick10); schließlich eine überzeugende, den Kriterien der organischen Form genügende Gesamtstruktur: Mit Walden ist Thoreau ein Buch gelungen, das seinem Traum von einem ‚natürlichen Buch‘ so nahe wie nur irgend möglich kommt.

 

Jeder Thoreau-Leser hat seine Lieblingsstellen, ich selbst finde seinen Stil am eindrucksvollsten dort, wo er zugleich locker und prägnant Beschreibung und Reflexion ineinander übergehen lässt, ein Verfahren, das er schon an Goethes Italienischer Reise bewundert hatte. Zu diesen Passagen gehört der Anfang von „Solitude“:

This is a delicious evening, when the whole body is one sense, and imbibes delight through every pore. I go and come with a strange liberty in Nature, a part of herself. As I walk along the stony shore of the pond in my shirt sleeves, though it is cool as well as cloudy and windy, and I see nothing special to attract me, all the elements are unusually congenial to me. The bullfrogs trump to usher in the night, and the note of the whippoorwill is borne on the rippling wind from over the water. Sympathy with the fluttering alder and poplar leaves almost takes away my breath; yet, like the lake, my serenity is rippled but not ruffled. These small waves raised by the evening wind are as remote from storm as the smooth reflecting surface. Though it is now dark, the wind still blows and roars in the wood, the waves still dash, and some creatures lull the rest with their notes. The repose is never complete. The wildest animals do not repose, but seek their prey now; the fox, and skunk, and rabbit, now roam the fields and woods without fear. They are Nature’s watchmen, – links which connect the days of animated life (129).

Die Häufung phonetischer Figuren (Alliterationen und Assonanzen); Wortwiederholungen in bald kürzeren, bald länger ausschwingenden Sätzen; asyndetische im Wechsel mit polysyndetischen Fügungen; die Positionierung des Ichs, das ganz auf die abendliche Szenerie eingestimmt ist, ohne sich in ihr zu verlieren; die Verbindung von Beschreibung und Reflexion: Thoreaus Gedichte wurden und werden nur von wenigen geschätzt, aber Passagen wie diese verbinden Anschauung und Nachdenken zu einer Poesie, die den Vergleich mit der Gedankenlyrik etwa William Wordsworths herausfordert. Im Blickwinkel des Gesamtwerks ist man kaum überrascht, auch hier eines von Thoreaus Lieblingsbildern zu finden: das der gekräuselten Wellen. Zum einen verweist es auf das lebendige und belebende Zusammenwirken verschiedener Elemente, von Wasser und Wind (wobei man die alte, universale Gleichung von Wind und Geist mitrealisieren darf), und damit auf das Ganze der Natur. Zum anderen spiegelt das Bild die Stimmung des Sprechers, der sich in großer Freiheit der Heiterkeit der Natur, ihrer „serenity“ öffnet.

Damit wird der Gegenpol zu jenem Tod-im-Leben erreicht, der über weite Strecken den ersten Teil von Walden beherrscht. In „Economy“ klagt Thoreau: „There is nowhere recorded a simple and irrepressible satisfaction with the gift of life, any memorable praise of God“ (78). Walden will diesem spirituellen und kulturellen Defizit abhelfen und daran erinnern, dass die Schöpfung keineswegs beendet ist. So heißt es bereits im 2. Kapitel: „The morning wind forever blows, the poem of creation is uninterrupted; but few are the ears that hear it“ (85). Indem das Ich in den Lobpreis dieses ,Gedichts‘ einstimmt, hat es teil an einer Resakralisierung der Natur. Was das Ritual des Badens im See auf der Alltagsebene zu leisten vermochte, wird in „Spring“ ins Kosmische gesteigert. Darauf verweisen die zahlreichen Bezüge auf Mythos und Religion. Der Frühling reproduziert „the creation of Cosmos out of Chaos“, jedes Jahr beginnt mit ihm aufs Neue das Goldene Zeitalter der Ovidschen Metamorphosen (313–316). Und wie in den Anfangskapiteln Bibelzitate und -anspielungen auf die Verurteilung des Materialismus zielen, so kommt jetzt das Evangelium, die ‚frohe Botschaft‘ von der Auferstehung zum Tragen, und zwar mit der zugespitzten rhetorischen Frage des 1. Korintherbriefs (15, 55): „O Death, where was thy sting? O Grave, where was thy victory, then?“ (317).

Mit und in den Jahreszeiten leben heißt, dem Lauf der Sonne folgen. Im Zusammenhang mit dem Bohnenfeld war von einer ‚solaren‘ Perspektive die Rede; uns allen würde manche Sorge erspart, wenn wir uns klar machten, dass die Sonne ohne Unterschied auf bebaute wie unbebaute Felder scheint. Der Leser mag sich an Platons Sonnengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia erinnern, im „Spring“-Kapitel wird der Sonnenmythos jedoch eher christlich gewendet, um am Ende einer kosmischen Sicht Platz zu machen. Der Schluss von Walden bündelt die Motiv- und Bildbereiche des Erwachens, des Morgens und der Sonne, zugleich überhöht er sie mit einem Wortspiel (sunson) und einem Bild (der Morgenstern), das den Walden-Aufenthalt in die Nachfolge Christi stellt, und schließlich lässt er – mit einem zutiefst transzendentalistischen Gestus – sowohl den Solarmythos wie auch das Christentum hinter sich: „Only that day dawns to which we are awake. There is more day to dawn. The sun is but a morning star“ (333).

Jedes Frühjahr triumphiert das Leben über den Tod, und in dem Maße, wie wir an diesem Ereignis teilhaben, werden auch wir neu geboren. Die Überwindung des Todes ist ein spiritueller Vorgang, sein Gelingen aber hängt für Thoreau wesentlich vom Kontakt des Menschen mit der Natur ab. So folgt in Walden auf das Paulus-Zitat ein Plädoyer für die unberührte, wilde Natur; ohne deren belebende Kraft würde unsere Zivilisation absterben:

Our village life would stagnate if it were not for the unexplored forests and meadows which surround it. We need the tonic of wildness […]. At the same time that we are earnest to explore and learn all things, we require that all things be mysterious and unexplorable, that land and sea be infinitely wild, unsurveyed and unfathomed by us because unfathomable. We can never have enough of Nature (317f.).

Nach mäßiger Anerkennung im 19. Jahrhundert ist Walden im 20. Jahrhundert in den Kanon amerikanischer Meisterwerke aufgerückt. Daran haben die im Zuge der culture wars seit den 1970er Jahren durchgeführten Revisionen nichts geändert. Während Franklins Autobiography in den maßgeblichen College-Anthologien drastisch zugunsten weiblicher und ethnischer Autoren gekürzt wird, druckt die Norton Anthology of American Literature nach wie vor den kompletten Text von Walden ab – ein erstaunliches Phänomen, zumal Thoreau als WASP (White Anglo-Saxon Protestant) mit misogynen Anflügen voll ins Feindbild eines im Namen von gender-Gleichheit und Multikulturalismus vorgetragenen Revisionismus passt. Bedeutende Künstler haben sich von Thoreau inspirieren lassen, allen voran die Altmeister der musikalischen Avantgarde, Charles Ives und John Cage, und neuerdings Christopher Shultis.

Seit den 1960er Jahren besitzt Walden geradezu Kultstatus. Zur ‚Bibliothek‘ der Hippies gehörten neben Hermann Hesses Steppenwolf und Siddharta, Robert Heinleins Stranger in a Strange Land und Robert M. Pirsigs Zen and the Art of Motorcycle Maintenance auch Thoreaus „Civil Disobedience“ und Walden. Um die gleiche Zeit begann das Buch ein Kriterium des Klassikers zu erfüllen, das erst kürzlich, im Zuge der Rezeptionsästhetik, in die Debatte eingeführt worden ist. Balz Engler zufolge ist ein Klassiker „a work of literature that has left the book.“11 Wer von denen, die ein Verhalten als „quixotic“ bezeichnen und vom „Kampf gegen Windmühlen“ sprechen, hat Cervantes‘ Roman gelesen? Figuren wie Robinson, Frankenstein, Faust oder Don Juan, Wendungen wie „Sein oder Nichtsein“ und „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“ sind längst sprichwörtlich geworden, sie führen ein Eigenleben jenseits der Romane oder Dramen, denen sie entstammen. 1948 fand Thoreaus Experiment eine Fortsetzung in B.F. Skinners Walden Two (1948), einer behavioristischen Utopie, die in das Programm einer bis heute existierenden Kommune einging. Die Hütte am Walden Pond ist zur Chiffre für Ökos, Alternative und Aussteiger geworden, von den militanten tree huggers Kaliforniens über die moderateren wise use-Ökologen im Sinne eines Wendell Berry, die Tiny House-Bewegung und Occupy Wall Street bis hin zu extremen, ja terroristischen Formen libertärer Staatsfeindlichkeit und schließlich der selbstzerstörerischen Zivilisationsflucht eines Christopher McCandless in Jon Krakauers Into the Wild.

Die amerikanischen Trends wiederum haben längst weltweite Resonanz bzw. Parallelen gefunden. Dem Beispiel Anne Donaths, der Lehrerin, die sich im Oberschwäbischen ein Holzhaus ohne Strom und fast ohne Möbel eingerichtet hat, ihre Kleidung und Schuhe nach Möglichkeit selbst herstellt und im Garten eigenes Gemüse zieht, lassen sich in den letzten Jahren zahlreiche vergleichbare Experimente hinzufügen, und immer wieder fällt dabei der Name Thoreau als Inspirationsquelle oder Bestätigung für diverse Formen alternativen Lebensstils, vom einfachen, anspruchslosen Leben bis hin zum entschiedenen Aussteigertum. Eine kuriose Blüte hat der Thoreau-Kult kürzlich auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt getrieben; das Lifestyle-Magazin Walden gibt Tipps, wie ‚Mann‘ das Abenteuer der Wildnis ‚vor der Haustür‘ erleben kann, seine Leser „leben vorwiegend in der Stadt, telefonieren mit Apple, lesen Monocle, fahren DriveNow und Golf Variant für den Wochenendausflug, tragen RedwingBoots und 3Sixteen-Jeans.“12 Besonders amüsiert hätte Thoreau das Ergebnis einer Leserumfrage, wonach 69 % eine „hohe Ausgabenbereitschaft für Outdoorausrüstungen“13 haben.

Thoreaus Heimatstadt Concord, insbesondere Walden Pond und die (nachgebaute) Hütte gehören zu den Touristenattraktionen, wenn nicht gar Wallfahrtsorten Neuenglands. Der „different drummer“ (326), mit dem im Schlusskapitel von Walden das Bild des Nonkonformisten beschworen wird, hat sich zum Markenartikel für zahlreiche Produkte von Küchengeräten und Kochkursen zu CD-Labels und T-Shirts entwickelt. Mit einer Verzögerung von ein bis zwei Generationen hat Thoreau seinen Mentor Ralph Waldo Emerson eingeholt, ja überholt, indem er nicht nur wie jener zur Institution der elitären Hochkultur, sondern darüber hinaus auch zur Pop-Ikone avanciert ist. Neben den zahllosen Thoreau-Karikaturen, die offenbar nicht nur von Lesern des New Yorker goutiert werden, zeugt davon neuerdings auch ein (inzwischen mehrfach ausgezeichnetes) Computerspiel, mit dem das Walden-Experiment virtuell nachvollzogen werden kann.14

Wem diese Seite des Thoreau-Kults auf die Nerven geht, sei ein Besuch Concords empfohlen. Bei aller Kommerzialisierung hat sich das Städtchen ein erstaunliches Maß an Beschaulichkeit bewahrt. Neben Boston, Philadelphia und Gettysburg gehört es zu den großen Erinnerungsorten der USA; es war hier, an der über den Concord River führenden North Bridge, dass erstmals die Miliz der amerikanischen Kolonisten das Feuer auf reguläre britische Truppen eröffnete und jenen Schuss abfeuerte, der sich im Rückblick als Signal für den Unabhängigkeitskampf der USA und damit für eine Zäsur der Weltgeschichte darstellen würde. Wie es Emerson 1836 in seiner Hymne zur Einweihung des Denkmals an der Old North Bridge formulierte:

Here once the embattled farmers stood,

And fired the shot heard round the world.15

Damit ist ein Bezugsrahmen angedeutet, der zum Schluss kurz skizziert werden soll, lädt er doch zu einer ebenso aktuellen wie zwiespältigen Pointe ein. Ich habe Walden als Klassiker betrachtet und damit Vorstellungen von Überzeitlichkeit und Universalität verbunden. Nachzutragen ist die nationale, ja bis zu einem gewissen Grade nationalistische und gar (im positiven Sinne) lokalpatriotisch-chauvinistische Dimension des Buches. Thoreau bezog seine Hütte am 4. Juli – reiner Zufall, wie der Autor behauptet, aber selbst als Zufall ein bedeutsamer Fingerzeig: Thoreau versteht sich als Amerikaner, sein Experiment knüpft an jene Emanzipation an, für die im Kalender der USA noch heute Independence Day steht, in Erinnerung an den 4. Juli 1776, an dem die Gründungsurkunde der Vereinigten Staaten, die Declaration of Independence, unterzeichnet wurde. Thoreau als Amerikaner, Walden als Ausdruck eines amerikanischen Selbstbewusstseins – normalerweise mache ich um diesen Aspekt nicht allzu viel Aufhebens, gehört Walden doch längst zur Weltliteratur. Aber es gibt Zeiten, da kann man gar nicht genug Aufhebens darum machen, steht doch Thoreau mit seiner Biographie wie mit seinem Werk für ein nobles, anspruchsvolles und nicht zuletzt weltoffenes Amerika ein, das umso größeren Respekt verdient, als es seit einiger Zeit Tag für Tag in einen Morast primitiver Tweets ‚getrumpelt‘ wird.