Große Werke der Literatur XV

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Doch nun gilt es natürlich auch das Trennende zu sehen. Zu verbinden und in eins damit zu trennen, gehört ja ganz wesentlich zur Figur der Metonymie. Für Zola ist die Eisenbahn Teil eines ‚natürlichen‘ Systems, in dem physikalisch-technische, wirtschaftliche, physiologische und eben auch psychische Gesetze zur Anwendung kommen und sich wechselseitig potenzieren. Dieses System von Gesetzen kann viel zerstören, aber es wird auf lange Sicht, der Gedanke prägt vor allem die letzten Romane des Rougon-Macquart-Zyklus, durch alle Katastrophen hindurch sich selbst regenerieren und heilen. Die Maschinerie der Eisenbahn ist Teil dieses Systems, und vor allem die Lokomotive wird zu einem lauten, kraftvollen, oft zerstörerischen, geradezu mythischen Monster überhöht. Aber letztlich führt sie eben doch in eine bessere Zukunft hinein.20

Fontane erzählt lediglich Metonymien dieses naturalistischen Systems, weil er ganz anders argumentiert. Seine Metonymien übersetzen die naturalistischen ‚Fäden‘ in ein ganz anderes ‚Gewebe‘, einen ganz anderen Diskurs. Bezeichnenderweise bewegt sich der Zug in Cécile völlig lautlos und geruchsfrei. Die Eisenbahn steht nicht wie bei Zola für eine Dynamik von Gesetzen, ja Zwängen; sie steht für eine Dynamik der Gefühle und des Denkens. Die Eisenbahn, genauer, denn deren Technik oder Organisation interessiert hier niemanden, die Reise, die Fahrt durch deutsche Geographie („die Siegessäule halb gespenstisch“, „Magdeburg und sein Dom“), dies alles ist in Cécile nicht Teil eines Netzes von Gesetzmäßigkeiten, sondern Teil eines Netzes von Informationen. Entlang der Strecke zwischen Berlin und dem Harz werden Erfahrungen ausgetauscht: ‚Geschichten‘ reisen hin und her („täuschte nicht alles, so lag eine ‚Geschichte‘ zurück“, (143)), Emotionen, Wert-Setzungen, auch Vorurteile und Traumatisierungen, Missverständnisse, Täuschungen und so fort, trennen, verbinden, überlagern und klären sich. Das sind alles ‚Nachrichten‘, Informationen, die zwischen den Personen, zwischen Teilen der Gesellschaft (man denke an die wichtigen Briefe) und zwischen Berlin und dem Harz hin und her ‚reisen‘. Und nicht zuletzt werden sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein transportiert und ausgetauscht. Das Eisenbahn-Netz signalisiert, ja vertritt bei Fontane, ein Kommunikations-Netz. Es ist ein Teil davon. Und in diesem ist Verständigung und Konsens prinzipiell zumindest möglich. Insbesondere wenn dieses Kommunikations-Netz auf die Ebene des literarischen Erzählens gehoben und so erst recht verallgemeinert wird. Fontane erzählt das alles ganz illusionslos und durchaus auch ein wenig brutal, aber er erzählt immer nur ‚Teile‘ von ‚Teilen‘ des europäischen Naturalismus, und er erzählt zugleich gegen diesen an. Er ‚transferiert‘ gemilderte und verfeinerte ‚Teile‘ aus dessen ‚grober‘ Erzähl-Welt in seinen eigenen Diskurs, so dass sie zu ‚Teilen‘ (pars pro parte) eines nun letztlich, und zumindest als Ziel, human verfassten Kommunikations-, je Gesprächs-Netzes werden.

Solche ‚naturalistischen‘ Fragmente, hier also die Eisenbahn-Szene, die in ein kommunizierendes, ja reflektierendes Medium übertragen werden, zeigte etwa auch die weiter oben bereits untersuchte Spiegelung der Umwelt in Irrungen, Wirrungen: Lene wird zum Ding unter Dingen, aber dies wird zugleich ganz wörtlich auf die Ebene der Spiegelung, also der ’Re-Flexion‘ gehoben. Noch raffinierter argumentiert in diesem Sinne der „Dreh- und Straßenspiegel“ in Stine (482), der Distanz zur ‚Straße‘ wahrt, diese aber zugleich auch pars pro parte heranholt. Und Stine wird diesem Sog letztlich nicht entgehen, so wie auf ihre Weise auch Lene nicht und auch nicht Cécile. Und, um ein vorerst letztes Beispiel zu nennen, die vielfach verschachtelte, in Teilen verborgene, in Teilen zur Erzähl-Bühne21 erweiterte Gärtnerei am Anfang von Irrungen, Wirrungen hängt sicher metonymisch mit der großen und harten Großstadt-Welt ‚draußen‘ zusammen; man denke nur an die Betrügereien und die sexuellen Anspielungen des Dürr-Paares. Aber präsent ist die Welt ‚draußen‘ auf dieser erzählten ‚Bühne‘ vor allem in der Musik vom Tiergarten her und natürlich in den weit hinaus schweifenden Gesprächen. Fordern sie die Leser nicht geradezu auf, mit hinein zu hören und zu reden und zu denken?

Effi Briests ‚ganz arme Schwestern‘

Freilich ‚den‘ Naturalismus gibt es nicht. Es gibt, wie anderswo gezeigt,22 klare gemeinsame Voraussetzungen und durchaus widerstrebende Folgerungen. Und genau in diese Vielfalt sind Fontanes Metonymien zwar distanziert, aber farbig und fest hinein „verwoben“.23 Für eine transnational interessierte Lektüre Fontanes nun besonders aufschlussreich scheint mir zuvorderst jene zweifache Bedeutung, die ‚Natur‘ im europäischen Naturalismus oft hat: ‚Natur‘ im Sinne eines soziologisch gewendeten Darwinismus – das kann hier natürlich nur ganz allgemein so benannt werden, bleibt aber richtig –; und mindestens ebenso wichtig ist hier eine ‚Natur‘ im Sinne Rousseaus und der Romantik. In diesem doppelten metonymischen Verweis treten die feinen ‚naturalistischen Fäden‘ in Fontanes Erzählkunst kräftiger hervor und verknüpfen die drei in ihrer Entstehung einander einrahmenden Erzählungen: Cécile, Irrungen, Wirrungen, und Stine. Immer ist es dabei der Roman des Naturalismus, den es auf einem Niveau wie dem Fontanes in der Deutschen Literatur ganz einfach nicht gibt, der diese kräftigen Farben liefert.

Wo etwa Fontanes Stine nur fürchtet, dass „das Herz“ gegen die Alltagsmisere nicht „aufkommen“ wird – „es ist ein ander Ding, sich ein armes und einfaches Leben ausmalen oder es wirklich führen“ (552) –, da wird genau dieser Konflikt, „ein armes […] Leben […] wirklich [zu] führen“, im europäischen Naturalismus immer wieder drastisch zu Ende erzählt. Und dieser Konflikt ist, was es bei Fontane nie gibt, eigentlich immer schon vorweg entschieden. Man kann hier völlig zu Recht von ‚Effi Briests ganz armen Schwestern‘ sprechen und sehen, wie Lene oder Stine sich ihnen nähern. Der Ring aus Haar, der Kranz aus Blumen bleiben in Fontanes Irrungen, Wirrungen fern hin verweisende Spuren, feine Fäden, die aber mit drastischeren Texten verbunden werden können. In George Gissings The Nether World (1889) etwa muss alles, was an eine bergende, zyklische Natur auch nur erinnert, sofort verkauft werden: der Ehering gleich am Tag nach der Hochzeit an den Pfandleiher – so plakativ ‚determiniert‘ geht es bei Fontane nie zu, aber sagt nicht Lenes Ring aus Haar letztlich genau dasselbe? –, die Kinder zur Arbeit, der Rhythmus von Morgen und Abend an die Sorge um Essen und Alkohol, die Familien-Kontinuitäten an das Milieu bzw. an das Geld, ein Geld, das verdient wird nicht nur durch Arbeit, sondern eben auch durch Verbrechen und Prostitution. Sind aber nicht auch solche Farben in den feinen Motiv-Fäden Fontanes präsent?

Am nächsten kommt Fontane vielleicht dem Naturalismus, wenn der Versuch, aus gesellschaftlichen Konventionen auszubrechen, sich nur als neue Form der Anpassung realisieren ließe und erst recht tödlich endet. Freilich bleibt es bei Fontane lediglich beim Gedanken an ein Ausbrechen, und der Tod ist mild: Der Selbstmord des jungen Grafen in Stine ist ein resigniertes, aber auch versöhntes Einschlafen; die Duelle in Cécile und Effi Briest haben etwas Rituelles, fast Spielerisches; selbst Krankheit und Tod wie in Cécile, Stine, und erst recht in Effi Briest werden umsorgt und gepflegt erlitten, verstanden und akzeptiert. Man könnte bei Fontane fast von ‚Metonymien des Todes‘ reden. Und doch sind sie ein leidendes Plädoyer für das Atmen- und Leben-Wollen der Menschen schlechthin. Auch so aber wird auf das viel drastischer erzählte naturalistische Paradigma immer noch deutlich verwiesen. Der männliche Held in Theodore Dreisers Sister Carrie (1900), oder die Protagonistin in Emile Zolas L’Assommoir (1877) sind allerdings aus ihren angestammten sozialen Räumen ausgebrochen: nach New York und nach Paris. Aber das ist eine neue Form der Anpassung, und der soziale Abstieg, den sie mit sich bringt, wird langsam und detailliert ausgearbeitet. Sie sterben im Obdachlosenasyl und im Verschlag unter der Treppe des großen Mietshauses. Dieser Tod ist ein Protest ganz ohne subjektive Versöhnung. Wenn er Perspektiven eröffnet, dann nur im radikalen Verweis auf andere und anderes, das es im weiteren Œuvre dieser Autoren dann freilich auch gibt. Bei Fontane dagegen lässt sich über alles reden, lässt sich alles bedenken und aus allem lernen.

Betrachten wir andere Konfliktkonstellationen: Lene und Stine bei Fontane werden von Standesvorurteilen beiseite geschoben, Cécile und Lene werden von moralischen Gewohnheiten beleidigt, wenn auch leichthin, im gesitteten Gespräch, ja im Plauderton. Effi Briest wird verletzt, weil man sie nicht versteht, nicht verstehen will. Thomas Hardys Tess of the d’Urbervilles (1891) aber wird von Standesprivilegien vergewaltigt und von Unverständnis und moralischen Vorurteilen in ihrer Identität nahezu zerstört. Sie stirbt nicht versöhnt, sondern wird hingerichtet. Umso kräftiger tritt diesen sozialen Konflikten das Thema der ‚reinen Natur‘ entgegen (A pure woman, so der Untertitel). Denn hier gibt es eben auch eine nährende, bergende, zugleich freilich wuchernd vitale, ja wilde Natur, bis hin zu grausam ‚natürlichen‘ Szenen („the rat-catching“ in Kap. 48 etwa) und bis hin zum ‚mörderischen‘ Aufstand der Kreatur am Ende.

Sich als Ehepartner ‚verkaufen‘ zu müssen, ist für Botho in Irrungen, Wirrungen etwas zum Lachen: laut, albern, und dies immer wieder – darin freilich verräterisch –; in Effi Briest wird es sogar nur ein vermeidbares Missverständnis bedeuten, wie die Eltern am Ende einsehen. In Giovanni Vergas Romanen dagegen wird die Qual der Anpassung langsam und intensiv dramatisiert: als unwiderstehlicher, täglich neuer materieller Druck für die Tochter der armen Fischer in I Malavoglia (1881), oder als Sog für den Aufsteiger in Maestro Don Gesualdo (1889), in beiden Fällen als unerbittlich fortschreitende Zerstörung des humanen Selbstbewusstseins. Man verfolgt ganz direkt, wie das Herz gegen Druck und Sog materieller Bedingungen „nicht aufkommen“ kann (Stine) „il cuore stretto in una morsa / das Herz in einen Schraubstock eingespannt“, heißt es bei Verga –,24 und wie zugrunde gehen wird, wie es in Irrungen, Wirrungen heißt, wer, wie Gesualdo, sich anpasst. Doch geradezu mythisch steht hinter allem bei Verga die Präsenz der in ihren natürlichen Rhythmen, auch denen der Arbeit, lebenden sizilianischen Landschaft und erst recht das große, machtvolle Meer. Das freie, offene Meer – „il mare non ha paese / das Meer hat keinen Ort“25 – das nicht ‚determinierte‘ Meer spricht in I Malavoglia immer mit hinein, lauter als der Wald in Cécile (der Harz), oder die Flussauen in Irrungen Wirrungen („Hankels Ablage“), oder die Dünenlandschaft in Effi Briest, viel lauter gewiss, aber auch bei Fontane ist diese ‚Stimme der Natur‘, wenn ich so sagen darf, immer zu hören.

 

Der Autor nun, der ganz gegensätzlich orientierte naturalistische Paradigmen, die Antithesen der ‚Natur‘ im Naturalismus, vielleicht am konsequentesten gegeneinanderstellt, ist Emile Zola. Die Erfolge und Katastrophen innerhalb einer weit verzweigten Familie unter dem Zweiten Kaiserreich erreichen die höchsten politischen Intrigen am Kaiserhof und in der Regierung oder etwa die der Börsen – und Immobilienspekulation, die Romane dringen aber auch vor in die Tiefen der Arbeitswelt in den Bergwerken, auf den Großbaustellen oder den Eisenbahnen, und führen hinein in die letzten Winkel von Alkoholismus, Prostitution oder Krankheit. Zola begreift – aber das ist eben nur eine seiner Orientierungen – in seinem antithetisch-monistischen Weltbild die Realität seiner Zeit als Natur im Sinne Darwins oder des Positivismus:26 als Überlebenskampf der Evolution, wobei freilich immer auch die Selbstheilungskräfte der erzählten Gesetzmäßigkeiten, die starken und oft auch freundlichen ‚Triebe‘ weiter verfolgt werden. Andererseits aber – und das wurde oft übersehen, schon von Fontane selbst – ist Zola unter den Naturalisten vielleicht der am tiefsten gläubige Rousseauist und Romantiker. Immer wieder trifft man auf groß und farbig ausgemalte Bilder ‚mütterlicher‘, nährender, bergender, zyklisch sich erneuernder und den Menschen freundlicher Natur. Und beide Orientierungen zusammen geben nun in der Tat einen sprechenden Kontext ab für Fontanes metonymische, wohlgemerkt, lediglich metonymische Verweise.

Zumindest ein Beispiel dazu möchte ich vorzustellen: Der Friedhof im letzten Teil von Irrungen, Wirrungen – ich habe ihn oben ausführlicher betrachtet – erinnert nur von fern und auch geradezu in negativer Entsprechung an die reichere und lebendigere Natur anderswo. Fontane lässt seinen Romanhelden, wenn er mit einem billigen, industriell gefertigten Kranz für das Grab der Mutter seiner Geliebten im Gewirr genormter Friedhofswege herumirrt, er lässt ihn, sieht man genau hin, eine Kontinuität suchen, die Botho selbst abgebrochen hat, die aber die Leser begreifen. Und sie begreifen ihre Notwendigkeit. Effi Briests einsames Grab befindet sich nicht auf dem Friedhof, sondern, als stünde sie außerhalb der ehrbaren Gemeinde, im Garten; und dort ruht sie bezeichnenderweise anstelle der Sonnenuhr, aber unter dem eigens für sie bewahrten Heliotrop: in ihrem verlorenen Kindheitsparadies, dessen Zeit verloren ist, dem aber bildhaft, wie der griechische Name es sagt, sein Sinn, die Ausrichtung auf die Sonne, bewahrt wurde.27 Erinnert nicht gerade dies noch deutlicher als das Großstadt-Grab in Irrungen, Wirrungen an das Leben, das volle, freie Leben, das hier fehlt?

Und es erinnert eben von ferne auch an Zola. Auf einem aufgegebenen Friedhof beginnt Zolas zwanzig bändiger Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871–1893), also der Anfang der ganzen Familiengeschichte, mit dem Roman La fortune des Rougon (1871). Aber dies ist jetzt ein vegetativ wuchernder Natur-Ort, wo immer wieder ganz zyklisch Tod in Leben, also wo ganz drastisch menschliche Verwesung in Pflanzen und Blumen übergegangen war, und in, ja, auch dies, in Früchte, etwa in saftige, wohlschmeckende Birnen, die ihrerseits wieder gegessen werden, so dass der Zirkel von Leben und Tod, tatsächlich geschlossen wird.28 Zola macht aus dieser Friedhofs-Wiese einen geradezu mythischen Ort: „une mer d’un vert sombre, profonde (d‘)une fertilité formidable“,29 „ein tief dunkel-grünes Meer“ – „la mer“, „das Meer“, ist im Französischen phonematisch gleich mit ‚la mère‘, ‚die Mutter‘, was hier natürlich bedeutsam ist –, ein, wörtlich genommen, ‚mütterliches Meer‘ von ‚außerordentlicher Fruchtbarkeit‘. Und die beiden ersten Romangestalten, die nachts aus romantischem Walddunkel heraustreten: ‚Miette‘, wörtlich ‚Brotkrume‘, und ‚Silvère‘, ‚der Waldige‘, ihr Aussehen, z.B. Miettes prächtiges Haar „pareils à une mer crépue“,30 das einem „gekräuselten Meer“ gleicht, nehmen das Thema lebendiger Naturtotalität ebenso auf, wie die ganze romantische Liebes- und Revolutionsgeschichte dieser beiden Kinder.

Nur in solchen Naturräumen können Zolas Liebende glücklich sein: im Kontrast zu den gierigen Meuten, die sich um Erfolg und Besitz raufen, oder den todbringenden Maschinenwelten der Mietshäuser, Destillen und Fabriken. Die Gärtnerei in Irrungen, Wirrungen, der freilich „alles Feinere fehlte“ (324), ein kleinbürgerliches Paradiesgärtlein zwischen Karotten und Lauch, an das der vielfach belebte Tiergarten-Park angrenzt, ist gleichwohl für Lene und Botho ihr Natur-, Freiheits- und Seelen-Raum voller „Duft und Frische“ (342), wo sie sich außerhalb von Konvention und Verstellung ihrer Liebe, ja lediglich deren Illusion hingeben können. Und diese Liebe ist für Fontane, wie eigentlich im ganzen 18. und 19. Jahrhundert, ein bedeutsamer Teil, pars pro toto, für Humanität. Sehr viel deutlicher und kräftiger nun kann man die Variation solcher Natur- und Humanitätsinseln, freilich auch ihre entschiedene, farbenfrohe Vergrößerung in den Rougon Macquart wieder finden: Von dem Großstadtgarten, kostbar und gepflegt wie ein Salon, in dem Roman mit dem bezeichnenden Titel Une page d’amour/Ein Blatt Liebe (1878), über die luftige und helle Dachterrasse mit ihren Kübelpflanzen hoch über der Seine in La Curée/Die Meute (wörtlich ‚Beute der Hunde‘ nach der Hetzjagd, 1874), einem paradiesischen Kinderzimmer, aus dem heraus die Romanheldin noch brutaler als Cécile oder Effi an einen viel älteren Mann ‚verkauft‘ wird, oder kontrapunktisch entsprechend später über den großen warmen Wintergarten, der zum bevorzugten Treffpunkt der Liebenden im selben Roman wird (wie in Fontanes L’Adultera, 1882), ja bis hin zu dem kleinen Grasplatz mit dem vertrockneten Baum in L’Assommoir (1877), wo Gervaise und ihr Goujet von ihrer Liebe nur zusammen reden und träumen, wo der Anblick von ein paar Buchsbaumhecken vor einer Kneipe sie fast zu Tränen rührt und Goujet für Gervaise viele Löwenzahnblüten pflückt,31 so wie Stine und Waldemar bei Fontane, die durch das Fenster nur auf ein paar Bäume blicken können. Aber hat dann nicht auch in Irrungen, Wirrungen der kleine Vorgarten, in dem das „gärtnernde“ Kind mit Lenes „Leid des Lebens“ mitfühlt, eine Bedeutung, die solche Zusammenhänge wachruft?

Alle diese Räume verweisen bei Fontane und in den bis jetzt gezeigten Kontexten auch bei Zola lediglich auf freiere sinnerfüllte Natur in der Tradition der Romantik. Doch bei Zola gibt es solche all-lebenden Vegatations-Welten auch ganz farbig und direkt. Denn von den domestizierten Natur-Räumen in der Großstadt reicht bei dem wichtigsten Romancier des europäischen Naturalismus die erzählte und imaginierte Galerie der Naturentwürfe bis zu dem mythisch-tellurischen Raum einer nun in der Tat zyklischen Natur, Inbegriff der „forces mères/mütterlichen Kräfte“, in La terre (1887),32 oder zu der Garten-, Fluss- und Inselwelt im Mittelteil des Künstlerromans L’Œuvre (1886), in der die das Leben verzehrende künstlerische Arbeit keinen Platz hat, in der aber die Liebe und das Kind, die Antithesen, ja Anti-Mythen der Kunst, leben und gedeihen, ein Naturraum, den Lene und Botho vergleichbar in ‚Hankels Ablage‘ noch kürzer auch nur durchqueren dürfen, oder, – und hier, so könnte man sagen, wird Effi Briests Kindheitsgarten in großem Maßstab explizit gemacht – bis hin zu dem verwilderten Park ‚le Paradou‘, ein Garten Eden voll Blumen, Früchten, von Bächen durchzogen usw., in La Faute de l’abbé Mouret (1875), „une île (de) nature tout à fait primitive“ (eine Insel ganz ursprünglicher Natur),33 wo der von seinen Zwängen befreite Priester und das vollkommene romantische ‚Naturkind‘ – Effi Briest ist dies ja nur mit einem Teil ihres Wesens – jenes Liebesglück finden, freilich auch den romantischen Liebestod, an dem Effi (nicht zufällig heißt der Name ‚Eva‘) allenfalls von ferne teilhat. Und bei Zola wird dieser Garten ‚le Paradou‘ im Schlussroman des Zyklus Le docteur Pascal (1893) und in der Vorstellung und im Gefühl zweier Liebender ausdrücklich, und wie ein Bekenntnis, neu erschaffen.34 Zuletzt beherrscht dann bei Zola ein neugeborenes Kind die allerletzte Roman-Szene, das als „appel à la vie/als Anruf an das Leben“, sein Fäustchen in den Himmel reckt.35 Freilich, hat nicht auch in Effi Briest ein symbolischer Garten, von einem Eva-Kind bewohnt, auch wenn es ein totes ist, zumindest ein letztes Wort, zumindest eines von mehreren, allerdings eben als metonymisches Argument in absentia, als Hinweis auf etwas Lebensnotwendiges, das fehlt?

Fontane und der Europäische Naturalismus

Natürlich gäbe es jetzt über die verschiedenen Argumentationsformen und ihre Sinnperspektive bei Fontane, das was er ‚Verklärung‘ nannte, über die Verschiedenheit seiner Metonymien zu den naturalistischen antithetischen Totalisierungen bei Zola und anderen noch viel mehr zu sagen. Fontane hat sich ja auch von Zola in Aufzeichnungen und Briefen zwischen 1880 und 188336 in fast schon übertriebener Lautstärke abgegrenzt (ihn freilich auch wohl nur sehr selektiv gekannt).37 Aber die distanzierten, gleichwohl festen Gemeinsamkeiten bleiben sprechend: Die farbigeren, großflächigeren, expliziteren Texte Zolas können auch bei Fontane feine Fäden sichtbar machen, die ihn mit dem Europäischen Naturalismus verbinden.

Aber Fontane verweist nur darauf, wie auf einen Rahmen von Zwang und Sog, von Sehnsucht und Gefahr, der nicht zuletzt eben auch unsere drei Erzählungen, Cécile, Irrungen Wirrungen und Stine verbindet. Doch übersehen wir bitte die tiefen Unterschiede nicht! Der naturalistische Rahmen mit seinen kräftigen Farben gilt, aber die feinen Fäden im Erzählwerk Fontanes sagen letztlich etwas anderes. Die antithetischen Natur- und Gesellschaftsentwürfe Zolas: Natur als vitale, liebende Heimat, Natur als Kampf ums Dasein, diese Gegenwelten heben sich evolutionär auf. Das Gesamtsystem lebendiger Naturgesetze, das auch Zivilisation, ja Technik und Intellekt beherrscht, heilt sich auf lange Sicht selbst. Die Kranken leben nicht fort, gesunde neue Triebe sprießen überall hervor, die bösen Anlagen zerstören sich wechselseitig oder werden vertrieben, Arbeit, Klugheit, Liebe, Kunst und Literatur, nicht zuletzt patriotisches Engagement, tun das ihre; auch das Geld ist zugleich „empoisonneur et destructeur“, „zerstörerisches Gift“ und notwendiger „Dünger“ des Fortschritts, „le ferment de toute végétation sociale“, bis hin zur Bedingung einer neuen Welt, „le réveil d’un monde, l’humanité élargie et plus heureuse“, bis hin also zur Ankunft freierer und glücklicherer Humanität.38 Die Zukunft gehört der freien Evolution des Lebens:

La vie, la vie qui coule en torrent, qui continue et recommence, vers l’achèvement ignoré! La vie où nous baignons, la vie aux courants infinis et contraires, toujours mouvante et immense, comme une mer sans bornes/Das Leben, das Leben, das wie ein Strom dahin fließt, das sich fortsetzt und wieder beginnt, einer unbekannten Vollendung entgegen! Das Leben, in dem wir schwimmen, mit seinen unendlichen gegenläufigen Strömungen, unendlich und immer in Bewegung, wie ein Meer [eine Mutter] ohne Grenzen.39

Der alte Fontane steht solchen Visionen tief skeptisch gegenüber. Er erzählt eher eine Aporie bloßer Ideen und Utopien, als sich ihnen hinzugeben. Die Deutschen Naturalisten, vor allem Gerhart Hauptmann und Arno Holz, teilen Zolas Antithesen, sehen sie aber prinzipiell unaufgelöst. Natur im Sinne Rousseaus oder der Romantik ist bei ihnen der handelnden Außenwelt gegenüber buchstäblich Erinnerung, so aber hat sie immer noch ihren Sehnsuchtswert. Wie durch ein Fenster schaut sie manchmal in die Gefängnisse der naturalistischen Dramen-Räume herein. Und Sehnsuchtswert hat eine freundliche, humane Natur auf alle Fälle auch für Fontane. Man denke über die bisher vorgestellten Natur- und Liebes-Räume hinaus überhaupt an den Mythos der Ozeanien, Undinen und Melusinen, der Natur-Wesen, ein Mythos der Fontane zeitlebens faszinierte. Aber Sehnsüchte oder Mythen haben bei ihm nicht einfach Recht. Ich habe gezeigt, wie beide Seiten der antithetischen Naturauffassung, z.B. der Zolas, sich bei ihm finden lassen; sie erscheinen freilich feiner, sozusagen homöopathisch gemildert – das Medizinische ist für die Naturalisten immer eine Orientierung gewesen, und Fontane war ja von Haus aus Apotheker.

 

Fontane argumentiert, was man ihm ja auch oft vorgeworfen hat, lediglich in indirekten Verweisen. Und er verfolgt – das darf nicht verwischt oder gar gleichgesetzt werden – ein von den Naturalisten grundsätzlich verschiedenes, erzählstrategisches Ziel.40 Bei Zola sollen sich die Leser von der Evolution mittragen lassen und ihrerseits an ihr arbeiten. Die Deutschen Naturalisten provozieren Alternativen, vielleicht auch Protest. Fontane sucht im Netz der Metonymien den „großen Zusammenhang der Dinge“, wie es im Roman Der Stechlin heißt.41 Genauer: Die Kunst des Verweisens will die Antithesen der zuletzt nicht weniger deutlich als bei den Naturalisten gesehenen ‚harten‘ Realität übersetzen in Reflexion, Sprache, Bewusstsein der Gefühle und in Denken. Der ‚große Zusammenhang‘ ist für Fontane alles andere als eine evolutionäre Utopie, wie Zola sie entwirft, sondern ein bewusst gesuchter und ganz illusionslos, ja durchaus skeptisch gesehener, allenfalls möglicher intersubjektiver Konsens: ein gesuchter, allenfalls möglicher, aber keinesfalls gegebener oder gar sicherer humaner Fortschritt. So formuliert gerade das vollkommen humanisierte Naturwesen Melusine, eine liberal und progressiv denkende Aristokratin in Fontanes letztem Roman Der Stechlin (1889), diese sozusagen regulative Idee der Humanität am klarsten, wenn sie sagt, dass „wir […] den großen Zusammenhang der Dinge“ in allen „neuen“ Bestrebungen suchen und dafür „recht eigentlich leben“ sollen. Aber sie hält diesen „revolutionären Diskurs“42 nicht als Vision oder Hymne, wie Zolas Sprachrohr, der Docteur Pascal, sondern gerade auch den Lesern gegenüber von gleich zu gleich, nur so ist intersubjektiver Konsens möglich, als Gespräch, ja, – und warum nicht? – im Plauderton.

Literaturverzeichnis