Spannung und Textverstehen

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4.2.3 Prädiktive Inferenzen mit kausalem Bruch

Zukunftsgerichtete Kausalität beim Textverstehen. In der Literatur der Psycholinguisten und Kognitionswissenschaftler zum Textverstehen werden Inferenzen über zukünftige Ereignisse (englisch predictive inferences, im Folgenden auch prädiktive Inferenzen) beschrieben, die sich ergeben aus Relevanzerwägungen und aus Wissen über mögliche kausale Zusammenhänge,70 wobei innerhalb der kausalen Zusammenhänge zwischen Kausalität auf Ereignisebene und Handlungsebene unterschieden wird.71

Folgende Fälle pragmatischer Kausalität werden in der Literatur behandelt.

 Der Rezipient unterstellt, dass die Maxime der Relation befolgt wird, was zur Annahme der allgemeinen zukünftigen Relevanz einer Information führt.

 Die scheinbare Verletzung der Relevanzmaxime führt zu einer spezifischen prädiktiven Inferenz,die sich auf der Ereignisebene ansiedelt oderauf der motivationalen Ebene (Ziele und Motivationen).

Kausalität spielt bei der Textrezeption also auf verschiedenen Ebenen eine wichtige Rolle – auf der Ebene der mentalen Textwelt und auf der Ebene der Textproduktion.

Relevanzbefolgung und zukünftige Wichtigkeit: Die Verarbeitung textuell explizierter Details. Eine rezipientenseitige Annahme – die unspezifizierteste – basiert auf den Grice’schen Grundlagen, genauer auf der Maxime der Relevanz, der zufolge bei Textverarbeitung Relevanzüberlegungen einfließen.72 Broek nennt dies Expectation of Future Relevance. Rezipienten erwarten eine zukünftige Relevanz von bestimmten textuell evozierten Elementen. So werden Details am Anfang eines Kriminalromans als relevant eingestuft. Der Leser erachtet bestimmte im Text genannte Aussagen als möglicherweise relevant für die Geschichte, für den Ausgang der Geschichte oder für die Auflösung der Handlung.73

Relevanzgestützte prädiktive Inferenzen auf der Ereignisebene. Eine Szene aus dem FIlm Moonraker.


(31) Nachdem das antagonistische Element Beißer den Protagonisten James Bond aus einem Flugzeug geworfen hat, stürzt sich dieser dem englischen Topagenten hinterher. James Bond organisiert sich im freien Fall einen Fallschirm und zieht die Reißleine. Beißer zieht ebenfalls seine Reißleine – die sich ausgerechnet in diesem Augenblick ablöst. Beißers Fallschirm bleibt geschlossen, er stürzt dem Boden entgegen.

In das Filmmaterial der auf den Boden zurasenden Figur wird ein Zirkuszelt mit einigen Innenszenen hineingeschnitten. Abwechselnd erscheinen der ungebremst stürzende Beißer und die Zirkusaufnahmen auf der Leinwand.

Der Analyse von Magliano, Dijkstra und Zwaan zufolge stellt der Rezipient die prädiktive Inferenz her, dass Beißer auf das Zelt fallen und überleben wird. Diese basiert auf einer Anomalie, d.h. auf dem Einspielen der Aufnahmen rund um den Zirkus, was in keiner unmittelbaren Relation zum Vorhergegangenen steht. Die prädiktive Inferenz erlaubt es, das Gezeigte in ein kohärentes mentales Modell zu integrieren. Ohne die rezipientenseitig hergestellte Inferenz würde das Einspielen des Zirkuszeltes und der damit verbundenen Aufnahmen sich nicht in einen kohärenten Zusammenhang einbetten lassen.74

Psychische Kausalität bzw. motivationale prädiktive Inferenzen bei kausalem Bruch auf lokaler Ebene. Rezipienten stellen motivationale prädiktive Inferenzen her, wenn ein Text kausale Brüche aufweist, provided the targeted inference is an action or event that is readily predictable from the text or the reader’s general knowledge base.75 Diese basieren auf planbezogenem Wissen, wie es von Schank und Abelson in den linguistischen Diskurs eingeführt wird.76 Der Rezipient konstruiert mental ein Handlungsziel, das es erlaubt, einen Relevanzbruch im Grice’schen Sinne zu überbrücken und dadurch einen Satz einerseits kausal einzubetten und andererseits dem Text Kohärenz zu verleihen.77 Kausale Brüche führen nach Broek sowie McKoon und Ratcliff zu Auflöseversuchen, die sich aus dem Vortext oder aus dem Weltwissen nähren.78 Nach Murray, Klin und Myers können kausale Brüche zu Vorwärtsinferenzen führen,

depending upon whether the cause of the focal event is to be found in something that has already taken place in the text, or in some future action or event that is highly predictable given the text and the reader’s general knowledge.79


(32) Willa was hungry. She took out the Michelin Guide.
(33) The angry waitress was totally fed up with all of the hassles of her job. When a rude customer criticized her, she lifted a plate of spaghetti above his head.
(34) Brad was wandering through a department store, looking for a present for his wife’s birthday. He wanted to find something special for her but he had been laid off from his job three month ago and he couldn’t afford to buy anything nice. In the jewelry department, he saw a beautiful ruby ring sitting in a display on the counter. He looked around to make sure no salespeople were watching. His wife would be thrilled by the ring but there was no way he could pay it. He had to have it. Seeing no salespeople or customers around, he quietly made his way closer to the counter.

(32) von Schank und Abelson lässt die planbasierte Inferenz zu, dass die im Folgesatz beschriebene Handlung dazu dient, ein gehobeneres Restaurant zu finden. Ohne diese inferentielle Verknüpfung würden die beiden Sätze dieses Textsegmentes keine sinnvolle Einheit ergeben.80 Während solche Analysen bei Schank und Abelson mit dem Ziel verbunden waren, textverstehende Computer zu programmieren, wurden solche Beispiele in psycholinguistischen Studien experimentell untersucht, um die Aktivitäten von Rezipienten bei der Verarbeitung von Texten näher zu bestimmen.

In (33) stellt der Rezipient die motivationale prädiktive Inferenz her, dass die Kellnerin beabsichtigt, dem Mann die Mahlzeit über den Kopf zu schütten. Das ergab eine experimentelle Studie, in der Versuchspersonen das Wort DUMP laut aussprechen sollten, nachdem sie entweder (33) gelesen haben oder eine Kontrollversion vorgelegt bekamen, bei der die Inferenz nicht hergestellt werden muss, um Kohärenz zu erlangen. Der erste Fall benötigte eine kürzere Zeit. Würde der Rezipient die Handlung des Teller-über-den-Kopf-Hebens nicht zu dieser aus dem Weltwissen hergestellten motivationalen prädiktiven Inferenz in Relation setzen, so gäbe es einen kausalen Bruch, die Handlung besäße keine kausale bzw. motivationale Relevanz.81

In (34) ist der Fall ähnlich gelagert. Der Rezipient konstruiert auf der Grundlage seines Weltwissens die motivationale prädiktive Inferenz, dass Brad den Ring stehlen möchte. Ohne diese Inferenz würde sich der auslösende Satz He quietly made his way closer to the counter (auch predictive sentence genannt) motivational nicht in eine kohärente Textweltrepräsentation integrieren lassen.82

Motivationale prädiktive Inferenzen nehmen eine Zwischenposition ein zwischen einer rein vergangenheits- und einer rein zukunftsbezogenen Inferenz. Einerseits gibt es eine motivationale Ursache andererseits eine Konsequenz, die als Einheit in der motivationalen prädiktiven Inferenz aufgehen. In (34) handelt es sich bei der vorausgesagten Handlung des Ringstehlens zugleich um einen (möglichen) Ausgang und um eine Motivation bzw. einen psychischen Grund.83

Einmal hergestellte motivationale prädiktive Inferenzen gehen nicht verloren, sie werden aufgenommen in das mentale Textweltmodell. Das ergaben experimentelle Studien, in denen Rezipienten erst nach einer zeitlichen Verzögerung zu einem Text befragt wurden. Häufig vermischten sie dabei explizit Geäußertes und Inferiertes, sie konnten diese Aspekte rückblickend nicht unterscheiden. Zusätzlich wurden Sätze im Nachtext eingefügt, die der motivationalen prädiktiven Inferenz kontradiktorisch gegenüber standen. Dies führte zu Verzögerungen bei der Lesezeit, was als Indikator für die Integration in die Textwelt interpretiert wird. Wäre die motivationale prädiktive Inferenz nicht in die mentale Repräsentation eingegangen, so hätten die Versuchsteilnehmer die inkonsistenten Sätze gelesen, ohne dass sich der Lesefluss verlangsamt.84

Textweltrelevanz versus Textproduktionsrelevanz. Die beiden vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, dass Relevanzbrüche den Rezipienten dazu veranlassen, prädiktive Inferenzen auf der Handlungs- und auf der Ereignisebene herzustellen. Beide Typen werden in die mentale Textwelt integriert und dienen dazu, die Repräsentation vor Kohärenzbrüchen zu schützen. Auf der Ereignisebene haben dies Magliano, Dijkstra und Zwaan nachgewiesen, auf der Ebene der motivationalen Kausalität haben dies Klin u.a. gezeigt.85

Schaut man sich die relevanzgestützten prädiktiven Inferenzen an, so stellt man einen Unterschied zwischen den ereignis- und handlungsbezogenen fest. Bei motivationalen prädiktiven Inferenzen liegt der Bruch auf der Handlungsebene. Ohne die erklärende inferierte Motivation ließe sich die Handlung einer Figur nicht sinnvoll einbetten. Den Bruch mit Relevanzerwägungen würde der Rezipient der Figur zuschreiben. Er würde keinen Sinn in der Handlung der Figur finden.86 Anders verhält es sich im Fall der prädiktiven Inferenzen auf Ereignisebene. Obwohl dieser Typ sich auf das mentale Textweltmodell bezieht, liegt der Bruch auf der Ebene der Textproduktion. Erweist sich eine anomale Information im weiteren Verlauf eines Textes als irrelevant, so würde dies der Ebene des Textproduzenten zugeschrieben werden.87 Würde zwischen dem Zirkuszelt und dem fallenden Beißer in (31) zunächst durch Montage hin- und hergewechselt werden und dann fällt er auf irgendein Waldstück und stirbt, so würde der Rezipient die Kompetenz des Textproduzenten anzweifeln. In einem Monty Python Film könnte man sich eine solche irrelevante Information als humoristisches Element vorstellen – nicht aber in einem Film, der den Anschein zu erwecken versucht, die Kausalität zumindest in ihren Grundzügen zu respektieren, auch wenn die Gesetze der Gravitation nicht immer ganz penibel beachtet werden.

 

Als Unterscheidungskriterium gilt also der Relevanzbereich. Je nachdem, ob es sich um Relevanz auf der Ebene der Textwelt oder auf der Ebene der Textproduktion (in der Literaturwissenschaft auch Narration genannt) handelt, stellt sich der Leser unterschiedliche Fragen. Anomalien auf der Handlungsebene, die durch motivationale prädiktive Inferenzen überbrückt werden, basieren auf der Frage, warum eine Figur etwas tut bzw. warum eine Figur so handelt, wie im Text beschrieben. Sie führen nicht zu der Frage, welche Rolle die gegebene Information spielen bzw. warum der Autor diese Informationen im Text bereitstellt, was bei relevanzbasierten prädiktiven Inferenzen auf der Ereignisebene der Fall ist.

Damit ist auch die von Magliano, Dijkstra und Zwaan postulierte Charakterisierung zu relativieren, die besagt, dass Anomalien (bzw. Relevanzbrüche) auf Erzählebene und Handlungsebene zu der pragmatischen Frage führen, warum ein Autor etwas schreibt, wobei es sich bei der beantwortenden Inferenz im einen Fall um eine motivationale prädiktive Inferenz und im zweiten Fall um eine ereignisbezogene prädiktive Inferenz handelt.88 Die Frage danach, warum der Autor etwas schreibt, gilt also nur im Fall einer prädiktiven Inferenz auf Ereignisebene. Er gilt nicht für beide Fälle, so wie die Autoren es proklamieren.

4.2.4 Globale psychische Kausalität: Ziele und Handlungen

Hintergrundwissen über Ziele. Ein Ziel ist etwas, das eine Figur durch eine Handlung zu erreichen versucht, wobei der Rezipient dabei Intentionalität unterstellt. Sollte das Ziel erst erreicht werden können, wenn zuvor andere Schritte vollzogen wurden, so handelt es sich bei dem finalen Ziel um ein übergeordnetes Ziel, bei den vorausgehenden Zielen handelt es sich um untergeordnete Ziele.89 Mehrere Handlungen, die auf das Erreichen eines Ziels abzielen, nennen Schank und Abelson Plan. Um zum Beispiel ein Haus zu kaufen, bedarf es verschiedener standardisierter Teilschritte. Der Interessent sucht sich einen Makler, wählt die passende Immobilie aus und nimmt eine Hypothek auf.90 Auf diese Weise lässt sich bei mehreren in Abhängigkeit stehenden Zielen eine Zielhierarchie ausmachen. Ob ein Ziel als über- oder untergeordnet einzustufen ist, hängt von seiner Position in der Zielhierarchie ab. Es ist also eine relationale Bestimmung, die erlaubt, dass auch untergeordnete Ziele einen übergeordneten Status besitzen können, wenn dem Erreichen eine Reihe weiterer untergeordneter Ziele vorausgehen.91 Nicht alle Ziele können oder müssen zwangsläufig erreicht werden. Schank und Abelson zufolge können Ziele auch kurz- oder langfristig auf Eis gelegt werden, sie können vollständig fallen gelassen werden und Versuche, sie zu erreichen, können scheitern. Im letzten Fall können sie durch alternative Ziele abgelöst werden.92 Daneben unterscheiden Schank und Abelson zwischen verschiedenen Abstraktionsgraden von Zielen. Sie grenzen konkrete Ziele wie den Wunsch, einen bestimmten Gegenstand zu besitzen, von abstrakten Zielen ab wie dem Wunsch, sich einen unterhaltsamen Abend zu machen. Abstrakte Ziele können spezifiert werden durch konkretere Ziele. Im Falle der Abendplanung könnte es sich dabei zum Beispiel um einen Besuch im Theater oder um den Besuch eines Konzertes handeln.93 Bei der Textrezeption kommt dieses ziel- und handlungsbezogene Wissen auf verschiedene Weisen zum Tragen.

Zielinstantiierung.


(35) The Czar and His Daughters Once there was a Czar who had three lovely daughters. One day the three daughters went walking in the woods. There were enjoying themselves so much that they forgot the time and stayed too long. A dragon kidnapped the three daughters. As they were being dragged off, the daughters cried. Three heroes heard the cries and set off to rescue the daughters. The heroes came and fought the dragon and rescued the maidens. When the Czar heard of the rescue, he rewarded the heroes.

Der Rezipient konstruiert übergeordnete Ziele, wenn Handlungen im Text beschrieben werden.94 Wenn der Leser (35g) liest, konstruiert er auf der Grundlage seines Wissens ein Bestreben des Drachen – nämlich, dass dieser beabsichtigt, die Töchter zu verspeisen.95 Dass das rezipientenseitige Hintergrundwissen über Pläne und deren Realisierung es auch erlaubt, komplexere Texte zu verarbeiten, zeigt das folgende Beispiel.


(36) Professor Stifle came to town to buy a house. He hoped to find an old Colonial in North Parch for under $ 60,000. He asked around for a good real estate agent, and was referred to Hustle, Inc. Mr. Hustle told him that nothing in North Parch was available for under $ 75,000 so Stifle asked him to look in South Parch. Meanwhile, one of the professor’s new colleagues mentioned a good buy available in Scrimpover. Stifle liked it, but before he had a chance to check the mortgage possibilities, he received an urgent call that his mother was seriously ill, and he had to leave town. When he returned, the Scrimpover house had been sold. Stifle decided to live in an apartment in the center of town. He sent for his housekeeper and his dog.

Im Text (36) von Schank und Abelson inferiert der Leser auf der Basis von (36a) wissensbasiert das abstraktere Ziel, dass Professor Stifle sich in der Stadt niederlassen möchte. In (36b) wird das Ziel näher bestimmt (Goal Specification), der Professor sucht ein Haus im Kolonialstil, in einer bestimmten Lage und in einem bestimmten Preissegment. Da diese Faktoren sich nicht gleichzeitig realisieren lassen, muss er seine Ansprüche herunterschrauben und ein alternatives Ziel definieren (es findet eine Goal Substitution durch eine angepasste Goal Specification statt). So lässt er nach und nach seine Auswahlkriterien fallen, bis er am Ende in eine Wohnung in der Stadtmitte zieht, wie es in (36d) beschrieben wird. Seine Anfragen, seine abschließende Entscheidung und die damit verbundene Abweichung vom ursprünglichen Ziel ließen sich nicht in ein kohärentes Textweltmodell einbetten, ohne dass der Rezipient das abstraktere Ziel des Niederlassens inferiert und ohne dass er die Zwischenschritte als Spezifizierungen und Substitutierungen erkennt und auf das abstraktere Ziel bezieht. Auch, dass er beim zwischengelagerten Anruf in (36c) die Suche nach einem passenden Haus vorläufig auf Eis legt (Goal Suspension), lässt sich nur erklären, wenn der Rezipient inferiert, dass Stifle das Ziel hat, die Mutter zu unterstützen und diesem eine höhere Priorität einräumt als dem zuvor verfolgten Ziel.96

Mentale Verknüpfung von Zielen und Handlungen. Ein konkretes Ziel kann explizit eingeführt werden durch Ausdrücke wie in order to, wanted to oder decided to, durch eine Infinitivkonstruktion wie to win oder durch Präpositionalphrasen wie for food, die einen finalen Charakter besitzen.97 Beschriebene Handlungen aus Folgesätzen werden mit diesem zuvor eingeführten Ziel verknüpft und als Versuche interpretiert, das Ziel zu erreichen.98 Dieser mentale Prozess basiert Schank und Abelson zufolge auf Wissen über Handlungspläne und -abläufe – vorausgesetzt, dass sich eine Handlung und ein (Teil-) Ziel dem Planwissen entsprechend als adäquat erweisen.99


(37) John wanted to become king. He went to get some arsenic.

In (37) von Schank und Abelson werden die Sätze (37a) und (37b) in eine Beziehung gesetzt. Die Handlung in (37b) wird interpretiert als Mittel, dass zuvor textuell in (37a) mit wanted to etablierte Ziel zu erreichen. Dazu muss der Rezipient unter anderem auf sein Wissen zurückgreifen, dass es in der Regel genau einen König gibt und dass erst im Todesfall ein neuer gekrönt wird.100 Wenn der Rezipient die in (37b) beschriebene Handlung nicht auf ein Ziel bezogen interpretiert, würde das Satzpaar (37) keine sinnvolle Einheit bilden.101


(38) John wanted Mary’s book. He asked her for it and she refused. He said he would hit her if she did’t [sic!] give it to him. She still said no. Finally he hit her in the head and took the book.

In (38) von Schank und Abelson wird im ersten Satz das konkrete Ziel von John formuliert. Die anschließenden Sätze beschreiben verschiedene Versuche, dieses zu realisieren. Während die ersten Versuche scheitern, kann er durch eine gewalttätige Aneignung letztendlich sein Ziel durchsetzen. Dass es sich bei den anschließenden Sätzen um Versuche handelt, sein Ziel zu erreichen, ist ein inferentieller Beitrag des Rezipienten, der darauf abzielt, die Sätze in ein kohärentes Textweltmodell zu überführen. Im Unterschied zu (36) dient in (38) ein konkretes Ziel als globaler inferentieller Bezugspunkt.102 Trabasso und Suh zeigen in einer experimentellen Studie, dass ein Text unterschiedlich verarbeitet wird, je nachdem, ob ein Ziel erreicht ist oder ob bisherige Versuche gescheitert sind.


(39) Betty wanted to give her mother a present. She went to the department store. i. She found out that everything was too expensive. ii. She bought her mother a purse. Betty decided to knot a sweater.

(39) von Trabasso und Suh zeigt, dass der Satz (39d) nur im Kontext (39c-i) auf das in (39a) formulierte Ziel bezogen wird. Im alternativen Kontext (39c-ii) ist dies nicht der Fall, da das Ziel bereits erfüllt ist. Es handelt sich bei der textverbindenden Variante um eine globale Inferenz, die es erlaubt, Sätze zu verknüpfen, die durch zwischenliegendes Diskursmaterial getrennt sind.103

Die Verarbeitung von gescheiterten Versuchen und Zielhierarchien.


(40) Once there was a boy named Jimmy. One day, Jimmy saw his friend, Tom, riding a new bike. Jimmy wanted to have a new bike. He spoke to his mother. i. His mother bought him a bike. [Sequential Version] ii. His mother refused to get a bike for him. [Hierarchichal Version] Jimmy was very sad. His mother told him that he should have his own savings. Jimmy wanted to earn some money. He asked for a job at a grocery store. He made deliveries for the grocery store. He earned a lot of money. He went to a department store. He walked to the second floor. i. He bought a new basketball. [Sequential Version] ii. He bought a new bike. [Hierarchichal Version]

Text (40) von Suh und Trabasso diente als Grundlage für ein psycholinguistisches Experiment an zwei Versuchsgruppen. Die erste Gruppe erhält eine Version, die bei den Sätzen (40e) und (40n) jeweils die i-Version beinhaltet. Die zweite Gruppe erhält eine Version, die ausschließlich die Sätze der ii-Version beinhalten.

 

In den Fällen, in denen Versuchspersonen mit (40e-i) konfrontiert wurden, wurden die Sätze des Folgetexts nicht zu (40c) in Relation gesetzt, weil das in (40c) explizit eingeführte Ziel bereits erfüllt ist, dieser Fall repliziert (39).104

Die Versuchspersonen, die mit der Version (40e-ii) und (40n-ii) konfrontiert wurden, haben die in den Anschlusssätzen formulierten Handlungen an das in (40h) explizit geäußerte Subziel und letztendlich an das übergeordnete Ziel aus (40c) geknüpft, was ihr Wissen über Ziele und Handlungen ermöglichte.105

Suh und Trabasso leiten generalisierend daraus ab, dass Folgehandlungen als weitere Versuche interpretiert werden, das Ziel zu erreichen, wenn die im Text beschriebene Handlung nicht zum gewünschten Ergebnis führt wie in (40e-ii) (failed outcome). Dieser Interpretationsprozess setzt sich so lange fort, bis das finale Ziel erreicht ist.106

Bei übergeordneten Zielen, die durch das Erreichen untergeordneter, dem Rezipienten bekannter Ziele realisiert werden, werden Ziele und Figurenhandlungen hinsichtlich der jeweiligen Hierarchiestufe interpretatorisch verarbeitet. So werden bei mehreren Subzielen die Handlungen als Versuche gewertet, das jeweilige Subziel zu erreichen. Zum Beispiel hatte Jimmy das Ziel, Geld zu verdienen, wie es (40h) beschreibt. Dazu haben Versuchspersonen die in (40i) beschriebene Jobsuche und das in (40j) beschriebene Ausliefern unspezifizierter Waren in Bezug gesetzt. Sobald die Subziele auf einer Ebene erreicht werden (zum Beispiel, als er viel Geld verdient hatte, wie es (40k) darstellt), werden die Folgehandlungen nicht mehr in Bezug auf diese interpretiert, sondern hinsichtlich der nächst höheren Zielebene. Ziele dienen also auf allen Ebenen als inferentieller Bezugspunkt.107

Wichtig ist, dass es sich bei diesen verknüpfenden Inferenzen um globale Prozesse handelt. Sie verbinden kognitive Einheiten, zwischen denen mehrere Sätze liegen. Diese globalen Inferenzen werden hergestellt, sobald ein Subziel eingeführt wird (zwischen (40c) und (40h) liegen vier Sätze) und sobald ein Subziel erfüllt ist. Im zweiten Fall überspannt die Inferenz eine größere Menge an Sätzen (zwischen (40c) und (40l) liegen acht Sätze) und verknüpft damit neu beschriebene Handlungen mit dem initialen Ziel. Sich daran anschließende Handlungen werden als Versuch interpretiert, das nächste Subziel zu erreichen – oder falls kein weiteres Subziel vorhanden ist, werden sie auf das höher liegende Ziel bezogen, hier das Hauptziel des Fahrrad-Besitzens (40c). Sobald das Hauptziel erreicht ist, werden Folgeaktionen nicht mehr in Relation dazu gesetzt.108

Superordinierte Zielinferenzen unterstützen die Kohärenz eines Textes auf der globalen Ebene, da sie Abschnitte mit verschiedener, zum Teil umfangreicherer textueller Extension verbinden. Zugleich leistet der Rezipient eine aktive Verknüpfung von Informationen, die aus weit verstreuten bzw. nicht aneinander angrenzenden Sätzen stammen. Dadurch stellt er Kohärenz auf einer globaleren Ebene her – ein konstruktiver Akt, den Suh und Trabasso als fundamental beim Verstehen von Texten ansehen und daran ein alternatives Textverstehensmodell knüpfen.109 (Siehe auch den Abschnitt 5.3.).

Nach Dopkins werden superordinierte Zielinferenzen in der Form Er hat x gemacht, um y zu erreichen in die mentale Repräsentation integriert.110 Wenn superordinierte Ziele aus dem Fokus geraten, können sie anschließend reinstantiiert werden, was sich positiv auf die Kohärenz eines Textes auswirkt.111

Komplexe Ziele. Unter dem Stichwort komplexe Ziele (bzw. englisch complex goals) behandeln Richards und Singer sowie Singer und Richards eine Variante von Zielhierarchien. Statt einer Figur mit einem Hauptziel und dahin führenden Teilschritten wie in der Jimmy Story in (40) müssen zwei Figuren jeweils selbstständig einen untergeordneten Teilschritt erfolgreich durchführen, bevor sie ein gemeinsames Ziel erreichen können. Auch in diesem Fall zusammenspielender Teilschritte konnte gezeigt werden, dass Rezipienten globale Inferenzen herstellen.112


(41) Common goal: They [Greg and Pam] decided to get together at McDonald’s at 12:30. Subgoal 1: To make it on time he had to catch the noon bus. He jumped onto the bus. (succeed) The bus door slammed in his face as it was pulling away. (fail) Subgoal 2: At 11:00 a.m., Pam’s boss asked her to type his year-end report for him. She was worried that she could not finish it before lunch. Surprisingly, she completed it just before lunch. Pam handed in her report and left the office. Target: At 12:30, Pam entered McDonald’s.

In (41) von Richards und Singer (und bei Singer und Richards wiederverwendet) möchten sich zwei Figuren um 12.30 Uhr bei McDonalds treffen, was unter dem Punkt Common goal explizit etabliert wird. Dazu muss eine Figur einen Bus um eine bestimmte Zeit nehmen. Dieser unter Subgoal 1 beschriebene Teilschritt kommt in der erfolgreichen Variante (41a) und in alternativen, gescheiterten Variante (41b) vor. Anschließend wird unter Subgoal 2 der Teilschritt der zweiten Figur beschrieben. Sie muss rechtzeitig einen Jahresabschlussbericht für ihren Boss verfassen, andernfalls kann sie das Büro nicht verlassen. Dieser Versuch wird ausschließlich in einer erfolgreichen Variante beschrieben.113

Beim Target-Satz, in dem die Frau das Schnellrestaurant betritt und damit den ihr möglichen Teil des Ziels erfüllt, wurde die Lesezeit gemessen und die Reaktionsgeschwindigkeit auf Stichwörter getestet. Anhand der Ergebnisse konnten Richards und Singer sowie Singer und Richards zeigen, dass Rezipienten solche komplexen Zielkonstellationen nachvollziehen können, bei denen zwischen dem gemeinsamen übergeordneten Ziel und selbstständigen Teilzielen ein globaler Zusammenhang hergestellt werden muss.114

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