Eros und Logos

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From the series: Popular Fiction Studies #4
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Eros und Logos
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Eros und Logos

Literarische Formen des sinnlichen Begehrens in der (deutschsprachigen) Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Albrecht Classen / Wolfgang Brylla / Andrey Kotin

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0090-8

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Inhalt

  Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte

  Gott, der an Frauenbrüsten ruht

  Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters

  Erotisierende Rezeptionen von Claudians Epithalamium an Palladius

  „Was ist erquickender als schoͤne Brust-Granaten“

  Liebe und Sexualität in Friedrich Schlegels Lucinde

  „Das Fleisch hat seinen eigenen Geist“

  Eros und Thanatos oder von kleinen Lieben im Großen Krieg

  Die heiligen Gespräche in Der Mann ohne Eigenschaften

  Sinn und Sinnlichkeit Berlins

  Inszenierungen von Geschlechtsidentitäten

  Gottfried Benns Briefe an Ursula Ziebarth

  Rose Ausländers frühe Liebesgedichte

  Frauenkörper als Tauschobjekt

  Horror in sexualibus

  „[A]ls hätten sie das Fremdsein erfunden, um sich tiefer lieben zu können“

  Lust auf Verbotenes?

  Anormalität als Normalität

  Weiblichkeitsdarstellungen in Szczepan Twardochs Roman Morphin

  Autorenverzeichnis

Liebe, Erotik und Sexualität in der deutschen und europäischen Literaturgeschichte

Eine Diskussion universeller Lebensbedingungen im fiktionalen Kontext

Albrecht Classen (Tucson, Arizona)

I

Erotik ist angesagt; sie war schon immer ein zentral menschliches Thema, in der Dichtung, in der visuellen Kunst, in der Musik und in anderen Medien und bewegt sowie begleitet den Menschen in zahllosen Situationen und unter verschiedenen Umständen. Erotik ist von solch grundlegender Bedeutung für alle Kultur, dass es gar keiner besonderen Erklärung bedarf, warum wir hier einen Sammelband mit literaturwissenschaftlichen Studien zu diesem Thema vorlegen und die Beziehung zwischen der Liebeserfahrung und deren poetischen Umsetzung eruieren. Wohin wir auch blicken, entdecken wir erotische Aussagen, Motive, Sujets und literarische oder visuelle Materialien. Menschliches Leben ist getragen von Erotik und erreicht seine eigene Überhöhung mittels erotischer Energie. Es handelt sich dabei um einen ungemein wichtigen Motor in der humanen Existenz, der uns zunächst zutiefst in die materielle Dimension hineinträgt, von dort aber überraschend auf ein spirituelles Niveau katapultiert. Religion, Liebe, Lust, Ästhetik, Philosophie, Spiritualismus und Sinnlichkeit finden sich alle vereint in und bestimmt von Erotik.

Inwieweit in der Vergangenheit über solche Aspekte mehr oder weniger deutlich gesprochen wurde, einschließlich der Sexualität und sogar der Pornographie, herrscht oftmals Unklarheit, weil man sich mit den relevanten Quellen nicht auseinandergesetzt hat, entweder aus Scheu vor heiklen Sujets, die sich dort finden, oder aus selbstverschuldeter Blindheit, denn gewisse Epochen sollen anscheinend allein von einer bestimmten Sichtweise her beurteilt werden. Dies trifft genauso auf das Mittelalter wie auf die Reformationszeit, auf den Barock und die Klassik zu. Die Literaturgeschichte hat uns da oftmals ziemlich starke Scheuklappen aufgesetzt. Betrachtet man sich z.B. die barocke Aneignung des Epithalamium an Palladius und Celerina von Claudius Claudianis (ca. 400 n. Chr.) durch Johann von Besser, Benjamin Neukirch, Christian Hölmanns und einen Anonymus, kann man nur staunen, wie drastisch die menschlichen Geschlechtsorgane und der ersehnte Koitus beschrieben und zugleich metaphorisiert werden (vgl. dazu den Beitrag von Antonius Baehr).

Zugleich gilt aber, dass sich die westliche Gesellschaft immer wieder vehement gegen die öffentliche Behandlung von Erotik oder Sexualität gewandt hat, was zu einem wichtigen literarischen Thema gerade des 19. und 20. Jahrhunderts anwuchs, wobei doch nur natürliche menschliche Triebe unterdrückt wurden, wie die Werke von Frank Wedekind explizit zum Ausdruck bringen (vgl. dazu den Beitrag von Anja Manneck). Besonders problematisch ist dazu stets noch das literarische Bekenntnis zur Homosexualität gewesen, im Mittelalter weitgehend vollständig unterdrückt, ja tabuisiert, selbst im 20. Jahrhundert mit großer Vorsicht gehandhabt, wie z.B. der Roman Lyrische Novelle (1933) von Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) gut veranschaulicht (vgl. dazu den Beitrag von Karolina Rapp). In der modernen Großstadt wie Berlin während der 1920er Jahre gewann sie aber erheblich an Bedeutung, auch wenn sie in der Öffentlichkeit umstritten blieb (vgl. dazu den Beitrag von Marlene Frenzel).

Wie es nicht anders zu erwarten war, spielt auch in der neuesten Literatur die Erotik bzw. das Sexuelle eine gewichtige Rolle, weil hierbei die eigene Identität hinterfragt und neu ausgekundschaftet werden kann. Die Spannungen zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen oder einfach zwei Geschlechtstypen, um die Homosexualität bzw. Transsexualität mitzuberücksichtigen, konstituieren unablässig das Medium der Selbsterprobung, wie jetzt die polnischen Romane von Szczepan Twardoch eindringlich vor Augen führen (siehe dazu den Beitrag von Rafał Biskup).

Gleichgeschlechtliche Liebe hat es immer gegeben, ist oft ein Teil der biologischen Struktur des Menschen, auch wenn gerade die Kirchen stets heftig dagegen gekämpft haben. Umso wichtiger ist das literarische Medium gewesen, in dem homoerotische Anliegen durchaus mehr oder weniger codiert häufiger zum Ausdruck gekommen sind. Wie auch immer, menschliche Kultur, Sprache (Logos) und Natur erweisen sich zutiefst von Erotik determiniert, wenn nicht sogar der Logos ein Ausdruck von Erotik sein dürfte, was uns dazu zwingen könnte, die Literaturgeschichte nach ganz anderen als den bisher verfolgten Kriterien (neu) zu schreiben, insoweit als die Sexualität allenthalben auftritt und eine viel wichtigere Rolle einnimmt, als es die Forschung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollte. Erotik dient vielmals als eine Brücke zwischen den Kulturen und ist häufig das Bindeglied zwischen fremden Gesellschaften gewesen, wie wir es u.a. in den Romanen Alfred Anderschs (1914–1980), der Renate Ahrens (geb. 1955) und Joseph Zoderers (geb. 1933) beobachten (zum letzteren vgl. den Beitrag von Verena Zankl und Irene Zanol). Die Liebe katapultiert das Individuum aus seinem vertrauten Lebensbereich, aber oftmals findet es sich dann selbst innerhalb der neuen Liebesbeziehung in einer spannungsreichen und konfliktgeladenen Situation. Ist denn Liebe als solches nicht das Fremde schlechthin? Findet nicht derjenige, der liebt, Gott in sich selbst?

In Krisenzeiten wie dem Ersten und Zweiten Weltkrieg intensivierte sich die Erotik beträchtlich, weil die Menschen angesichts des drohenden Todes dazu tendierten, traditionelle Normen zu vernachlässigen und danach strebten, im Hier und Jetzt sexuellen Gelüsten zu frönen. Polnische Romane, die den Ersten Weltkrieg behandeln, illustrieren dieses Phänomen in höchst eindrucksvoller Weise (vgl. dazu den Beitrag von Paweł Zimniak), aber wir entdecken es auch in der deutschen Barocklyrik (siehe die Beiträge von Wolfgang Brylla und Antonius Baehr) oder im Zauberberg (1924) von Thomas Mann. Heinrich Wittenwilers Ring (ca. 1400) kommt uns hier genauso in den Sinn wie Bertolt Brechts Mutter Courage und ihre Kinder (1938/1939). Eros und Thanatos reichen sozusagen einander die Hände in der existentiellen Erfahrung von Extremen in der menschlichen Existenz.

 

Szczepan Twardoch (geb. 1979) bietet jetzt ein gutes Beispiel dafür in seinem Roman Morphin (2012; siehe dazu die Studie von Rafał Biskup), in dem sozusagen das Goethesche Diktum vom ‚Ewigen Weiblichen‘ neu aufgegriffen und reflektiert wird. Die frühe Liebesdichtung von Rosa Ausländer (1901–1988), die von der Forschung oftmals eher ignoriert worden ist, vor allem weil sie diese Werke lieber nicht publiziert sehen wollte, verdient ebenfalls kritische Aufmerksamkeit, wie Oxana Matiychuk in ihrem Beitrag überzeugend belegt, denn wenngleich Ausländer, wie andere bukowinische Dichter ihrer Zeit, stark auf die romantische Tradition zurückgriff, gelang es ihr hier, fulminant die Liebeserfahrung sprachlich anzusprechen und ausdrucksmächtig zu reflektieren. Hinzuzufügen wäre auch die Gattung der Liebesbriefe, in denen sich die zwei Partner intensiv austauschen und ihre Gefühle formulieren – vgl. etwa die ungemein aussagekräftigen Briefe zwischen Peter Abelard (gest. 1142) und seiner einstigen Geliebten, dann Ehefrau Heloise –, wie dies der Fall mit den erst jüngst veröffentlichten Briefen Gottfried Benns (1886–1956) an seine Geliebte Ursula Ziebarth war, von der aber nur drei Antwortschreiben an ihn erhalten sind (siehe dazu den Beitrag von Maciej Walkowiak in diesem Band). Benn pflegte diese Beziehung erst gegen sein Lebensende, obwohl er verheiratet war, aber dies entsprach seiner Lebensphilosophie allgemein, obwohl er dadurch immer wieder einen Skandal auslöste. Für ihn war es aber eine zutiefst bewegende Erfahrung, im hohen Alter immer noch Liebe von einer viel jüngeren Frau zu erleben, was seine Vitalkräfte enorm steigerte. Zugleich aber ergaben sich, worauf uns Walkowiak aufmerksam macht, sehr viele Spannungen zwischen Benn und Ziebarth, die intellektuell und sozial gesehen sich um einiges unterschieden. Liebe erweist sich also über alle Zeiten und in allen Kulturen als ein äußerst schwieriges Unterfangen, ungemein Glück vermittelnd, zugleich zutiefst Unzufriedenheit, Frustration und sogar Zorn und Wut auslösend.

Erotik und Sexualität haben aber immer unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen, wurden entweder idealisiert und sogar mystifiziert, wie wir es bei den Romantikern gut beobachten können (siehe dazu Friedrich Schlegels [1772–1829] Roman Lucinde [1799]; vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin), oder grotesk physisch desavouiert, wie vor allem in der Moderne z.B. von Elfriede Jelinek (geb. 1944) gestaltet.

Beginnen wir aber chronologisch. Das Hohelied Salomos im Alten Testament setzt ein mit diesen erstaunlichen Versen:

Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes; denn deine Liebe ist lieblicher als Wein. Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Jungfrauen. Zieh mich dir nach, so laufen wir. Der König führte mich in seine Kammern. Wir freuen uns und sind fröhlich über dir; wir gedenken an deine Liebe mehr denn an den Wein. Die Frommen lieben dich.

Und kurz darauf lesen wir:

Da der König sich herwandte, gab meine Narde ihren Geruch. Mein Freund ist mir ein Büschel Myrrhen, das zwischen meinen Brüsten hanget. Mein Freund ist mir eine Traube von Zyperblumen in den Weinbergen zu Engedi. Siehe, meine Freundin, du bist schön; schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.1

Natürlich soll der Leser hier nicht erotisch erregt werden, aber diese Lieder aus der Zeit von ca. 300 vor unserer Zeitrechnung besitzen viele Ähnlichkeiten mit griechischer und ägyptischer Lyrik säkularer Herkunft und erfüllten daher sicherlich einen doppelten Zweck: einerseits religiöse Metaphern für die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu bieten, andererseits diese erotische Tradition für den biblischen Diskurs funktionell zu machen. Wie dem auch sein mag, bestechen diese Verse durch ihre eindringliche Sprache, mit der das Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau höchst sinnlich beschrieben wird, und dies in einem zutiefst religiösen Kontext, wo das Verhältnis zwischen dem göttlichen Liebhaber und dem Gläubigen erotisch ausgemalt wird. Erotik erweist sich mithin als ein Paradox, denn obgleich diese Energie materiell begründet zu sein scheint, ermöglicht sie dem Individuum, genau diese materielle Begrenztheit schnell zu überwinden und zu neuen Dimensionen aufzusteigen.

Wir könnten aber noch weiter zurückschauen und z.B. die erotischen Passagen in Homers Ilias identifizieren, um eine Bestätigung dafür zu finden, dass Erotik von Anfang an eines der Grundelemente jeglicher literarischen Aktivität gewesen sein dürfte (Entführung Helenas durch Paris nach Troja, was den nachfolgenden Trojanischen Krieg auslöste). Aus der römischen Klassik ist uns insbesondere das Meisterwerk von Publius Ovidius Naso bekannt, der die Grundlagen für die literarische Auseinandersetzung mit dem Universalthema ‚Liebe‘ schuf. Zwar starb Ovid um 17 n. Chr. in der Verbannung in Tomis am Schwarzen Meer – auch dies ist etwas umstritten – , aber zeit seines Exils konnte er weiter in Rom publizieren und so wichtige Werke wie seine Tristia und die Metamorphosen schreiben bzw. vollenden. Hier treten so bekannte Liebespaare wie Pyramus und Thisbe, Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Pygmalion und Galatea und Leda und Medea auf, die der erotischen Phantasie in der westlichen Welt Tor und Tür geöffnet haben. Die Gründe für Ovids Verbannung mögen darin bestanden haben, dass er nach der Veröffentlichung seiner berühmten Abhandlung Ars amatoria ca. 2 n. Chr., in der das Verhältnis zwischen zwei Liebenden neu auf diskursive Weise ausgelotet wurde, indem er mehr oder weniger Gleichheit zwischen den Geschlechtern postulierte, seine Arbeit an dem Thema fortsetzte und schließlich seine Remedia amoris veröffentlichte, also seine Ratschläge, wie man die Gefahren und Verführungskünste von Liebe überwinden und hinter sich lassen könne. Wie die jüngere Forschung deutlich gemacht hat, diente der Bezug auf seine Remedia bloß als Vorwand, um die politischen Gründe für seine Verbannung zu kaschieren.2 Ovid genoss aber seitdem das höchste Ansehen als Liebesdichter, auch wenn er schließlich eher satirisch die Kehrseite dieses Gefühls beschrieb.

Etwas mehr als 1000 Jahre später verfasste dann der Kleriker Andreas Capellanus seinen eigenen Traktat über die Liebe, Ars amatoria (ca. 1180–1190), der eine verblüffende Struktur aufweist, insoweit als zunächst definitorische Bemerkungen über Liebe und das richtige Alter der Liebenden geboten werden, darauf eine lange Reihe von Dialogen zwischen Mann und Frau, meist unterschiedlichen Sozialstandes, die unterbrochen werden von geradezu juristischen oder allegorischen Texten über die festen Regeln der Liebe außerhalb der Ehe. Zum Abschluss des zweiten Buches stoßen wir schließlich auf eine kurze arturische Erzählung, durch die der absolute Wert von Liebe im höfischen Rahmen erneut deutlich unterstrichen wird. Das Ergebnis besteht dann darin, dass die Gesetze, wonach sich die Liebenden richten müssten, in der ganzen Welt verbreitet werden. Damit scheint jeder notwendige Aspekt angesprochen zu sein, aber das dritte Buch richtet sich auf einmal radikal gegen Liebe an sich und vor allem gegen Liebe außerhalb der Ehe, denn Gott habe diese streng verboten. Außerdem sei Frauen überhaupt nicht zu trauen, wie auch das Liebesstreben grundsätzlich abzulehnen sei. Bis heute fragt man sich daher in der Forschung, welche Intentionen der Dichter wirklich verfolgt haben mag, denn die Dialektik dieses Traktats stürzt uns mehr in Verwirrung, anstatt Aufklärung darüber zu vermitteln, wie das Phänomen der Liebe zu verstehen sei.3

Zur gleichen Zeit entstand geradezu eine Flut an einschlägigen höfischen Liedern und Versromanen, in denen die verschiedensten Blickwinkel bezogen auf die Erfahrung in der Liebe (vor-, außer- und ehelich an sich) durchexperimentiert wurden. Mit am bekanntesten dürften die lais der Marie de France (ca. 1170–1190) oder der Tristan von Gottfried von Straßburg gewesen sein, wo eine höchst problematische Dreiecksbeziehung zur Sprache kommt, insoweit als Tristan und die irische Prinzessin Isolde, die aber mit dem König Marke von Cornwall, dem Onkel Tristans, verheiratet ist, eine heftige Liebesbeziehung miteinander pflegen, die soweit führt, dass sie schließlich vom Hofe verstoßen werden und in einer geheimen Liebesgrotte fern von jeglicher menschlichen Gesellschaft Zuflucht finden, wo sie gewissermaßen in eine Utopie geraten, genießen sie ja genügend ihre gegenseitige Liebe und sind damit von allen körperlichen Bedürfnissen enthoben. Allerdings vermögen Tristan und Isolde nicht unbegrenzt dort zu verharren und sich an ihrer Idylle zu erfreuen, fehlt ihnen ja die Gesellschaft, und als sie zufällig von Marke entdeckt werden, der sich dabei erneut über ihre wahren Gefühle füreinander (freiwillig?) täuschen lässt, kehren sie, weil ihnen die Erlaubnis gewährt wird, erneut an den Hof zurück.

Die Utopie dauert nicht lang, aber in Cornwall bleiben die beiden Liebenden weiterhin erotisch unabwendbar aneinander gebunden, was schließlich zu ihrem Unglück führt.4 Marke ertappt sie schließlich in flagrante, was Tristan dazu zwingt, schnell abzureisen, ohne je zu seiner Geliebten zurückkehren zu können. Die sich anschließenden Komplikationen mit einer anderen Frau, ebenfalls Isolde (Weißhand) genannt, mit der sich Tristan dann verheiratet, brauchen hier nicht gesondert diskutiert zu werden, reicht es ja hervorzuheben, mit welcher Intensität Gottfried die Erotik und Liebe im Leben von Tristan und Isolde auslotet und sie als den höchsten Wert für die höfische Gesellschaft hinstellt, so blasphemisch dies auch innerhalb des christlichen Weltbildes klingen mag. Aber bereits in seinem Prolog hatte Gottfried darauf aufmerksam gemacht, dass die Intention seiner Geschichte auf diejenigen in seinem Publikum zielt, die ein edles Herz und die nötige Tugendkraft besitzen, um den vorzustellenden Liebesstoff in seiner ganzen Paradoxie und Dialektik zu begreifen.5

Nicht unbeachtet bleiben darf in diesem Kontext Walthers von der Vogelweide berühmtes Lied Under der linden (Nr. 16/L 39, 11), wo erotische Phantasie, Reflexionen über persönliche Erfahrungen intimster Art, Schamempfindung und Glückserfahrung in einzigartiger Weise eine Verbindung eingehen.6 Nicht nur hat hier der Dichter eine weibliche Stimme gewählt, sondern zieht auch das Rollenspiel systematisch bis zum Ende durch, um ihre erotischen Erlebnisse vollständig im poetischen Gewand auszuformen. Wie sie berichtet, wartete ihr Geliebter bereits auf sie unter der Linde, dem klassischen Liebesbaum (so bereits bei Ovid), als sie sich verstohlen zur Wiese begab. Dort hatte er aus Blütenblättern und Gras eine Liebesstätte eingerichtet, wo sie sich beide miteinander vergnügten, wie die später daran Vorbeischreitenden deutlich am Eindruck, den ihre Körper hinterlassen haben, erkennen können. Erstaunlicherweise appelliert die Frauenstimme sogar an die Jungfrau Maria, deren Segen sie sich für diese Liebesbeziehung erwünschte (2. Strophe). Obwohl die Sängerin immer wieder darauf insistiert, dass es eine sehr private Affäre gewesen sei, und dass sie sich schämen würde, wenn andere davon erfahren würden, was durch den onomatopoetischen Refrain „tandaradei“ sehr eindringlich gespiegelt wird, erfahren wir doch nur zu deutlich, dass der Öffentlichkeit klar vor Augen geführt werden sollte, was hier geschehen war, denn „des wirt noch gelachet / inneclíche“ (III, 4–5).

Die Betrachter spotten nicht, sie lachen nicht hämisch, und sie drücken keinen Zynismus aus. Sie freuen sich inniglich, dass Liebe stattfand, erfüllt und in vollständiger Harmonie, wie der Augenschein unverkennbar vermittelt. Obwohl wir nicht vernehmen, wie sich die zwei Liebenden zueinander verhielten oder was sie miteinander trieben, erweist sich die ganze Szenerie als höchst erotisch und glückserfüllt: „Bî den rôsen er wol mac, / tandaradei, / merken, wâ mirz houbet lac“ (III, 7–9).7 Genauso macht sich dieses Phänomen in der gesamten höfischen Literatur des hohen Mittelalters bemerkbar, ob wir die Troubadour­lyrik, den Minnesang, die Carmina Burana oder den Stil dolce nuovo berücksichtigen. Spielerisch wurde die sexuelle Anziehungskraft für erzieherische und sozialisierende Zwecke eingesetzt und damit gesellschaftlich funktionalisiert.

Wie diese große Faszination an Erotik innerhalb einer Gesellschaft, die zu dem Zeitpunkt bereits weitgehend von der christlichen Kirche durchdrungen war, so tiefgreifende Wurzeln fassen konnte, entzieht sich unserem Verständnis, aber die europäische Dichtung bietet über die Jahrhunderte hinweg eindringliche Zeugnisse von der großen Bedeutung dieses Themas. Sowohl Wolfram von Eschenbach (Parzival, ca. 1205) als auch Dante (Divina Commedia, ca. 1320), sowohl Giovanni Boccaccio (z.B. Decameron, ca. 1350) als auch Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales, 1400) stellten Liebesbeziehungen und -konflikte in den Mittelpunkt ihrer Werke, und jedesmal kommt auf sehr individuelle Weise zum Ausdruck, dass die Erotik als ein Katalysator von höchst komplexer Aussagekraft fungierte. Zur gleichen Zeit entstand die große Bewegung der europäischen Mystik, primär getragen von solchen Frauen wie Hildegard von Bingen (1089–1179), Mechthild von Magdeburg (gest. Ende des 13. Jahrhunderts), Marguerite de Porète (gest. 1310), Catarina di Siena (1347–1380), Julian of Norwich (ca. 1341–ca. 1416) oder Teresa da Ávila (1515–1582), die regelmäßig auf traditionelle Bilder von höfischen Liebebeziehungen zurückgriffen, um ihre göttlichen Visionen zu umschreiben.8 Erotik gewann hierbei eine ganz andere Bedeutung, insoweit als die physische Attraktion hin zu einer spirituellen führen sollte, womit Erotik zum Sprungbrett für religiöse Epistemologie umfunktioniert wurde.

 

Wie Cezary Lipiński in seinem Beitrag über Mechthild deutlich macht, erwies sich dabei oftmals die erotische Ausdrucksweise als effektives Medium, um die visionäre Gotteserfahrung auf epistemologische Weise sprachlich umzusetzen. Gerade weil Mechthild unbändig danach strebte, die apophatische Erfahrung systematisch zu analysieren und praktisch für sich selbst umzusetzen, sah sie sich immer wieder dazu gedrängt, sorgfältig kategoriale Konzepte der Liebe an sich zu entwickeln und diese für den Weg der Seele zu Gott hin anzuwenden. Im Grunde würde es schwerfallen, in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters individuelle Werke zu finden, die nicht in einer oder anderen Art und Weise das Thema ‚Erotik‘ gestalten würden.

Die jeweiligen Absichten und Ziele, die dabei verfolgt wurden, waren meist sehr unterschiedlich, ob religiös oder sexuell, aber das erotische Element an sich erweist sich geradezu als ubiquitär. Alle großen Sammelwerke mit Verserzählungen (fabliaux, tales, novelle, mæren) oder Prosatexten (Schwänke) sind überwiegend von erotischen Anliegen bestimmt, ohne dass eigentlich die Gefahr bestände, dass daraus plötzlich Pornographie oder Obszönität entstände, auch wenn wir Beispiele davon ebenfalls schon in der Literatur der Vormoderne finden können.9

Die Gründe für dieses konsistente Phänomen lassen sich mühelos aufzählen, ohne dass wir jemals ganz erschöpfend damit zurande kämen. Die erotische Attraktion zwischen den Geschlechtern – im Falle der Homosexualität zwischen den gleichen Geschlechtern, was hier durchgängig so verstanden werden soll – hat stets noch das menschliche Leben bestimmt, denn ohne sie käme es kaum zur Fortpflanzung. Die Erotik wäre als das Vorspiel zu bezeichnen, worauf dann die Sexualität folgt, und Dichter aller Zeiten haben stets noch intensiv darauf Rücksicht genommen, was schon vielfach in Spezialuntersuchungen zur Sprache gekommen ist.10 Ein außerordentlich eindrucksvolles Beispiel aus der Romantik liegt uns mit Friedrich Schlegels Lucinde (1799) vor, wo die erotische Verführung der eigentlich sehr willigen Frau in höchst eindringlichen Dialogen vonstatten geht (vgl. dazu den Beitrag von Andrey Kotin). Im Vergleich zu den Gesprächen in Andreas Capellanus‘ De amore (ca. 1180–1190) gelingt es dem männlichen Sprecher, mittels seiner sprachlichen Strategien zum Ziele seiner Wünsche zu gelangen, die aber weit über dem Sexuellen darin bestehen, die Unterschiede zwischen Mann und Frau aufzuheben und im Erotischen die universal-göttliche Vereinigung zu erreichen, was explizit dem bürgerlich-realistischen Ethos zuwiderstrebte und für viele Zeitgenossen als äußerst skandalös erschien.

Erotik und Sexualität spielten also sowohl im Barock als auch in der Romantik, sowohl in der Klassik als auch im Realismus gewichtige, wenn nicht zentrale Rollen. Wem wäre nicht Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) bekannt? Und von hier kann man mühelos zu Robert Musils Roman Mann ohne Eigenschaften (1930ff.) springen, oder auf den Bestseller Der Vorleser von Bernhard Schlinck (1995) eingehen. Die Welt, wie sie in den Romanen oder Dramen, in den Gedichten oder Balladen vor unsere Augen tritt, ist von Liebessehnsucht und Liebeserfüllung bestimmt.11 Das gleiche lässt sich genauso gut für die Literaturen anderer europäischer Länder konstatieren (vgl. Szczepan Twardochs Morphin, 2012), und der Sprung nach Indien oder Japan auf der Fährte nach dem selben Phänomen erweist sich dann als genauso mühelos.

Zu fragen wäre aber sofort, ob es sich überall und zu allen Zeiten um dieselbe parallele menschliche Erfahrung handelt, ob wir also tatsächlich Gemeinsamkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Erotischen feststellen können. Worum handelt es sich bei Erotik an erster Stelle? Natürlich ändert sich dies von Mensch zu Mensch, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von kultureller Epoche zur nächsten. Barockdichter haben auf ihre eigene Art das erotische Element in ihrer Lyrik eingesetzt und so dem Thema ihren eigenen Stempel aufgeprägt. Erotik in der Romantik war individuell anders als in der Klassik, und moderne Dichter des 20. und 21. Jahrhunderts bedienen sich neuer, idiosynkratischer Bilder und Interessen, um ihr erotisches Anliegen zu formulieren. Allen gemeinsam bleibt aber, dass die erotische Kraft das Bindeglied zwischen den Geschlechtern ausmacht und dass gerade das poetische Wort dazu dient, dem esoterischen, zugleich aber auch so physisch relevanten Phänomen Ausdruck zu verleihen.

Wählen wir zwei scheinbar sehr weit auseinander liegende Beispiele zum Vergleich und zur Illustration. In einigen der Lieder Oswalds von Wolkenstein (1376/77–1445) vernehmen wir von Badefreuden, die er mit seiner frisch getrauten Frau Margaretha von Schwangau genießt. Obwohl das Lied Kl. 75 Wol auff, wol an offensichtlich mehr für den Privatgebrauch gedacht gewesen sein mag, gehört es trotzdem zu den öffentlich präsentierten Liedern, die in seinen beiden Prachthandschriften A und B (Pergament), später auch in der Papierkopie c, enthalten sind.12 Mehr noch als jemals zuvor sehen wir uns in eine höchst intime, zugleich extrem erotische Situation versetzt, denn das junge Ehepaar vergnügt sich in einer Badewanne, die offensichtlich auf einer Wiese aufgestellt worden ist. Nach einem intensiven, wenngleich immer noch topischen Natureingang, in dem die Vogelschar die frühlingshafte Umwelt bejubelt, melden sich Oswald und Margarethe zu Wort, die sich begeistert gegenseitig berühren und sexuell erregen: „,wascha, maidli, / mir das schaidli!‘ / ‚reib mich, knäblin, / umb das näblin! / hilfst du mir, / leicht vach ich dir das rätzli‘“ (34–39). In der folgenden, dritten Strophe bewegt sich der Blick weg von der Badewanne hin zu den Pflanzen und Geschöpfen auf der Wiese, wo überall Freude und Zufriedenheit herrschen, weil der Winter verschwunden ist und dem lieblichen Mai gewichen ist, worauf alles wieder zu wachsen und zu sprießen beginnt. Erotik und Sexualität durchdringen diese Welt, die kaum deftiger beschrieben werden könnte, ohne ins Obszöne abzugleiten.

Beim folgenden Gedicht, Kl. 76 Ain graserin durch küelen tou, wird man dies aber nicht mehr so sicher betonen wollen, denn der Dichter bedient sich nun einer kaum noch verhüllten Metaphorik, insoweit als die Arbeit beim Heumachen direkt zum sexuellen Austausch überspringt: „Ain graserin durch küelen tou / mit weissen blossen füesslin zart / hat mich erfreut in grüener ou; / dast ir sichel braun gehart“ (1–4). Nachdem der Liebhaber ihr geholfen hat, das Gatter zu richten – eine Metapher, die sich mühelos in ihrer Anspielung ausdeuten lässt –, bemerkt er, dass ihm die Zeit lang wird und es ihn danach dürstet, ihr erneut seinen Dienst anzubieten: „mein häcklin klain hett ich ir vor / embor zu dienst gewetzet, / gehetzet, netzet; wie dem was, / schübren half ich ir das gras“ (14–17). Während sich die beiden dann zusammentun, d.h. miteinander kopulieren, fordert er sie dazu auf, tüchtig mitzumachen: „,zuck nicht, mein schatz!‘ simm nain ich, lieber Jensel‘“ (18), und so geht es dann noch eine ganze Strophe weiter.13 Hat Oswald dabei die Grenze zum Anstand durchbrochen oder ein Meisterwerk der erotischen Lyrik geschaffen? Wer hieran Anstoß nehmen möchte, dem steht dies ganz frei zu, aber es würde nichts an dem hohen Ansehen ändern, dass Oswald genau für diese und andere Lieder genießt, weil sie so frisch autobiographisch wirken und die Dinge schlicht beim Namen nennen.

Außerdem wäre zu bedenken, wie umfangreich zeitgenössische Dichter in Verserzählungen (mæren) auf Erotik und Sexualität eingingen, ob wir an Geoffrey Chaucer, Heinrich Kaufringer, Franco Sacchetti oder Poggio Branchetti denken. Einige Beispiele kommen in meinem eigenen Beitrag gesondert zur Sprache, in dem ich aufzeige, inwieweit spätmittelalterliche Dichter auf europäischer Ebene darum bemüht waren, Liebeslust, eheliche Liebe, persönliche Ehre, Geldgier und Profitstreben, Identitätsschwächen gerade männlicher Protagonisten und sozialen Machtkampf zu thematisieren, fast so, als ob sie über unsere eigene Zeit vorausschauend geschrieben hätten.