Spannung und Textverstehen

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Spannung und Textverstehen
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Philip Hausenblas

Spannung und Textverstehen

Die kognitionslinguistische Perspektive auf ein textsemantisches Phänomen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-9155-5


Inhalt

  Vorwort

 I Vorbemerkung1 Einleitung1.1 Spannung – ein vernachlässigtes Thema1.2 Relevanz von Spannung1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit2 Forschungsstand2.1 Textexterne Spannungstheorien2.2 Zentrale Theorien im Bereich der Spannung2.3 Zwischenfazit

 II Grundlagen einer Theorie des Textverstehens3 Wissen3.1 Wissensrahmen3.2 Textstrukturwissen4 Lokale und globale Inferenzen beim Textverstehen4.1 Wörter evozieren Frames4.2 Notwendige Inferenzen4.3 Elaborative Inferenzen4.4 Die Klassifizierung von Inferenzen4.5 Leserziele5 Die mentale Textweltrepräsentation5.1 Verstehen als Konstruktion einer mentalen Welt5.2 Die propositionale Struktur5.3 Die handlungszentrierte Textweltrepräsentation5.4 Situationsmodelle6 Zwischenfazit

 III Spannung7 Vorüberlegungen zur Spannung7.1 Spannungsphasen7.2 Lokale und globale Spannungsbögen, Rekursivität7.3 Subjektivität und Intersubjektivität7.4 Spannung als interdisziplinärer Forschungsgegenstand7.5 Methodische Aspekte8 Suspense8.1 Das Quest-Motiv8.2 Suspense als Antizipation eines negativen Ausgangs8.3 Die Konstruktion negativer Konsequenzen8.4 Negative Konsequenzen als globaler inferentieller Bezugspunkt8.5 Zwischenfazit9 Curiosity und Puzzles9.1 Curiosity9.2 Puzzles10 Inferenzen durch textuell etabliertes Wissen11 Das Verhältnis von Textverstehensforschung und Spannungsforschung11.1 Wo die Spannungsforschung von der Textverstehensforschung profitieren kann11.2 Wo die Textverstehensforschung von der Spannungsforschung profitieren kann12 Abschlussbemerkung12.1 Textverstehen12.2 Spannung

  Literatur

Vorwort

Das Thema Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur und siedelt sich nicht im linguistischen Mainstream an. Deshalb glaube ich, dass viele potentielle Betreuer aus der (germanistischen) Sprachwissenschaft dieses Thema für eine Dissertation nicht zugelassen hätten. Dass Dietrich Busse mir die Möglichkeit eröffnete, daran zu arbeiten, dafür bin ich ihm dankbar. Darüber hinaus danke ich ihm für die Unterstützung und die Ratschläge, die er mir über die gesamte Zeit hinweg in zahlreichen Gesprächen gegeben hat.

Ich danke Susanna Dinse, Kristin Kuck und Phillip Angermeyer dafür, dass sie die Arbeit gründlich gegengelesen haben, dass sie mich auf einige Schwächen aufmerksam gemacht und dass sie mir wertvolle Tipps zur Überarbeitung gegeben haben. Alexander Ziem hat mir in der Endphase einige konzeptionelle Ratschläge gegeben, auch dafür danke ich.

Ich danke meiner Lebensgefährtin Silvia Halajova dafür, dass sie mir immer zur Seite stand. Und ich danke meinen Eltern, sie haben mich mein Leben lang auf alle erdenklichen Arten unterstützt.

Düsseldorf, im April 2017 Philip Hausenblas

I Vorbemerkung
1 Einleitung
1.1 Spannung – ein vernachlässigtes Thema

Über Spannung spricht man nicht – zumindest nicht in Seminaren von Philologen und Diskussionsrunden von Linguisten. In Einführungen, in Nachschlagewerken und in der Sekundärliteratur findet sich kaum etwas zum Thema, was für die Linguistik und Literaturwissenschaft gleichermaßen gilt.

Spannung gilt als ein Phänomen der Trivialliteratur. Kein Wunder also, dass sie als Gegenstand der Forschung nicht präsent ist. Edward M. Forster bringt die abwertende Haltung gegenüber der Spannung auf den Punkt:

Scheherazade avoided her fate because she knew how to wield the weapon of suspense – the only literary tool that has any effect upon tyrants and savages.1

Zahlreiche Abhandlungen beschäftigen sich mit anderen Wirkungen von Texten. In der Rhetorik untersucht man, wie Argumente am nachhaltigsten wirken, wie Texte überzeugen. Sprachwissenschaftler erforschen die Sprache der Werbung, die per definitionem von der Wirkungsabsicht dominiert wird.2 Warum kümmert sich die Linguistik nicht um Strategien, die in einem Text Spannung generieren? Ist es Absicht oder Versäumnis?

Diese Frage drängt sich umso stärker auf, wenn man an die zunächst für das Medium Film bestimmte Beschreibung von Peter Vorderer denkt, der Spannung als Hauptfaktor bei der prärezeptiven und postrezeptiven Bewertung von Filmen beschreibt, die von Junkerjürgen auf Unterhaltungsliteratur ausgeweitet und damit auch für die Linguistik zugänglich gemacht wurde.3 In ähnlicher Weise äußert sich Volker Mertens, wenn er schreibt, dass die Hauptfaszination des Romans […] in der Spannungsstruktur4 liegt.

1.2 Relevanz von Spannung

In Science-Fiction-Texten, Fantasygeschichten und Kriminalromanen, in Zeitungsberichten über kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse, in Nachrichtenmeldungen, Interviews und Reportagen, in Reden, Sachbüchern und Biographien, in all diesen Textsorten spielt Spannung eine entscheidende Rolle.

Spannung besitzt in den verschiedensten fiktionalen und nicht fiktionalen schriftsprachlichen Textsorten einen zentralen Stellenwert. Gleichzeitig gilt sie als ein entscheidender Anreiz für den Konsum audiovisueller Texte. Kaum ein Film kommt ohne Spannung aus. Unabhängig davon, ob es sich um einen Hollywoodstreifen handelt oder um ein Werk der skandinavischen Avantgarde. Gleiches gilt für Werbetrailer, Serien oder TV-Shows wie Wer wird Millionär?

Dabei durchzieht Spannung die einzelnen Textsorten (inklusive der kinematischen bzw. audiovisuellen) in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird sie innerhalb eines Textes aufgebaut, gehalten und wieder abgebaut. Zum anderen kann sie über Textgrenzen hinweg aufgebaut werden und spannt sich so einerseits über verschiedene Texte einer Modalität, was für Romanreihen gilt wie Harry Potter von Joanne K. Rowling oder Der Herr der Ringe von John R. R. Tolkien, die sowohl schriftsprachlich als auch in den adaptierten audiovisuellen Versionen über mehrere Einheiten verfügen. Darüber hinaus wird sie verschiedene mediale Kanäle überspannend aufgebaut. So werden Sportereignisse in crossmedialen Werbekampagnen aufgebläht, bei denen spannungsinduzierende Elemente aus allen erdenklichen Richtungen die Rezipienten überfluten. Dieser wird in Zeitungsartikeln, Fernsehbeiträgen und Rundfunkberichten mit der Frage konfrontiert, wer das Viertelfinale gewinnt, ob Griechenland gegen Spanien eine Chance hat und wer wohl Weltmeister wird. Zugleich werden statistische Fakten bemüht wie Seit 1972 hat England kein Spiel mehr gegen Deutschland gewonnen; Krämpfe und Zerrungen von Spielern bestimmen die mediale Berichterstattung. Alles, um die Aufmerksamkeit auf Fragen wie diese zu lenken: Wird ein bestimmter Spieler beim nächsten Spiel antreten können? Dabei werden in der Regel Worst-Case-Szenarien aufgebaut, die darüber reflektieren, wie das Spiel ohne den besagten Spieler ausgeht, ob ohne ihn überhaupt eine Chance besteht.

Das gilt nicht nur für den Sport. Die gesamte mediale Berichterstattung verlässt sich in hohem Maße auf Spannung. Ein Blick auf die auflagenstärksten Zeitungen, Magazine und Boulevardblätter genügt. Häufig stehen lebensverändernde Einzelschicksale, Skandale und weltbewegende Ereignisse im Mittelpunkt. Fliegt der Publikumsliebling raus in der neuesten Castingshow? Verliert dieser Minister sein Amt? Wird jener Prominente verurteilt? Wer wird die Wahl gewinnen? Wird die Katastrophe nach Europa überschwappen?

Kurz: Spannung ist ein allumfassendes Prinzip mit hoher praktischer Relevanz, die sich nicht nur auf Literatur beschränkt, sondern einen Großteil des Medienkonsums prägt. Sie gilt als ein Garant dafür, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu gewinnen und zu sichern.

 

1.3 Spannung, eine vorläufige Arbeitsdefinition

Bei dem Begriff Spannung handelt es sich Junkerjürgen zufolge um einen Oberbegriff für viele Arten von medien-induzierter Affekterregung5. Während sich im Deutschen im Bereich der Spannung keine weiteren Begriffe durchgesetzt haben, bietet das Englische Differenzierungen, die sich bei den wenigen Forschern zur Spannung etabliert haben. Bei den drei Haupttypen dieses textuellen Effekts handelt es sich um den Suspense, das Curiosity und das Puzzle.

Bei der Beschreibung von Spannung müssen zwei wesentliche Aspekte berücksichtigt werden: die textuelle Dimension und die Rezipientenseite. Beide sind für die Bestimmung von Spannung konstitutiv.6 Junkerjürgen bringt dies folgendermaßen auf den Punkt:

Spannung als Leserreaktion und Textphänomen verhalten sich komplementär zueinander und müssen daher auch gleichgewichtig berücksichtigt werden.7

Spannung ergibt sich aus einer inferentiellen Anreicherung der Textwelt, die auf einzelnen Textsegmenten und auf Wissen basiert. Der Text setzt verschiedene Verarbeitungsprozesse in Gang, die eine Unterscheidung der Typen erlauben. Die drei Haupttypen werden im Folgenden einleitend und in kompakter Form vorläufig beschrieben.


(1)

(1) stellt den Initialsatz dar aus dem internationalen Bestseller Illuminati vom amerikanischen Erfolgsautor Dan Brown. Auf der Grundlage des Textes und seines Wissens konstruiert der Rezipient das zukünftige Ereignis, dass der Wissenschaftler sterben wird. Dass dem Physiker dieses Schicksal bevorsteht, steht nicht im Text. Es ist ein Ergebnis rezipientenseitiger Prozesse.

Hans-Jürgen Wulff zufolge zeichnet sich diese Art der Spannungserzeugung dadurch aus, dass der Rezipient einen negativen Ausgang ableitet, der nicht im Text steht. Der Rezipient wird an den Text gebunden, bis aufgelöst wird, ob sich die inferentiell hergestellte Konsequenz tatsächlich realisiert oder nicht.9 Dieser Spannungstyp wird Suspense genannt. Zu den zentralen Autoren, die sich wissenschaftlich mit diesem Typ auseinandergesetzt haben, zählen neben Wulff auch William F. Brewer, Noël Carroll, Meir Sternberg, Dolf Zillmann sowie Paul Comisky und Jennings Bryant. In Kapitel 8 wird der Suspense ausführlich behandelt. Zugleich kann ein Satz wie (1) einen Curiosity-Effekt hervorrufen, wie er im folgenden Beispiel vorgestellt werden.10


(2)

Im Initialsatz (2) aus dem Roman Königsallee des deutschen Schriftstellers Hans Pleschinski wird im Text eine Situation beschrieben, die der Rezipient als Wirkung oder Folge eines vorangegangenen Ereignisses interpretiert und dessen Ursache er nicht aus seinem Wissen ableiten kann. In dem Beispiel kann der Rezipient nicht erklären, warum das Düsseldorfer Luxushotel in großen Aufruhr versetzt war. Dass es eine Ursache gibt, steht nicht im Text. Der Rezipient reichert also auch hier die Textwelt inferentiell an und wartet darauf, dass der Text die Ursache offenbart. Für diese Art der Spannungserzeugung hat sich die Bezeichnung Curiosity etabliert. Das Curiosity wird bei Sternberg, Carroll sowie Brewer behandelt. In Abschnitt 9.1 wird dieser Spannungstyp im Detail besprochen.


(3)

(3) gibt die ersten zwei Sätze aus dem Roman John Der Nachtmanager von John le Carré wieder. Der erste Satz beschreibt alltägliche Vorgänge in einem Züricher Hotel, der zweite Satz beschreibt die politische Situation in einem weit entfernten Land. Der Rezipient versucht die Sätze in ein kohärentes mentales Textweltmodell zu integrieren. Da es keine unmittelbare Anschlussmöglichkeiten zwischen den beiden Sätzen gibt, erscheint der Text zunächst inkohärent. Diesem Typen liegt das rezipientenseitige Ziel zugrunde, ein kohärentes Diskursmodell zu erlangen. Der Rezipient geht auf der Grundlage seines Wissens davon aus, dass es einen, wenn auch entfernten Zusammenhang zwischen beiden Sätzen gibt. Dass ein möglicher Zusammenhang existiert, steht nicht im Text. Es wird vom Rezipienten auf der Grundlage seines Wissens ergänzt. Dieser Fall wird unter dem metaphorischen Begriff des Puzzles besprochen und er wird von Graham Petrie sowie Wolfgang Iser beschrieben, wobei er Iser zufolge mit einer Kompositionsleistung des Rezipienten einhergeht. In Abschnitt 9.2 wird dieser Typ kognitionslinguistisch untersucht.

Damit ein Rezipient Spannung erleben kann, ist es wichtig, dass dieser die Textwelt für real hält. Zur textintern aufgebauten Realität schreibt Monika Fludernik, dass diese nicht unbedingt mit der Lebenswelt des Rezipienten übereinstimmen muss, es kann sich auch um eine abweichende Wirklichkeitkonstitution handeln wie zum Beispiel in einem Fantasy-Roman.13 Daher handelt es sich in der Regel um eine Realitätsillusion.14

Die Realitätsillusion kann unter anderem durch textimmanente Signale etabliert werden. Ein Text suggeriert Realitätsnähe zum Beispiel dadurch, dass Ereignisse und Handlungen innerhalb der Textwelt plausibel erscheinen, sie sollten sich nicht als unmotiviert, beliebig oder zufällig darstellen.15 Ebenso kann die Illusion verstärkt werden durch Details, die aus der Perspektive des Rezipienten keine unmittelbare Relevanz für den Verlauf einer Geschichte besitzen (rückblickend können sie sich als wichtig erweisen). Roland Barthes spricht in diesem Fall von Realitätseffekten, französisch effet de réel.16 Kommentare von Erzählern und stilistische Techniken hingegen wie zum Beispiel eine auffällige Syntax in einem Gedicht lenken die Aufmerksamkeit von der Textwelt weg und verschieben sie hin zur textproduzierenden Instanz. Dadurch besitzen sie einen spannungshemmenden Effekt.17

Als Leser dieser Arbeit muss man also als Voraussetzung im Hinterkopf behalten, dass ein spannungsvoller Text in der Regel eingebettet ist in einen realitätssuggerierenden Rahmen. Im Idealfall wurde zusätzlich eine positive Relation zu einzelnen Figuren aufgebaut. Da die Arbeit versucht, Spannung in abstrahierter und verdichteter Form zu beschreiben, werden realitätsstiftende und Figuren beschreibende Textsegmente ausgelassen – anderenfalls würde die Arbeit in einem unüberschaubaren Umfang aufgebläht werden.

Da die Forschungsliteratur im Bereich der Spannung sich auf vergleichsweise wenige Beiträge beschränkt, erweisen sich sowohl die jeweiligen Beschreibungsmodelle als auch die Fälle, die diskutiert werden, als sehr heterogen. Zugleich verteilen sich diese Beiträge auf so unterschiedliche Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, Filmwissenschaft, Psychologie und Philosophie, wobei die Untersuchung in der Regel relativ frei von den Ergebnissen anderer Forscher und Wissenschaftsdisziplinen stattfindet. Die Auswahl dieser drei Spannungstypen kann daher nur zum Teil durch die Forschungslage begründet werden. Als weitere Auswahlkriterien werden deshalb die Frequenz und die werkimmanente Relevanz eines Spannungstyps herangezogen. Die drei genannten Spannungstypen tauchen einerseits am häufigsten in Texten auf, zugleich besitzen sie das Potential, größere Teile eines Textes bis hin zu gesamten Werken zu umspannen. Die Unterscheidung in Suspense und Curiosity stammt von Sternberg, das Puzzle beschreiben Iser sowie Sternberg, wobei die Bezeichnung von Gulino stammt.

Bei allen drei Haupttypen der Spannung reichert der Rezipient die Textwelt auf der Grundlage seines Wissens an. Wie dieser Ausbau der Textwelt zu Spannung führt, lässt sich auf die zentrale konstruktivisitische Grundannahme zurückführen, die sich in verstehensorientierten Theorien findet. Diesem Paradigma zufolge strebt ein Rezipient beim Lesen danach, zu einer ganzheitlichen und kohärenten mentalen Repräsentation zu gelangen, er folgt aktiv dem Prinzip des search after meaning.18 Deshalb versucht er Ursachen herauszufinden, Zusammenhänge herzustellen und den tatsächlichen Wahrheitswert von negativen Konsequenzen zu bestimmen. So erfährt der Rezipient den Wunsch, die Spannung aufzulösen.

1.4 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit

Die Hauptziele der Arbeit. Diese Arbeit verfolgt das Ziel, das Verhältnis auszuloten zwischen der Spannungsforschung und einer verstehensorientierten, kognitiven Linguistik.19 Dabei wird gezeigt, dass beide Disziplinen eine Vielzahl von Implikationen für die jeweils andere besitzen und dass beide voneinander lernen und profitieren können. Drei Kernziele stehen im Mittelpunkt:

 Das erste Hauptziel besteht darin, die Auslöser der oben genannten zentralen Spannungstypen aus der Perspektive der kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie systematisch zu präzisieren.

 Das zweite Hauptziel besteht darin, zu zeigen, dass spannungsauslösende Elemente als Grundlage für die Verarbeitung darauffolgenden Textmaterials dienen können, was sowohl direkt angrenzende als auch weit über einen Text verstreute Diskurssegmente betreffen kann.

 Das dritte Hauptziel besteht darin, herauszuarbeiten,welchen Beitrag die verstehensorientierte Linguistik zur Erforschung von Spannung leisten kann undwelchen Beitrag die Erforschung von Spannung für diesen Zweig der linguistischen Forschung leisten kann.

Aufbau der Arbeit. In Kapitel 2 wird ein Überblick über zentrale Ansätze im Bereich der Spannungsforschung gegeben. Dabei zeigt sich, dass dieser Bereich in vielerlei Hinsicht ein hohes Maß an Heterogenität aufweist. Die Autoren kommen aus verschiedenen Disziplinen wie der Philosophie, Psychologie und Literaturwissenschaft. Zum Teil liegt ihren Analysen und Theorien schriftsprachlicher Text zugrunde, zum Teil beschäftigen sie sich auch mit audiovisueller Spannung oder erheben einen universalen Anspruch, der sich durch eine modalitätsunabhängige Beschreibung niederschlägt. Häufig untersuchen die Autoren nur begrenzte Teilbereiche des Phänomens Spannung. In den Arbeiten werden viele der übrigen Forscher und deren Ergebnisse ausgeblendet.

In Teil II werden die Grundlagen einer Theorie des Textverstehens zusammengetragen. Im Mittelpunkt stehen kognitive Strukturen und Inferenzen, die erforscht werden in der Kognitionslinguistik und der Psycholinguistik auf der Ebene des Textverstehens. Auf der Grundlage des Textes und seiner Wissensbestände konstruiert der Leser während der Rezeption ein mentales Modell der jeweiligen Textwelt. Dabei stellt er auf der lokalen und globalen Ebene Bezüge zwischen einzelnen Textsegmenten her. Zugleich reichert er die Textwelt mit zusätzlichen Informationen an. Der Teil zielt einerseits darauf ab, das theoretische Fundament für die anschließende Analyse von Spannung zu liefern. Zugleich versucht er, die psycho- und kogntionslinguistische Theorie zum Textverstehen in kompakter Form vorzustellen.

In Teil III werden die Haupttendenzen spannungsinduziernder Verfahren aufgegriffen, die zum größten Teil in der Filmwissenschaft, der Philosophie und der Psychologie beschrieben werden und die sich überwiegend auf audiovisuell erzeugte Spannung beziehen. Zunächst werden verschiedene Vorüberlegungen angestellt, die Spannungsbögen und deren Reichweite innerhalb des Textes betreffen sowie das Zusammenspiel unterschiedlicher Spannungsbögen. Spannung wird als ein intersubjektives Phänomen und interdisziplinärer Forschungsgegestand charakterisiert. Anschließend werden mit dem Suspense, dem Curiosity und dem Puzzle die drei zentralen Spannungstypen dieser Arbeit auf der Grundlage der in Teil II erarbeiteten Aspekte beschrieben. Dabei wird das Erklärungspotential der Textverstehensansätze verglichen mit dem Erklärungspotential von Spannungstheorien, die aus benachbarten Disziplinen stammen. Es wird sich zeigen, dass linguistische Begriffe zum Teil isoliert ein hohes explanatorisches Potential besitzen; zum Teil entfalten sie ihre explanatorische Kraft auch synergetisch.

 

Die dabei zugrunde liegenden Beispiele stammen aus der Sekundärliteratur und aus der intensiven Lektüre eines breiten Spektrums an Texten. Dabei wird auf so unterschiedliche Textsorten zurückgegriffen wie zum Beispiel Kriminalromane, Drehbücher und Zeitungsartikel. Es fließen neben schriftsprachlichen Texten auch audiovisuelle in die Analyse mit ein. Häufig treten die Beispiele in einer abgewandelten Version auf, um versteckte Variablen zu eliminieren und ihre Komplexität zu reduzieren (ausführliche Überlegungen zur Wahl und dem Umgang mit Beispielen finden sich in Abschnitt 7.5, der der Analyse verschiedener Spannungstypen vorausgeht).

In Teil IV werden die wechselseitigen Implikationen von Spannungsforschung und Linguistik ausgeführt. Es wird sich einerseits zeigen, dass die Forschung im Bereich des Textverstehens in vielfacher Hinsicht von der Erforschung von Spannung profitieren kann. Andererseits ermöglicht es die Textverstehensforschung mit ihrer Terminologie und theoretischen Annahmen, Spannung differenzierter zu beschreiben, als dies andere Ansätze erlauben. Dadurch erhalten die Textverstehenstheorien Bestätigung, weil sie sich auf einen weiteren, stark von ihr vernachlässigten Bereich anzuwenden erlaubt. Insgesamt handelt sich daher um ein Unterfangen, dass sich für beide Seiten als äußerst fruchtbar erweist.