Eros und Logos

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From the series: Popular Fiction Studies #4
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1. Occasio

Wie Dirk Niefanger argumentiert, wurde das Erotische erst im Barock entdeckt, was im Zusammenhang mit der Entwicklung der Körperpflege und der Körperkosmetik zu erklären ist.1 Die Kaprizierung auf die körperbetonte Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, mit dem Menschen, war laut Niefanger die simple Folge des „Prozesses der Zivilisation“2, ein Endresultat der Umwälzungen, die im Mittelalter beginnen, dann während der Reformation Anfang des 16. Jahrhunderts weiterverfolgt wurde. Die Nacktheit als Medium der eigenen Identität war kein Grund fürs Schämen, das man lieber verhüllen sollte, sondern ein Mittel zur Selbstwahrnehmung und Selbstkonstitution. Offen zur Schau gestellte Brüste oder Geschlechtsorgane zeugten weniger von der Transzendenz, vielmehr von der Diesseitigkeit.3 Dieses Phänomen des Hier-und-Jetzt war sowohl an den königlichen oder fürstlichen Höfen zu bemerken als auch im Bürgertum, das langsam emporkletterte, um Ende des 18. Jahrhunderts das Zepter in die Hand zu nehmen und mit den Schlagwörtern von liberté, égalité, fraternité für die Rechte der Mittelschicht gegen das patriarchalische Herrschaftssystem zu kämpfen. Im Barock ergatterte die Erotik eine „poetische Lizenz“; dieser Lizenz lag die „Kultivierung des menschlichen Zusammenlebens“4 zugrunde, dieses machte wiederum mehr oder weniger eine „Kommunikationsform“ aus.5 Sexualität wird als Form des Gedankenaustausches und als Form der manifestierten Freiheit des Körpers begriffen, der bis dato eingezwungen in Regelkorsetts keine Chance hatte herauszukommen. Das Entblößen und das erwähnte Verhüllen, diese skurrile Divergenz von offen und geschlossen, spiegelt sich in der ganzen Barockdichtung wider. Der barocken Metaphorik, meint Harry Fröhlich, gehe es nicht ums Verstecken, sondern um die „Dialektik von Verbergen und Enthüllen, das eigentliche Wesen der Metapher und der Erotik“.6 Anders gewendet, es geht ums Anziehen und Ausziehen, Ausziehen und Anziehen. In dieser bipolaren Ergänzungsstruktur von widersprüchlichen Komponenten, die eine Einheit bilden, in diesem Begehren der „Apologie der Lust“ kann man erste „Befreiungsversuche hin zu einer aufgeklärten Humanität entdecken“.7 Mit der Apologie verbindet sich die Philosophie der Lust, die im Barock eine doppelte war und durch die Gegensätzlichkeit von Wollust und Erotik getragen wurde. Als Wollust versteht man die momentane Triebbefriedigung, als Erotik die Sinnhaftigkeit und langanhaltende Sinnlichkeit der körperlichen Berührung.8 Auf den Punkt gebracht: Wollust ist Sex, Erotik ist zarter Sex mit Gefühlen. Auf diese Dualität rekurrieren direkt oder indirekt fast alle Barockdichter, die erotische Gedichte zu Papier brachten.

Mit einem konkurrierenden Dualismus, mit einer Ambivalenz, bekommt man es schon bei Martin Opitz’ Ach Liebste / laß uns eilen zu tun, in dem das Motiv der Occasio, der „rechten Zeit“9, nicht nur an das semantische Bedeutungskonvolut der Liebe, sondern vor allem an das Sterben, den Tod gebunden ist. Liebe wird als Rettungsanker vor dem Ableben verstanden. Das lyrische Ich, das sich als junger Mann identifizieren lässt, wendet sich mit einer Bitte an eine Frau, dass man sich endlich in die Arme fallen solle, denn die Zeit sei reif dazu und man habe keine Restzeit mehr: „Es schadet das verweilen / Uns beiderseit. / Der edlen Schönheit Gaben / Fliehn Fuß für Fuß“.10 Die Schönheit vergeht11, die Lust vergeht12, die Gefühle vergehen. Um diesem Vanitas-Gedanken zu trotzen, um der Verbleichung der „Wangen Zier“13 nicht zusehen zu müssen, um das Altwerden nicht zu erfahren, muss die Gelegenheit beim Schopfe gefasst werden, man muss die Occasio nützen und „[d]er Jugend Frucht“ genießen.14 Dieses Genießen der Jugend gesellt sich zum Carpe diem, d.h. genieße den Tag, lebe und lass leben, liebe und lass lieben, gib und nimm: „Wo du dich selber liebest / So liebe mich / Gib mir, dass, wann du gibest / Verlier auch ich.“15 Das sich Aneinander-Verlieren bedeutet zugleich ein Einander-Gehen.16

Liebe oder besser gesagt der Wunsch nach Liebe wird bei Opitz durch egoistische Denkmuster und egozentrisches Ich-Benehmen motiviert. Liebe ist da, man muss nur nach ihr greifen, sie drehen und wenden, sie anpassen. Durch solche sprachlich artikulierte Gewalteinwirkung lässt sich jedoch keine Liebesbeziehung generieren, sondern bloß ein Hauch von Liebe, eine Scheinliebe, denn Liebe ist nicht für alle da. Die Bittsprüche des jungen Mannes sind auch als Phantasiegebilde zu apostrophieren, als Wunschbilder, die in Erfüllung gehen können, aber nicht müssen.

In Rammsteins Zeilen wird Ähnliches thematisiert: „Ich mach‘ die Augen zu dann seh‘ ich sie / Ich sperr‘ sie ein in meine Fantasie / Ich mach‘ die Augen zu / sie wehrt sich nicht / Liebe ist für alle da / Nicht für mich“. Das Schließen von Augen, was paradoxerweise das Sehen erst ermöglicht, lässt sich auch auf den Konnex von Sprechen und Schweigen übertragen, den man im Gedicht Willst du mein Herz mir schenken von einem unbekannten Dichter beobachten kann:

Die Liebe muß bei beiden /

Allzeit verschwiegen sein, /

Drum schließ die größten Freuden /

In deinem Herzen ein! //

Behutsam sei und schweige /

Und traue keiner Wand, /

Lieb innerlich und zeige /

Dich außen unbekannt.17

Über das Liebesgefühl muss ein Mantel des Schweigens ausgebreitet werden, weil „Die Lust, die wir genießen, / Muß ein Geheimnis sein.“18 Auszulegen ist dieses anonym verfasste Gedicht als Gedicht der Übergangsphase zwischen dem Nicht-Sagen-Dürfen und dem Sagen-Können, zwischen der Dunkelheit des Gestern und der Helligkeit des Jetzt, bevor man aus dem „unglückseligen Gefängnis der Leidenschaften“ ausbricht.19

Dass die Gelegenheit zur Liebe genützt werden muss, ist auch bei Simon Dach zu erblicken. In seinem Brauttanz wird wie bei Opitz der „richtigen Zeit“ eine Relevanz beigemessen, die man nicht ungeachtet lassen kann:

Wer der Jugend Kerzen /

Trägt im frischen Herzen, /

Hat zu tanzen Lust; […]

Kinder, strebt nach Freuden, /

Niemand wird euch neiden, /

Nur der Ehrbarkeit /

Und der Zucht indessen /

Werde nicht vergessen; /

Lebt und liebt allzeit, /

Flieht dabei auch Müßiggang, /

Seid der Wollust ernster Zwang, /

So wird euer Werk für allen /

Gott gefallen.20

Dach korreliert die Liebe mit dem Glauben; es handelt sich dabei um eine Art geschenkte Liebe von Gott, um eine geschenkte Gelegenheit, eine geschenkte Occasio des Himmels. Bei Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau wird dahingegen die „rechte Zeit“ zu „deiner Zeit“ umgewandelt, in der man „den liebes-lüsten freyen zügel“ lassen soll.21 Die okkasionelle Zügellosigkeit der zwischengeschlechtlichen Beziehung im Gedicht Albanie / gebrauche deiner zeit wird als Profitieren von der gegenseitigen Körperlichkeit realisiert; der Frauenkörper ist „vor uns nur zugericht“, das lyrische Ich spricht sein Anliegen aus, gemeinsam mit Albanie „die liebes-äcker“ zu pflügen und mit ihr die „süßigkeit“ des Augenblicks zu entdecken. Der „wollust-thau“, der „die glieder netzt“, erweist sich als eine Momentaufnahme, die sich zu verflüchtigen droht und die deshalb an Ort und Stelle ‚geschmeckt‘ werden müsse.22

2. Liebe

Die Liebe als ausgedrückte Emotion und als Gefühl der Zuneigung zu einem anderen, meistens weiblichen Subjekt ist in der barocken Lyrik in den meisten Fällen männlich konnotiert; es sind männliche Figuren, männliche lyrische Ichs, die ihr Liebesbegehren kundtun, ihre Liebe bekennen und auf die Erwiderung warten. Häufiger als eine geglückte Liebesliaison wird das Scheitern der Liebe dargestellt. Schuld daran haben die Frauen, die verschlossen gegenüber den Bemühungen des anderen Geschlechts sind und auf alle Anpirschversuche mit Schweigen und Verachtung reagieren. In Paul Flemings An Anna, die Spröde wird der Fatalismus der Liebesbeziehung, das Gegenteil vom Triumph und Siegeszug der Liebe, die nur in Aussicht gestellt worden und nicht verwirklicht worden ist, bloßgelegt. Liebe wird als Gelächter der Götter geschildert, die mit den Menschen ein böses Spiel führen:

Nicht, nicht so ist mein Sinn gesinnet, /

Bei mir ist alles umgewandt. /

Ich liebe, die mir Böses gönnet, /

Ich folge der, die nicht hält Stand. /

Ich lauf, ich ruf, ich bitt, ich weine, /

Sie weicht und schweigt und stellt sich taub; /

Sie leugnets und ists doch alleine, /

Die mir mein Herze nimmt in Raub.1

Das lyrische Ich ist der „Sie“ zugetan, „Sie“ geht auf Distanz, bemerkt zwar die mühevollen und entwürdigenden sowie unritterlichen Handlungen des Mannes, der weint, bittet und ruft, nur um „Sie“ für sich zu gewinnen, aber „Sie“ ist diesen Liebesoperationen nicht erlegen. Das Sehnen nach der Gegenliebe ist a priori zu einer Niederlage verdammt, nicht wegen der Ausweglosigkeit der Beziehung selbst, sondern wegen der implizierten Charakterzügen der spröden Anna. Nicht der Mann ist für die Erfolglosigkeit der Liebesverbindung verantwortlich – es ist die Frau, die jedes Anwerben von sich abprallen lässt. Dasselbe Motiv findet sich bei Johann Christian Günther in dessen Als er seine Liebe nicht sagen durfte; es wird allerdings modifiziert; das Bemühen Flemings wird konterkariert durch den eingeschriebenen Verzicht Günthers. Das aussagende lyrische Subjekt ist sich seiner Gefühlswelt sicher, aber es kann sie nicht laut äußern:

Ich leugne nicht die starken Triebe /

Und seufze nach der Gegenliebe /

Der Schönheit, die mich angesteckt. /

Der Traum entzückt mir das Gemüte, /

 

So oft mir mein erregt Geblüte /

Dein artig Bild auch blind entdeckt.2

Dort Taubheit, hier Blindheit – die Liebe lässt fast alle Sinnes- und Wahrnehmungsorgane in die Irre leiten und ausschalten. Aus Ehrfurcht kann die Liebe nicht bekannt werden; die Liebe setzt das fundierte Weltgerüst außer Kraft, missachtet Konventionsregeln. Der Einzelne, der im Stillen Leidende ist nur imstande, vor sich selbst „heimlich gerne [zu] brennen“3 und das Zueinandergefühl zu bezeugen. „Die Schönheit dieser Welt“4 darf nur aus einem gewissen Abstand, im Kosmos des Schweigens, des Vakuums und des Nicht-Ausgesprochenen bewundert werden, sonst wäre der anvisierte Weltzusammenbruch nicht nur Alternative, sondern auch Wirklichkeit. Deswegen wird bei Günther die Liebe mit dem Prädikat „verworfen“ versehen, weil die Liebe den Denkapparat und die Rationalität verrückt spielen lässt:

Komm, selige Freiheit, und dämpfe den Brand, /

Der meinem Gemüte die Weisheit entwand. //

Was hab ich getan! /

Jetzt seh ich die Triebe /

Der törichten Liebe /

Vernünftiger an;5

Die „törichte Liebe“ wird mit „Falschheit“ umschrieben, die den Liebenden in den Abgrund stürzt, die Liebe selbst gleicht einem „zärtlichen Schmerz“.6 In der binären Zusammenführung von Zärtlichkeit und Schmerz verbirgt sich die kontradiktorische Kraft der Liebe, auf die unter anderem Hans Assmann von Abschatz abhebt. Die fremde Regung, so einer seiner Gedichttitel, diskutiert die Liebe als „angenehmen Schmerz“, der durch Regungen und Triebe verursacht wird: „So glaub ich, daß ich liebe.“7 Geliebt sein bedeutet, Schmerzen produzieren, lieben bedeutet, Schmerzen ertragen. Das Schmerzliche und Schmerzhafte können unterschiedliche Gestalt annehmen. In Hoffmannswaldaus Abriß eines Verliebten wird das Wehtuende mit Krankheit oder Gefangenschaft gleichgesetzt; dieser Schmerz ist jedoch ein notwendiger verspürter Schmerz: „Er ist ein Kranker, den ein sinnlich Fieber plaget […] / Ein arm Gefangener, der seine Fessel liebt“.8 Dass die Liebe nicht entgegnet wird, nimmt man in Kauf; die Absicht besteht nicht in der Er-Werbung, sondern vielmehr in der Werbung um die Frauen, denen man Tribut zollen und um ihre Gunst kämpfen sollte. Der Moment des Verliebens wird bei Hoffmannswaldau als Moment des Freiheitsverlustes präsentiert:

So soll der purpur deiner lippen /

Itzt meiner freyheit bahre seyn? /

Soll an den corallinen klippen /

Mein mast nur darum lauffen ein /

Daß er an statt dem süssen lande /

Auff deinem schönen munde strande? //

Ja / leider! […]9

Obwohl der Verliebte aufgrund der fehlenden Gegenliebe zugrunde geht, wird er bis zu seinem Lebensende diesem einmaligen Gefühl treu bleiben:

Da will / so bald ich angeländet /

Ich dir ein altar bauen auff /

Mein hertze soll dir seyn verpfändet /

Und fettes opffer führen drauff; /

Ich selbst will einig mich befleissen /

Dich gött- und priesterin zu heissen.10

Die barocke Dichtkunst bietet zwei Möglichkeiten an, um aus dieser einseitigen Liebesmisere einen Ausweg zu finden. Möglichkeit 1: zu Gott beten, damit er durch seine Macht das Herz der liebkosenden Frau erwärmt und gefügiger macht. Diese Lösungsvariante taucht in Jacob Regnarts Brennendes Herz auf, wo es in der letzten von vier dreizeiligen Strophen heißt: „Ach Gott der Lieb, laß doch ihr Herz empfinden / Dein Feuer, tu sie gen mir in Lieb entzünden, / So will dein Lob ich ewiglich verkünden“.11 Möglichkeit 2: zu Gott beten, damit er den Liebenden aus seiner verzweifelten Not rettet. Entweder mit dem Tod oder mit der Kittung des verwundeten Herzens, das wegen des abgeschossenen Cupido-Pfeils blutet. Christoph Demantius plädiert eher für die zweite Option:

Mein hertz hat sich verwirrt, /

In labyrinth verirrt /

Der inbrünstigen liebe, /

Der ich mich stetig übe; /

Cupido durch sein schießen /

Lässt mich kein gnad genießen […] /

Rett mich aus solcher not /

O Gott durch dein genad.12

Die Bilder des Liebeswerks, auf die man in der Barocklyrik stoßen kann, haben wenig gemeinsam mit der Liebe definiert als glückliches Beisammensein von zwei Menschen. Konterfeit wird vielmehr die Liebe aus der Sicht der Unmöglichkeit ihres weltlichen Bestehens, was den Rückschluss erlauben könnte: der Barock kennt die Liebe nicht. Überall dort, wo eine Liebesbeziehung problematisiert wird, überall dort wird sie als Minus-Beziehung, als Unlust taxiert. Denn wahre Gefühle bewirken nur Schmerzzustände, die man nicht zu heilen in der Lage ist.

3. Kuss

„Es gibt eine Sache, die ich gar nicht leiden kann / kommen deine feuchten Lippen zu nah an mich ran“ – singen Die Prinzen a capella in Küssen verboten. Die deutschsprachige Barocklyrik verbietet nicht das Küssen, sie gibt sogar Hinweise und Patentrezepte, wie das Kussprocedere richtig und erfolgreich zu Ende geführt werden sollte, denn das „Küssen in der Liebe“ sei deren „Quintessence“.1 In solcher lyrischen Kuss-Bedienungsanleitung wird allerdings das Küssen nicht als Vorstufe der Liebe bebildert, sondern als Widerhall und Ausdrucksmittel des gespürten und ausgelebten inneren Triebes bzw. der Leidenschaft wie in Flemings O liebliche Wangen:

O liebliche Wangen, /

Ihr macht mir Verlangen, /

Dies Rote, dies Weiße, /

Zu schauen mit Fleiße! /

Und dies nur alleine /

Ists nicht, das ich meine /

Zu schauen, zu grüßen, /

Zu rühren, zu küssen, /

Ihr macht mir Verlangen, /

O liebliche Wangen.2

Ein Küssen-Manifest, das ebenfalls von Fleming stammt, verdeutlicht die Potenz des Kusses; der richtige Kuss setzt sich aus vielen verschiedenen Handlungssequenzen oder aus der nachvollziehbaren Dosierung des Kusses zusammen. Mit anderen Worten: Küssen wurde einerseits zur techne, andererseits zur Kunst, die ihresgleichen sucht:

Nirgends hin als auf den Mund, /

Da sinkts in des Herzen Grund. /

Nicht zu frei, nicht zu gezwungen, /

Nicht mit gar zu fauler Zungen. //

Nicht zu wenig, nicht zu viel, /

Beides wird sonst Kinderspiel. /

Nicht zu laut und nicht zu leise, /

Bei der Maß ist rechte Weise.3

Der richtig ausgeführte Kuss basiert auf diversen Verhaltensmaßnahmen, im Grunde auf einem Kuss-Knigge des Barock, der zwar in Rechnung gestellt wird, der allerdings simultan dazu auch Freiheiten im Kussprozess zubilligt. In der letzten Strophe bei Fleming wird die Kusslust von den kodifizierten Ketten befreit: „Küsse nur ein jedermann, / Wie er weiß, will, soll und kann! / Ich nur und die Liebste wissen, / Wie wir uns recht sollen küssen“.4 Als Augenblickerscheinung hypostasiert wird der Kuss zum Symbol der Lust und Willenslust. Hoffmannswaldaus Zehnzeiler Auf den Mund beginnt in jedem Vers mit der Anapher „Mund!“, die das Ziel und die Intention der angepeilten Tätigkeit unterstreicht und dem ganzen Gedicht einen spezifischen Rhythmus verpasst, einen Kuss-Rhythmus von planmäßigem und fluktuierendem Küssen sowie Geküsstwerden:

Mund! der die Seelen kann durch Lust zusammen hetzen, /

Mund! der viel süßer ist als starker Himmelswein, […] /

Mund! Ach Korallen-Mund, mein einziges Ergetzen! /

Mund! laß mich einen Kuß auf deinen Purpur setzen.5

Nicht mit Gewalt wird der Kuss vom Ich genommen, er wird erbeten; der Kuss resultiert aus der beiderseitigen Erlaubnis, aus der freien Entscheidung des Küssenden und des Geküssten; zu einem Kuss kann man nicht gezwungen werden, denn eine brachiale Gewaltausübung zerstört die magische Dimension des Kusses, die letztendlich in die Wollust übergeht, um in der körperlichen Annäherung zu münden.

4. Wollust

Setzt man sich mit der barocken Liebeslyrik genauer auseinander, fällt die Diversifizierung zwischen zwei Beschreibungsformen der Wollust als solche auf. Auf der einen Seite wird die Wollust, also der körperliche Akt der Liebesvollziehung, mit rhetorischen Mitteln und Metaphern der Camouflage dargestellt, auf der anderen Seite wird die Wollust als Sex pur („ein Königreich voll Lust“1) ins Bild gesetzt, in dem die symbolische Mimikry der zarten Zuwendung zueinander durch schwülste und derbe Vergleiche sowie eine lyrische Wahrheit ersetzt wird, die nur eine Deutungsmöglichkeit zulässt. Die erste der oben erwähnten Stilrichtungen und Schreibweisen im Hinblick auf die Beschreibbarkeit der Liebesmechanik lässt sich beispielsweise in den Gedichten von Hoffmannswaldau erkennen, vor allem in dessen programmatischem Gedichtcredo mit dem eindeutigen Titel Die Wollust. Paradoxerweise fällt dort die Wollust, das gegenseitige Begehren, nicht als Drang nach sexueller Befriedigung ins Auge, sondern als Inanspruchnahme der Freiheit, die der Menschheit von der Natur kredenzt wurde. Wollust wird zum Freiheitsgedanken, zur Selbstbestimmung und Selbstkonstituierung. Allerdings werden die autonomen Selbstverdinglichungsversuche durch das geltende Gesetz gestört und zunichte gemacht; eine Stigmatisierung des Ich macht sich breit:

Nur das Gesetze will allzu tyrannisch sein. /

Es zeiget jederzeit ein widriges Gesichte, /

Es macht des Menschen Lust und Freiheit ganz zunichte /

Und stößt für süßen Most uns Wermuttropfen ein. /

Es untersteht sich, uns die Augen zu verbinden /

Und alle Lieblichkeit aus unsrer Hand zuwinden.2

Dabei geht es Hoffmannswaldau nicht um die Überwindung der herrschenden Gesetzgebung, sondern um den bloßen Vollzug der Naturgesetze, die die Wollust zulassen:

Es schaut uns die Natur als rechte Kindern an, /

Sie schenkt uns ungespart den Reichtum ihrer Brüste, /

Sie öffnet einen Saal voll zimmetreicher Lüste.3

Aus der Klarheit der Worte wird eine Metaphernwelt der Wollustsymbolik erbaut; die Konstruktion der heilen Welt der Gelüste ist als Gegenpart zu der zerstörten – der 30-jährige Krieg – Außenwelt des 17. Jahrhunderts zu deuten. Nur die Wollust kann man dieser infernalischen Welt-Hölle auf Erden entgegensetzen:

Die Wollust bleibet doch der Zucker dieser Zeit, /

Was kann uns mehr denn sie den Lebenslauf versüßen? /

Sie lässet trinkbar Gold in unsre Kehle fließen /

Und öffnet uns den Schatz beperlter Lieblichkeit. /

In Tuberosen kann sie Schnee und Eis verkehren /

Und durch das ganze Jahr die Frühlingszeit gewähren.4

Nicht zufällig wird in der letzten Zeile der einleitenden Strophe auf den Frühling hingewiesen, der in der Regel als Erwachen, als Erneuerung und Wiederauferstehung interpretiert wird. Die Wollust offenbart sich bei Hoffmannswaldau als endlose Frühlingszeit des permanenten Aufblühens, sie sei durch Unvergänglichkeit gekennzeichnet, weil sie nicht an die historischen oder politischen Außenumstände gekoppelt ist und nicht von ihnen abhängt im Gegensatz zu der Vergänglichkeit der Lust wie in Verliebte Aue, wo die Lust aus dem Geisteszustand des liebenden Betrachters herausgelotet und mit dem Wahrnehmungshorizont der „Gegenwärtigkeit“ kombiniert wird.5

Gegen die Verbote, die die Welt, die Herrschaftsordnung und die Moralapostel aufwerfen und dem Menschen oktroyieren, zieht auch Philipp von Zesen ins Feld. In Zugelaßene Liebes-uͤbung wird der Kontrast zwischen der „schoͤnen Seele“ und der „bloͤden welt“ veranschaulicht.6 Die „bloͤde welt“ quält die Menschen, nur mit „wohl-lust“ kann man dem Eindringen dieser Welt in die persönliche Lebens- und Liebessphäre der Menschen Einhalt gebieten:

Sie setzt den lastern straks zur seiten /

das allerliebste Lebens-licht /

und weil sie fluͤht die liebligkeiten /

lebt sie auch selbst im leben nicht. […] //

Auf! laßst die augen laͤchlend fechten /

uͤmhalset / schertzet / hertzt und kuͤsst /

und spielt auch selbst bei allen naͤchten /

was fuͤr ein spiel euch mehr geluͤst. //

Besucht aus suͤßen rasereien /

das edle volk der liebes-lust /

das euch im kummer kan erfreuen /

und letzet lippen / hand und brust.7

Das Konzept der „Liebes-uͤbung“, die bei von Zesen noch aus „suͤße[m] sinnen-pein“8 zusammengerührt wird und auf dem Konkurrenzkampf mit der Welt beharrt, wird bei Celander nicht nur relativiert, sondern erfährt eine weitgehende Umgestaltung und Verschärfung. Celander kann man als Vertreter der anderen der zwei anfangs angedeuteten barocken Stilistiken klassifizieren, die das ummantelnde Herumgerede um die Sexualität durch ein Sex-Handeln substituiert und enttabuisiert haben. Die metaphorisch umhauchte Ausdrucksweise eines Hoffmannswaldau, die an einen Sinnesleser adressiert ist, spielt bei Celander, der für die späte Phase des Barock steht, keine signifikante Rolle mehr. Mit Tollkühnheit verwandelt er die symbolische Magie der Worte in symbolische Magie der Taten, die häufig sich an der Grenze zur Perversität bewegen und die die Fragilität des Sexualitätsbewusstseins, das nicht ausgesprochen worden ist, infrage stellen.

 

Celanders Lyrik ist nicht metaphernfrei; mehr noch, sie ist eher metaphernreich, aber dieser Reichtum speist sich nicht aus der Palette von ausgeklügelten uneindeutigen Gleichnissen, sondern aus der Direktheit des Vergleichs.

Und nimm die Perlen-Milch in deine Muschel ein; /

Groß Schade / daß sie wird so liederlich versprützet /

Da wo sie keiner Schooß / auch nicht den Tüchern nützet.9

– heißt es in Als einer im Schlaff verschwenderisch gewesen. Die „Perlen-Milch“, mit der der männliche Samen gemeint ist, soll von der Muschel, der Vagina einer Frau, aufgenommen werden, um ihn nicht sinnlos zu verschwenden. Die Frauengestalt wird nicht höfisch angehimmelt im Sinne einer Liebesminne, sondern sie wird als Spermienrestposten und Spermienlager betrachtet:

Ach stelle doch mein Kind die Sprödigkeit nur ein! /

Laß deine Muschel mir nicht mehr verschlossen seyn /

Eröffne ihren Helm die Nahrung zu empfangen /

Wo in dem Liebes-Thau / die Anmuths-Perlen prangen.10

Celander stellt eine eigenwillige Werbungsart eines Mannes dar, der die Frau nicht mit Rosen zur Durchführung des Liebesaktes überzeugen will, sondern mit ‚nackten‘ Tatsachen, die körperlichen Couleurs sind:

Vergönne mir hinfort in deinem Schosse Platz /

Und laß den Liebes-Thau daselbsten sich ergiessen /

Wo er mit größrer Lust wird als im Schlaffe fliessen. /

Dein dürrer Acker wird alsdenn von Wollust feist /

Die Brüste härten sich / die Lust entzückt den Geist; /

Die Anmuth / die durchdringt des gantzen Leibes-Glieder /

In Lachen steigt man ein / mit Kitzeln kommt man wieder.11

Der auf diese Weise vorteilhaft beschriebene Geschlechtsverkehr für den Mann als auch für die Frau hat nur Vorzüge. Wenn in Johann Christian Günthers An seine Schöne der Liebesverzehr noch vor der Folie einer schönen Landschaft in Gang gesetzt wird und sich ereignen soll („Die Nacht ist unsrer Lust bequem, / Die Sternen schimmern angenehm / Und buhlen uns nur zum Exempel; / Drum gib mir der Verliebten Kost, / Ich schenke dir der Wollust Most / Zum Opfer in der Keuschheit Tempel“12), dann wird bei Celander der Außenraum der Natur, der willig machen soll, durch den Innenraum der zwischenmenschlichen Beziehung abstrahiert, in dem nicht die Natur das Sagen hat, sondern der Mensch allein mit seinem Tonfall und seiner Überzeugungskraft. Sexualität wird demzufolge nicht durch die Umwelt beeinflusst, sondern durch eine In-Welt, in der es nicht auf Wortklauberei, Sentimentalität und kitschige Schwülstigkeit ankommt, stattdessen nur auf die Wahrheit und Ungezähmtheit des Wortes: „So soll das Liebes-Safft mit süssen Quellen fliessen. / Und sich mit vollem Strohm in deine Muschel giessen.“13 Dass Celanders Gedichte – Celander ist ein Pseudonym, man nimmt an, dass sich hinter ihm Johann G. Gressel versteckte –, die 1716 in Leipzig bei Christian Liebzeit unter dem Titel Verliebte-Galante erschienen sind, frivol anmuten, liegt klar auf der Hand. Vom heutigen Standpunkt aus könnte man sie entweder als höchstmodern einschätzen, oder man könnte sie auch als billige Trivialware abtun, die auf die massive Schockierung der Leserschaft aus war. Ein lyrischer Softporno im barocken Duktus.

Das Pornohaftige in den Gedichten Celanders ist jedoch nicht auf die von ihm vorgestellten Sexszenen zurückzuführen, sondern auf den verwendeten Wortschatz, der sich in einem Unkonvergenz-Verhältnis zu der lyrischen Sprache befindet. Celanders Sprachgenuss wird nicht durch rhetorische Feinheiten getragen; er bildet vielmehr eine eigene sprachliche (F)Einheit des Obszön-Normalen, weil er Handlungen ans Licht bringt, die in dieser eindrücklichen und bestechlichen Beschreibungsform bis dato nicht vorhanden waren. Celanders lyrische Gemälde sind zwar konstruiert, in seinen Gedichten kommen immer wieder Wiederholungen, repetierende Reimschemata oder iterative Wortgruppen vor, aber diese lyrische Komposition scheint gewollt zu sein, denn erst dank der Wiederholung des Gegebenen wird die sexuelle Thematik und deren textliche Handhabung vervollständigt. Das Metrum und der Zeilenaufbau von Celanders Gedichten gleicht dem Rein-Raus-Modus des sexuellen Aktes. Auch dort, wo der Gedichtanfang eher einen harmlosen Liebesstoff vermuten lässt, findet später eine Explosion von sexuellen Anspielungen statt. Lieben und geliebet werden ist das höchste Vergnügen zeigt diese Entwicklung von zarter Zuneigung über Fokussierung auf die Äußerlichkeiten/Körperlichkeiten bis hin zu den für Celander so charakteristischen Muscheln:

Was ist Vergnuͤglichers im gantzen Rund der Erden, /

Als Lieben / und zugleich mit Ernst geliebet werden? /

Was ist annehmlichers als ein ambrirter Kuß? /

Den reine Liebe schenckt aus innerm Hertzen-Fluß /14

Nach diesen Anfangsversen folgt der sich einschleichende Übergang zur Sexbegegnung:

Was ist erquickender als schoͤne Brust-Granaten /

Worinnen Milch und Blut zur Küehlung hingerahten? /

Was ist bezaubernders als der gewöelbte Schooß? /

Der uns entzuͤcket, macht der satten Sinnen loß. /

Was ist verzuckerter als feuriges Umhalsen, /

Das Honig-Kuchen macht aus bittern Wermuths-Salsen. /

Was ist anmuhtiger als ein polirter Leib /

Von zarten Helffenbein zur Naͤchte Zeit-Vertreib? /

Was ist gewuͤnscheters als Leib an Leiber leimen /

Und feuchten Perlen-Thau in Liebes-Muscheln schaͤumen? /

Was ist entzuͤckender als in der Muschel ruhn, /

Wo Lust und Kitzelung der Wollust-Thor auf thun?15

Der Perzeptionsblickwinkel von Celander ist männlich, das sexuelle Beisammensein ist in Wirklichkeit ein Samen-Sein, eine Samen-Ergießung. Sexuelle Vorlieben der Frauen werden außer Acht gelassen, die ganze Zeit geht es nur um die Einzelbefriedigung des männlichen Egos. Aus der maskulinen Perspektive reicht es nur zu lachen, zu grinsen und zu sprechen, um der Frau das Ja-Wort zum Koitus zu erzwingen wie in Als Mirando die kleine untersetzte Fulvine bey sich wegwatzscheln sahe:

Du kleines dickes Pumpelmeisgen, /

Du bist gewiß sehr artig ausgeschmückt, /

Ach! laß mich in dein Vogelhäusgen, /

Eh mir der Liebes-Safft entrückt, /

Warumb wilst du vor meinem steiffen Stehen /

So schleunig gehen? […] /

Ich will dir nichts weiter thun, /

Als nur ein kurtzes Viertel-Stündgen /

In deinem Vögelhäusgen ruhn.16

Was die Frauen gebrauchen würden, sind in Celanders Optik ein „steiffer Mann“ (An Sambretten, als sie blaß sahe), der das bleich gewordene Fräulein wieder erröten lässt: „Nimm mich ein eintzigmahl die Woche mit zu Bette, / Solst du bald wieder roth (geh nur den Vorschlag ein), / Ja, ja, weit schöner noch, als wie vor dessen seyn.“17 In anderen lyrischen Texten wird das weibliche Geschlechtsteil als ein „schoͤne[r] Port“ (Man will die mannsüchtige Talestris im Bette sehen)18 im „Marmor-Meer der Lust“ (Arismene verweiset ihm seine Dreistigkeit)19 beschrieben, in den man sein „Liebes-Schiff“ lenken kann (Man will die mannsüchtige Talestris im Bette sehen)20, die Brüste sind dagegen „feurge Rubinen“ (Auf ihre Bruͤste)21, die dem Mann Vergnüglichkeiten bereiten: „Die Brüste bleiben doch der Liebe schönstes Ziel“22; die Frauen sollten ihre Vorteile klar an den Tag legen und sie nicht vor den Männeraugen verstecken:

Mein Kind / sey doch so bloͤde nicht /

Laß deinen Busen offen /

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