Eros und Logos

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From the series: Popular Fiction Studies #4
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Erst mit der Verwundung beginnt die wahre Liebe, sagt Gott im angeführten Zitat (III, 9). Die Erkenntnis der Unvermeidbarkeit des Leids ist bei Mechthild ein fester Bestandteil des Schreckens der Liebe (III, 24, 222), der eine notwendige Erfahrung jeder edlen, von „zergenglichen dingen“ (III, 24, 222) befreiten, Gott suchenden Seele ist. Dies ist auch die ultimative Rekapitulation des die Liebe und Erkenntnis einschließenden Programms, das zwei Engel der Seele im letzten Buch des Fließenden Lichts verraten: „Wir wellen dich bringen von pine ze pine, von tugenden zuͦ tugenden, von bekantnisse zuͦ bekantnisse, von minnen ze minne.“ (VII, 9, 550)

Schlussfolgerungen

Alle einzelnen Aspekte und Funktionen der Liebe erscheinen bei Mechthild als eigentümliche Inszenierungen, die den Allzusammenhang in der Liebe deutlich machen:

Dis buͦch ist begonnen in der minne; es sol oͮch enden in der minne, wand es ist niht also wise noch also helig noch also schoͤne noch also stark noch also vollekomen als die minne. (IV, 28, 312)

Die Mystikerin selbst vertrat den Standpunkt, über die ihr geoffenbarten Dinge sprechen zu müssen („Ich muͦs sprechen got ze eren und oͮch durch des buͦches lere“ [IV, 2, 228]). So verwickelte sie sich in eine paradoxe Situation: Sie fürchtete Gott, wenn sie nicht geschrieben hätte, sie fürchtete aber auch die Reaktionen der Menschen, wenn sie schrieb („Ich han da inne ungehoͤrtu ding gesehen, als mine bihter sagent, wan ich der schrift ungeleret bin. Nu voͤrhte ich got, ob ich swige, und voͤrhte aber unbekante lúte, ob ich schribe.“ [III, 1,148]). Sie war sich darüber im Klaren, dass eine Lehre, die den Aufstieg der Seele zu ihrem Einswerden mit Gott und darüber hinaus, ohne Vermittlung der Kirche, mitunter im Widerspruch zu deren bindenden Auslegung, auf Widerstand stoßen konnte. Trotzdem teilte sie mit, was sie glaubte geoffenbart bekommen zu haben: dass die Liebe der Weg zu Gott sei, dass sie den gemeinsamen wesenhaften Nenner darstelle, der Gott und den Menschen zusammenbringe; dass dem Ruf der Liebe nicht folgen zu wollen, ein Leben bedeute, in dem es keinen Platz für Erkenntnis und Freiheit gebe.1

Bibliographie

Albrecht Classen, „Worldly Love – Spiritual Love. The Dialectics of Courtly Love in the Middle Ages”, in: Studies in Spirituality, 11, 2001, S. 166–186.

Albrecht Classen, „Die flämische Mystikerin Hadewijch als erotische Liebesdichterin”, in: Studies in Spirituality, 12, 2002, S. 23–42.

Albrecht Classen, „The Dialectics of Mystical Love in the Middle Ages: Violence/Pain and Divine Love in the Mystical Visions of Mechthild of Magdeburg and Marguerite Porète”, in: Studies in Spirituality, 20, 2010, S. 143–160.

Albrecht Classen, „The Quest for Knowledge Within Medieval Literary Discourse: The Metaphysical and Philosophical Meaning of Love”, in: ders. (Hrsg.), Words of Love and Love of Words in the Middle Ages and the Renaissance, Medieval and Renaissance Texts and Studies, 347, 2008, S. 1–51 (Tempe: Arizona Center for Medieval and Renaissance Studies).

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Otto Langer, Christliche Mystik im Mittelalter. Mystik und Rationalisierung – Stationen eines Konflikts, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2004.

Bernard McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. 3: Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200–1350), übers. von Bernardin Schellenberger, Herder, Freiburg i. Br./Basel/Wien, 1999.

Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, aus dem Mittelhochdeutschen übers. und hrsg. von Gisela Vollmann-Profe, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 2003.

Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, 2. neubearb. Übersetzung mit Einführung und Kommentar von Margot Schmidt, frommann-holzboog, Stuttgart/Bad Cannstatt, 1995.

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Gall Morel, „Vorrede und Einleitung“, in: ders. (Hrsg.), Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder das fliessende Licht der Gottheit, Georg Joseph Manz, Regensburg, 1869, S. III–XXII.

Hans Neumann, „Beiträge zur Textgeschichte des ‚Fliessenden Lichts der Gottheit‘ und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Altdeutsche und Altniederländische Mystik, Wissenschaftliche Buchhandlung, Darmstadt, 1964, S. 175–239.

Hans Neumann, „Mechthild von Magdeburg“, in: Kurt Ruh (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 6: ‚Marienberger Osterspiel‘ – Oberdeutsche Bibeldrucke, Walter de Gruyter, Berlin/New York, 2010, S. 260–270.

Ursula Peters, Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum: Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Walter de Gruyter, Berlin/New York, 1988.

Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und franziskanische Mystik der Frühzeit, C.H. Beck, München, 1993.

Gisela Vollmann-Profe, „Mechthild von Magdeburg“, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hrsg. von Walther Killy, 15 Bände, Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh-München, 1988–1993, Bd. 8, S. 40–43.

Erotik und Sexualität im Märe des Spätmittelalters

Sprachwitz, Intelligenz, Spiel und sexuelle Erfüllung

Albrecht Classen (Tucson, Arizona)

I

Was wäre die Weltliteratur ohne das große und unerschöpfliche Thema von Erotik und Sexualität? Das menschliche Leben ist bis heute stets noch von dem Verlangen nach erotischer oder sexueller Erfüllung bestimmt, wenngleich sich die sozialen, ökonomischen, politischen und religiösen Rahmenbedingungen im Laufe der Zeit erheblich gewandelt haben. Liebe gehört zum A und O der menschlichen Existenz, wie uns bereits das Hohelied im Alten Testament deutlich zu erkennen gegeben hat. Zugleich handelt es sich um eines der schwierigsten Probleme in unserem Dasein, das uns quält, beglückt, zufrieden oder unzufrieden stellt, leicht zu Hass und Streit führt und unablässig Unruhe, ja sogar Konflikte auslöst, immer wieder unendliche Freude bereitet und die Erfüllung all unserer Wünsche repräsentiert.1

Ob wir an Ovid in der römischen Antike oder an Shakespeare im 17. Jahrhundert denken, die Spannungen zwischen Liebenden oder Ehepartnern treten immer wieder auf, denn nicht nur gibt es gravierende Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sondern die Intensität und Art der Gefühle variieren ununterbrochen. Das ganze menschliche Leben findet sich vielfach gebrochen und reflektiert vor allem im literarischen Diskurs über die Liebe, die als ‚Grundton der Weltmusik‘ stets gleich bleibt, die aber im Laufe der Zeit in ihrer gesellschaftlichen Ausprägung beträchtlichen Abwandlungen unterworfen ist. Hinsichtlich des Liebesdiskurses können wir sogar einen gemeinsamen Nenner auf den verschiedenen Kontinenten über alle Zeiten hinweg feststellen, womit wir über soziale und kulturelle Barrieren hinweg ein gleichartiges Interesse im menschlichen Leben wahrzunehmen vermögen. So findet sich das Genre des Tageliedes auf der ganzen Welt verbreitet und hat noch jede Generation von Dichtern zu neuen Schöpfungen angeregt.2 Wir dürfen trotzdem grob einschätzend postulieren, dass das spezifische Wesen von Liebesbeziehungen als Charakteristikum von kulturellen Epochen angesehen werden kann, was ja die bisherige Forschung im großen Umfang und in korrespondierender Intensität sehr deutlich vor Augen geführt hat. Literaturwissenschaft ist oftmals mit nichts anderem als mit dem Erotik-Diskurs beschäftigt, d.h. mit der zentralen Thematik des Lebens. Schließlich ergänzt ja das Streben nach Liebe den grundsätzlichen Überlebenstrieb, wobei die materielle Dimension mittels der Liebeserfahrung ihre faszinierende Überhöhung/Sublimierung erfährt.

Bei genauerer Betrachtung wird man sicherlich zur Erkenntnis gelangen, dass Dichter oder Autoren über alle Zeiten hinweg meistens nur ganz wenige zen­trale Anliegen angesprochen haben, sei es die Gottessuche, Tod, Selbstfindung, Welterfahrung oder eben Liebe in ihren vielen Ausprägungen. Zugestandenermaßen lässt sich z.B. der höfische Roman nicht ohne weiteres mit einem Roman des 19. oder 21. Jahrhunderts vergleichen, und sicherlich differieren die politischen oder ideologischen Anliegen von Verfassern von Heldenepen beträchtlich von denjenigen von Dramatikern oder Lyrikern der modernen Epoche. Das zentrale Wesen des Menschen verändert sich aber nicht, insoweit als jeder schon immer nach Liebe und Glück, ausgedrückt durch das Grundmuster der Erotik, gesucht hat, was in literarischen Werken unablässig und in zahllosen Manifestationen zum Ausdruck kommt.3 Die äußeren politischen, religiösen oder ökonomischen Bedingungen wandeln sich natürlich ständig, aber nicht das Streben nach persönlicher Liebeserfahrung.

Die vorliegende Forschung zum Cluster Erotik und Sexualität ist natürlich dementsprechend mittlerweile so umfangreich angewachsen, dass es absurd erscheint, auch nur den Versuch zu wagen, eine konzise Zusammenfassung der einschlägigen Literatur zu diesem Thema zu bieten. Sowohl im gesamten Mittelalter als auch in der Barockzeit, sowohl in der Romantik als auch im Realismus begegnen wir fortlaufend Bemühungen von Dichtern unter anderen, den Fragen, Anliegen, Hoffnungen oder der Sehnsucht nach erotisch-sexuellen Erfüllungen poetischen Ausdruck zu verleihen. Im vorliegenden Aufsatz soll es aber darum gehen, in dem Rahmen einer besonderen Gattung mehr Aufmerksamkeit zu widmen, weil wir hier ein wichtiges Übergangsphänomen identifizieren können, das recht gut die Transformation vom Mittelalter zur Renaissance bzw. Reformationszeit auf der Ebene des Privatlebens, d.h. innerhalb des Diskurses über Erotik, Ehelehren und Sexualität zu erklären vermag.4

 

Die Rede ist hier von den spätmittelalterlichen mæren, deren Ausgangspunkt bereits im Werk Des Strickers (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) zu finden ist, die im Laufe der Zeit immer größere Beliebtheit genossen und letztlich die Grundlage für die Entstehung des prosaischen Schwanks darboten, der in großer Zahl die öffentliche Unterhaltung seit dem 16. Jahrhundert bestritt, oftmals geprägt von Witz und Erotik, Satire und derbem Spott.5 Die meisten Werke wurden von uns fast ganz unbekannten Dichtern geschaffen, auch wenn wir öfters ihre Namen kennen. Wie populär sie wirklich gewesen sein mögen, können wir heute auch nicht mehr präzise einschätzen, denn der sehr wahrscheinliche Verlust von handschriftlichen Kopien hat dieser Kalkulation einen Riegel vorgeschoben. Aber die Überlieferung von einschlägigen Texten erweist sich insgesamt als sehr beeindruckend, und so manche der mæren lassen sich durchaus als Meisterwerke ihrer eigenen Art beweisen.6

Viele dieser Verserzählungen sind bisher schon das Objekt kritischer Analysen gewesen, während es mir hier nicht so sehr um die spezifischen Gattungsfragen oder inhaltlichen Aussagen geht, sondern darum, wie hier Erotik und Liebe gespiegelt werden und wie dieser Themenkomplex insgesamt dazu führte, dass intelligente Prozesse in die Wege geleitet werden können, die sich auf die individuelle Lebensbewältigung und das Arrangement mit der sozialen Struktur bzw. der Gesellschaft beziehen. Weiterhin soll dargestellt werden, wie stark einzelne Autoren der mæren darauf zielten, mittels ihrer ‚Liebesgeschichten‘ erkenntnisvermittelnd zu wirken, indem sie vor Augen führten, auf welche Weise das Medium Sprache dazu dienen konnte, um Verständnis davon zu entwickeln, wie religiöse, philosophische, ethische und moralische Aspekte im Leben zu bewältigen wären. Anstatt wie andere Forscher darauf zu insistieren, dass hier in dieser Gattung Elemente des Bösen, des Chaos und der Dekonstruktion stark zutage treten, was gelegentlich wohl der Fall sein mag,7 soll der Nachweis erbracht werden, dass über diese mæren ein fundamentaler Diskurs gepflegt wurde, wie die Erotik zum Einsatz gebracht werden konnte, um grundsätzliche Probleme in der Liebe, der Ehe und der Sexualität anzugehen und neuartig zu lösen bzw. zumindest kritisch zu umschreiben, um somit zur pragmatischen und glückserfüllten Lebensbewältigung beizutragen.

Die Vielfalt an diesen Verserzählungen ist ungemein groß, aber bei genauerer Hinsicht entdecken wir doch, dass insgesamt nur einige wenige wichtige Aspekte zur Sprache kommen. Ich konzentriere mich zunächst auf Dietrichs von der Gletze Der Borte, wende mich dann Ruprechts von Würzburg Die Treueprobe zu, um schließlich Heinrich Kaufringers Die Suche nach dem glücklichen Ehepar anzugehen. Es handelt sich jeweils um einen narrativen Versuch, das Verhältnis zwischen Mann und Frau innerhalb einer Ehebeziehung auszuloten und auf ironische Weise Missverständnisse, persönliche Eitelkeiten, Minderwertigkeits-komplexe, Angstzustände und Unsicherheiten zu diskutieren. Während die höfische Lyrik weitgehend allein aus männlicher Sicht nur solche Liebesbeziehungen aushandelte, die nicht ehelich bestimmt waren, und während die höfischen Versromane zwar auch Eheverhältnisse berücksichtigten, diese aber nur im Hintergrund behandelten, geht es bei sehr vielen spätmittelalterlichen mæren viel mehr um die Frage, wie das persönliche Verhältnis zwischen den Geschlechtern austariert werden konnte trotz zahlreicher Konflikte individueller und sozialer Art, wobei der jeweilige Erzähler stets die Intention verfolgte, sein (oder ihr?) Publikum zu unterhalten und intellektuell herauszufordern.8

Genauso wie in der Gegenwart erwies sich bereits in der Vormoderne die Ehe als ein Ort zahlreicher Konflikte zwischen den Geschlechtern. Ganz gleich, ob eine Ehe freiwillig geschlossen oder von den Eltern arrangiert wurde, so behandeln doch die mæren-Autoren das Verhältnis zwischen Mann und Frau durchwegs und konsistent als problemgeladen und schwierig, sei es, weil einer der Ehepartner unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, sei es, weil die Kommunikation zwischen ihnen nicht reibungslos funktioniert, oder sei es, weil materielle Schwierigkeiten die guten Beziehungen zwischen den Partnern zu stören drohen. Dazu kommen oftmals Altersunterschiede, die Interessen von Außenstehenden, mithin Ehebruch, Gewaltausbruch etc. Natürlich beobachten wir allenthalben noch viele andere Konflikte, vor allem häusliche Gewalt, diverse Formen der Misshandlung, sexuelle Verführungen, Bedrohungen von außerhalb und, was ein kontinuierliches und überall wahrnehmbares Problem ausmacht, Missverständnisse, Eifersucht, Angst und Sehnsucht. Wenn man die Fülle von mæren genauer betrachtet, wirkt es schließlich geradezu erstaunlich, wie verwandt die Anliegen zu denjenigen sind, die uns heute weiterhin beschäftigen. Wir lachen und klagen mit den Protagonisten und können erstaunlich leicht nachvollziehen, warum es zu Konflikten kommt und warum sich die dann gebotenen Lösungsvorschläge als produktiv erweisen, d.h. sogar anwendbar für unsere eigene Welt.

Zwar sind all diese Verserzählungen durch die sie tragenden historisch-kulturellen Bedingungen geprägt, denn sie spiegeln eindeutig die Welt des europäischen Spätmittelalters wider, aber wir bedürfen nur weniger Übersetzungsanstrengungen, um schnell wahrzunehmen, dass auch diese literarischen Werke für die eigene Gegenwart von Relevanz sind und Bedeutung besitzen. Gerade weil sie sich alle durch einen gewissen Grad an Fremdheit auszeichnen, die aber nicht unüberwindliche Hürden ausmacht, vermögen sie selbst heute noch ausgezeichnet als literarische Medien zu dienen, um zeitlose Fragen anzugehen und kritisch zu behandeln.9

Obwohl wir uns hier auf deutschsprachige Beispiele beziehen, darf niemals vergessen werden, dass es sich um ein pan-europäisches Phänomen handelt, das stark beeinflusst, geprägt und gestaltet wurde durch so große Dichter wie den anonymen Verfasser der Gesta Romanorum (spätes 13. oder frühes 14. Jahrhundert), dann den Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach (Dialogus Miraculorum, ca. 1220) und den italienischen Renaissance-Gelehrten Giovanni Boccaccio (Decamerone, ca. 1351). Gerade letzter wurde stark in ganz Europa rezipiert, wie Geoffrey Chaucers Canterbury Tales (ca. 1400) und die Sammlung Cent Nouvelles Nouvelles (ca. 1450–1460) beweisen, und wie wir es zahlreich auch in deutschen mæren und dann Schwänken beobachten können.10

Viele andere Namen und Werktitel wären hier noch zu erwähnen, es genügt dies alles aber bereits, um deutlich zu machen, wie intensiv besonders im Spätmittelalter auf diesem literarischen Gebiet die Themen von Liebe, Ehe, Sexualität und dann natürlich viele andere damit zusammenhängende Problemen zwischenmenschlicher Art behandelt wurden. Der Diskurs jener Zeit appelliert weiterhin an uns heute, zwar nicht als eine direkte Antwort auf moderne Fragen oder Konflikte, dafür aber als ein relativ fremder, dennoch signifikanter Spiegel menschlicher Verhaltensformen.11 Allerdings beschränken sich weder Boccaccio noch Chaucer, weder Kaufringer noch Poggio Bracciolini – siehe auch Franco Sacchetti, Johann Pauli, Marguerite de Navarre etc. – bloß auf das erotische Element, sondern führen von dort meistens schnell zu ethischen, religiösen, moralischen oder politischen Aspekten über, womit gerade die Erotik sich als ein Katalysator erweist, um globale soziale oder emotionale Probleme anzusprechen, die die Harmonie der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu gefährden drohen. Gerade deswegen ist die Fülle von diesen Erzählungen bis heute höchst attraktiv geblieben, weil sie präzise die horazische Regel in die Tat umsetzen, auf der Grundlage von delectatio das prodesse nahezubringen. Schließlich trifft universal gesehen zu, dass uns immer schon Erotik interessiert hat, die parallel zu Religion ausschlaggebend alle Gesellschaften stark bestimmt hat. Aus der literarischen Unterhaltung oft pikanter Art entsteht dabei ein wichtiger Diskurs über philosophische oder theologische Anliegen.

II

In den letzten Jahren hat man sozusagen Dietrichs von der Gletze Der Borte neu entdeckt, ein mære, in dem der Erzähler ungemein spannende und bis heute wichtige Fragen zum Verhältnis von Mann und Frau aufwirft und sogar die Aufmerksamkeit auf das Thema ‚Homosexualität‘ lenkt, ohne dass diese tatsächlich als identifizierbares Phänomen auftreten würde. Der Erzähler entwirft vielmehr eine Situation vor unseren Augen, in der die Ehefrau, die sich als Mann verkleidet hat, um ihren Mann wieder zurückzugewinnen, ihm vorwirft, sich schändlicherweise bereit erklärt zu haben, einen homosexuellen Akt zu begehen, um materiellen Gewinn daraus zu schlagen.1

Die Handlung basiert auf dem Problem des männlichen Protagonisten Kuonrât, dass er wohl wegen seiner jungen Jahre noch nicht genügend gesellschaftliches Ansehen erworben hat, weswegen er sich von seiner Frau verabschiedet, um in der Nähe an einem Turnier teilzunehmen. Während seiner Abwesenheit begibt sie sich in einen wohl topisch aufzufassenden Garten, als sich ein fremder Ritter nähert und um die Gunst der Dame wirbt, die sich aber standhaft weigert, sie liebt ja ihren Mann und hat kein Interesse selbst an magischen Tieren (Windhunde, Jagdfalke, Pferd), mit denen jeder Besitzer leicht größte Ehre am Hof erwerben könnte. Erst als er schließlich seinen Gürtel anbietet, der demjenigen, der ihn trägt, überall den höchsten Preis eintragen würde – „Der wirdet nimmer êren blôz“ (V. 309)2 – kann sie nicht mehr standhalten, weil sie genau diesen Gürtel für ihren Ehemann gewinnen möchte.

Sie gibt sich also dem Ritter hin, worauf sie all seine wertvollen Tiere und den Gürtel erhält, womit sie später die höchsten Triumphe feiern kann. Wieso sie auf die ersten Angebote nicht eingeht, die ja den gleichen Effekt gehabt hätten, und erst dann nachgibt, als der Ritter den Gürtel anbietet, bleibt unerfindlich, es sei denn, wir akzeptierten die hohe symbolische, nämlich erotische Bedeutung eines Gürtels. Der Erzähler spielt offenkundig mit den unterschiedlichen Aussageebenen dieser Objekte/Tiere und kitzelt sozusagen die erotische Phantasie des Publikums, ohne eindeutige Erklärungen zu bieten.

Das mære problematisiert aber sogleich diese Situation, denn die Dame sendet gerade nicht eine der Neuerwerbungen zu ihrem Mann, womit ihm sofort ge­holfen wäre. Sie wird vielmehr von einem Diener heimlich beobachtet, der darauf Kuonrât verrät, seine Frau habe Ehebruch begonnen, was formal gesehen stimmt. Dies bringt den letzteren dermaßen in Rage, dass er sich entfernt, sich zum Hof von Brabant begibt und dort verharrt, ohne jeglichen Versuch zu unternehmen, mit seiner Frau zu kommunizieren oder zu verhandeln. Diese wartet zwei Jahre geduldig, aber vergeblich, auf ihn und folgt ihm schließlich, verkleidet sich aber als Mann und taucht dann in Brabant als Heinrich von Schwaben auf, der überall den Sieg davonträgt, besitzt er/sie ja diese Wundertiere – vom Gürtel ist zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr die Rede. Genau dies trifft aber Kuonrât empfindlich, verlangt es ihn ja offensichtlich mehr als jemals zuvor danach, endlich die ersehnte Anerkennung als Ritter zu gewinnen, die ihm offensichtlich bis zu diesem Moment vorenthalten worden ist.

Als die beiden neuen ‚Freund‘ in einer Kriegssituation gemeinsam einen Posten beziehen und somit ungestört sind, bittet Kuonrât den Fremden darum, ihm eines der Wundertiere zu schenken, die dieser noch nicht einmal dem Herzog hatte verkaufen wollen. Nach einigem Hin und Her scheint es aber zu einer Einigung zu kommen, denn Heinrich gesteht, dass es ihn in der Liebe nach Männern gelüste, und wenn sich ihm Kuonrât gefügig zeige, wolle er ihm den Jagdfalken überlassen. Genau dies zu tun, d.h. sich dem anderen als männlichen Prostituierten hinzugeben, erklärt er sich bereit, womit die kritische Wende in der Erzählung erreicht ist. Denn nun bricht es aus Heinrich heraus, als sich der andere bereits auf den Rücken gelegt hat: „ir sit worden mir ein spot: / Welt ir nû ein kezzer sîn / durch hunde und den habech mîn“ (V. 776–78). Wie eine Schimpfkanonade lädt es sich auf ihn ab, er habe sich schändlich und schmählich verhalten, er sei noch schlimmer als ein Ketzer, denn er habe allein materielle Ziele verfolgt und sei völlig unchristlich in seinem Denken, während sie keineswegs einen richtigen Ehebruch begangen habe, weil sie sich dem anderen Ritter nur deswegen überantwortet habe, um ihrem eigenen Mann in seinem Streben nach Ehre zu helfen: „Daz ich tet, daz was menschlîch“ (V. 795).

 

Bei genauerer Hinsicht stellt sich natürlich heraus, dass Kuonrât keineswegs als ein wahrer Homosexueller zu bezeichnen wäre, denn er bedauerte sogar die sexuelle Orientierung Heinrichs – „ez muoz mîn klage immer sîn“ (V. 746) – und war allein deswegen zu dieser Transgression bereit, weil er eines der Zaubertiere für sich gewinnen wollte.3 Sein Ehrenkonzept erweist sich mithin als stark materiell orientiert und ermangelt von vornherein der ideellen Grundlage, während seine Frau sich als eine energische, selbstbewusste, zugleich opferbereite und dann dennoch zielstrebige Person entpuppt, die sogar zu dieser radikalen Tat zu schreiten bereit war, als Cross-Dresser aufzutreten, um ihrem flüchtigen Mann eine Lektion zu erteilen und ihn so eines Besseren zu belehren. Genau dies trifft dann auch zu, er gibt klein bei, unterwirft sich ihr, gesteht seine Schuld ein und erkennt sie als ihm überlegen vor allem in ethischer Hinsicht an, womit eine neue Machtstruktur entsteht, die relevant für das Eheverhältnis in der Zukunft gewesen sein dürfte.

Aber seine Frau ist nicht nachtragend, wirft ihm nur vor, der Hauptverantwortliche in dieser ganzen Krise gewesen zu sein, übergibt ihm darauf all diese Wundertiere und den speziellen Gürtel, denn diese hatte sie ja nur seinetwegen erworben. Insbesondere betont sie dann, dass sie selbst für ihn eine gute Ehefrau sein wolle: „ich wil ouch, herre, lernen / Allen dînen willen“ (V. 808–809). Die Verserzählung klingt so aus, indem der Dichter betont, dass sie von da an „zuht und êre“ (V. 819) gemeinsam pflegten und sich inniglich liebten (V. 820).

Dieser Ausgang klingt zu gut, um wahr zu sein, aber es geht ja im literarischen Diskurs nicht um den Wahrheits- und Realitätsgehalt, sondern um Problemanalyse und -lösung, indem extreme Verhältnisse und Situationen entworfen werden, die die Bedingungen auf dem Boden der Tatsachen in etwa spiegeln und Empfehlungen vermitteln, wie das zwischenmenschliche Leben besser gestaltet werden könnte. An zentraler Stelle macht sich bemerkbar, wie schwach und unsicher Kuonrât ist, der weder auf dem Turnier in der Nähe von zu Hause noch in Brabant wirklich zum Mann heranreift und offensichtlich nirgends die Anerkennung gewinnt, die ihm so vonnöten ist. Aber er ist mit einer ihn liebenden, einer selbstbewussten und sehr intelligenten jungen Frau verheiratet, die selbst unter schwierigsten Bedingungen Wege und Möglichkeiten findet, um Alternativen bereitzustellen und Lösungen für die krisengeschüttelte Ehe zu entwickeln. Allerdings ist die Eheinstitution als solche gar nicht gefährdet, während in der Praxis die Ehe der zwei Protagonisten sich als unreif und instabil erweist.

Wir können zwar nichts über die Identität des fremden, geradezu mysteriösen Ritters oder über die Herkunft der Zaubertiere bzw. des zentral als Motiv dienenden Gürtels sagen, aber all diese Elemente fungieren dafür, um das altbekannte, schwer anzugehende Problem in den Griff zu bekommen, wie sich ein Ehepaar vernünftig zusammenzuraufen versteht. Wie Dietrichs Verserzählung deutlich zum Ausdruck bringt, entstehen viele Konflikte dadurch, dass eine der zwei Personen innere Schwäche demonstriert, eine Identitätskrise durchläuft, sich vom anderen zu sehr herausgefordert sieht und sich in seinem/ihrem Ehrgefühl gekränkt oder erniedrigt fühlt. Dietrich thematisiert zwar oberflächlich die Frage, wie eine Ehe konstruktiv gestaltet werden kann, lenkt aber letztlich seine Aufmerksamkeit auf die persönlichen Schwierigkeiten des Individuums, weswegen die Beziehung über die Geschlechtergrenzen hinweg gefährdet erscheint.

Zugleich betont aber der Autor, wie wesentlich das erfüllte Liebesverhältnis für die glückliche Ehe sei, denn nachdem das Ehepaar den schweren Streit überwunden hat, finden sie harmonisch wieder zueinander und erfreuen sich aneinander bis zu ihrem Tode. Das mære erweist sich mithin als eine Meistererzählung, weil es fundamentale Probleme zwischen Mann und Frau aufgreift und sie auf überraschende und doch produktive Art und Weise zu lösen vorschlägt. Wie überaus deutlich wird, versagt Kuonrât vor allem deswegen, weil er seiner eigenen Frau aus Eifersucht weniger traut als einem Diener, weil er Angst vor der Auseinandersetzung mit ihr hat und lieber vor ihr flieht, als sie mit der Anklage auf Ehebruch zu konfrontierten. Ob sich all dies letztlich als Rechtfertigung konstruieren ließe, dass sie in ihrer Entscheidung gerechtfertigt gewesen wäre, aus dem Grund mit dem fremden Ritter zu schlafen, um dessen Gürtel für ihren eigenen Ehemann zu erwerben, bleibt etwas in der Schwebe. Aber ob es sich bei diesem Ritter wirklich um eine wahre Person handelt, lässt sich auch nicht sicher bestätigen, denn sie spottet ja nach dem Geschlechtsverkehr, der seltsamerweise auch mit einem Kuss zwischen beiden endet, obwohl sie ihn vorher so ablehnend behandelt hatte, über ihn als Ritter, der all seine Attribute verloren und mithin gar nicht mehr als männlich angesehen werden könnte: „Irn’ sît niht wol gemuot“ (V. 365).

Wie dem auch sein mag, sie hat durch ihr kalkulierendes Handeln die wichtigsten Instrumente gewonnen, um ihrem Ehemann dazu zu verhelfen, die höchsten gesellschaftlichen Ehren zu gewinnen. Im Grunde setzt Kuonrât natürlich die gleiche Strategie ein, erweist sich aber als viel eher dazu bereit, seinen Körper zu prostituieren, um eines der Tiere zu gewinnen. Seine Frau verfolgt zwar eher ideelle Ziele, aber die Erzählung belässt es doch ziemlich unbeantwortet, wer von beiden mehr verantwortlich für den schwerwiegenden Konflikt zwischen beiden anzusehen wäre.

Von hier aus ergeben sich viele weitere Fragen, die den ganzen Text durchziehen, denn bei genauerer Betrachtung beobachten wir noch eine Reihe von Widersprüchen, die sich der leichten Erklärung entziehen. Entscheidend bleibt aber, worauf Dietrich an zentraler Stelle hinzielt, nämlich die Reflexion über ein gutes Eheleben, das niemals ganz einfach zu gewinnen ist. Wie unsere Verserzählung deutlich vor Augen führt, leidet die innere Harmonie leicht darunter, wenn einer der zwei Eheleute innere Schwäche demonstriert und unsicher ist, vergeblich nach Anerkennung strebt und nicht genau weiß, wie er oder sie seine/ihre Rolle im Leben zu finden vermag.

Im Grunde spielt sich hier vor unseren Augen ein dramatischer Kampf zwischen Mann und Frau ab, ohne dass ein wahrer Streitpunkt vorläge. Sie schläft mit dem fremden Ritter, um Kuonrât zu helfen; er vernimmt diese schlimme Nachricht, versteht aber nicht den Hintergrund und verurteilt sie daher von vornherein als Ehebrecherin. Seine Handlung darauf ist aber wiederum als schwächlich zu bezeichnen, denn er trennt sich nicht offiziell von ihr, er bestraft sie nicht, er spricht nicht mit ihr oder über sie und geht dafür sozusagen ins selbstgewählte Exil, wo sich jedoch für ihn gar nichts Besonderes ergibt, ja wo er sogar bei einem Turnier, an dem inzwischen auch seine als Ritter verkleidete Frau teilnimmt, kläglich gegen einen Briten scheitert, der ihn nur so von seinem Pferd fegt. Erst Heinrich zeigt, was einen ‚Mann‘ wirklich ausmacht, aber er/sie verfügt ja über Zaubermittel, was das gesamte Prozedere des Turniers und des Rittertums in ein etwas schräges Licht wirft, ohne dass dadurch die wichtigste Thematik vergessen werden würde, wie nämlich ein junges Ehepaar wirklich zueinander finden und eine harmonische, glückserfüllte Partnerschaft über viele Jahre hinweg entwickeln kann.