Spannung und Textverstehen

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4.1 Wörter evozieren Frames

Kommunikativ geäußerte Zeichen sind […] Orientierungspunkte, die stets in einem vordefinierten, meist schon vorhandenen epistemischen Raum situiert werden. Sie sind Anlässe für einen Verstehenden, die Bedeutung der Äußerung durch Bezugsetzung zu seinem Wissen selbst aufzubauen. Aus diesem Grund ist Inferenzziehung nicht das Scheidekriterium zwischen Sprachverstehen und außersprachlichem Verstehen, sondern konstitutiv für jedes Zeichenverstehen und damit das Sprachverstehen schlechthin.12

Bei der Beschreibung der Wortbedeutung richten sich Vertreter kognitiver (Semantik-) Theorien gegen einen semantischen Reduktionismus, der

 bestreitet, dass Bedeutung auch enzyklopädische Bedeutungsanteile umfasst bzw. dass bei der Bedeutungsbeschreibung das gesamte verstehensrelevante Wissen mit einbezogen werden muss.13

 Bedeutung als kontextinvariant und damit als frei von mentalen Aktivitäten ansieht.14

Moderne linguistische Theorien gehen davon aus, dass es in einer Kommunikationssituation textuelle Hinweise (englisch cues) gibt, die der Rezipient als Anhaltspunkte nutzt, verschiedene inferentielle Prozesse zu bemühen. Sprachliche Zeichen dienen unter anderem als Hinweis, bedeutungskonstituierende Inferenzen auf der Wortebene herzustellen.15 Diese basieren unter anderem auf der Wahl, Aktivierung und Perspektivierung von Wissensrahmen und ergeben sich im sprachlichen Ko(n)text, was Fillmore auf die fundamentale Formel bringt Wörter evozieren Frames.16

Enzyklopädische Semantik17: Sprach- und Weltwissen. Kognitionslinguistische Semantikmodelle gehen davon aus, dass eine Unterscheidung in Sprach- und Weltwissen nur eine rudimentäre Bedeutungsbeschreibung zuließe. Damit befreit sich diese semantische Richtung unter anderem von Submodularisierungstendenzen, die von der generativen Grammatik inspiriert wurden18 und die sich in einer Vielzahl von Ansätzen niedergeschlagen haben. Darunter fallen einerseits das Zwei-Ebenen-Modell von Bierwisch 1983 mit einer sprachlichen und einer konzeptuellen Ebene.19 Andererseits zählt dazu das Drei-Ebenen-Modell, das von Bierwisch 1979 stammt, das im Vergleich zu den beiden zuletzt genannten Ebenen über einen dritten Bereich des kommunikativen Sinns verfügt und das zum Beispiel von Schwarz-Friesel präferiert wird.20

In einer kognitionslinguistischen Semantikkonzeption steht im Mittelpunkt, welche Wissenselemente benötigt werden, um ein Wort zu verstehen.

[T]here are larger cognitive structures capable of providing a new layer of semantic role notions in terms of which whole domains of vocabulary could be semantically characterized.21

Damit realisiert Fillmore eine holistische Position, die Busse auch als nicht-reduktionistisch beschreibt.22 Fillmore schreibt dazu ganz explizit: I see no particular advantage in separating out one part of this as strictly semantics and another part as something else.23 Bei der Beschreibung der lexikalischen Bedeutung müssen alle Wissenselemente berücksichtigt werden. Das gilt unabhängig davon, ob diese aus den Bereichen des Sprach- oder Weltwissens stammen – eine Unterscheidung, die sich inzwischen als antiquiert erwiesen hat. Diesen Ansätzen zufolge aktivieren Ausdrücke oder Ausdrucksketten komplexe Wissensrahmen.24

I regard semantics as a kind of process. Speakers have certain schemata associated with the words they know; semantics is the study of how people use these schemata in constructing their understanding of sentences.25

Die Aufgabe des kognitiven Linguisten besteht dann unter anderem darin, das konzeptuelle System zu untersuchen sowie die Art und Weise, in der Bedeutung prozedural konstruiert wird.26 Dabei muss er einerseits berücksichtigen, dass das konzeptuelle System lexikalisch nicht vollständig abgedeckt ist. Im Englischen gibt es Langacker zufolge keinen Ausdruck für jenen Bereich des Kopfes, in dem ein Oberlippenbart wächst.27 Andererseits muss er berücksichtigen, dass enzyklopädische Komponenten von Entwicklungen in der als real konstruierten Welt berührt werden. So kann eine Veränderung in der Welt zu einer Neuerung in der Sprache führen, was gegen eine stabile Bedeutung und damit auch gegen systemlinguistische Überlegungen spricht.28 Im Umkehrschluss erlaubt der aktuelle Wortbestand einer Gesellschaft Rückschlüsse auf deren gegenwärtige Praktiken und Zustände.

With respect to word meanings, frame semantic research can be thought of as the effort to understand what reason a speech community might have found for creating the category represented by the word, and to explain the word’s meaning by presenting and clarifying that reason.29

Ein Wort wie Vegetarier ist Fillmore zufolge nur in einer Gesellschaft relevant und denkbar, in der nicht alle Mitglieder ausschließlich und vorsätzlich pflanzliche Produkte verzehren. In einer Gesellschaft, in der dieses Konsumverhalten ohnehin gilt, wäre das Wort in dieser Lesart überflüssig.30

Invozierende Akte.

By the term ’frame‘ I have in mind any system of concepts related in such a way that to understand any one of them you have to understand the whole structure in which it fits; when one of the things in such a structure is introduced into a text, or into a conversation, all of the others are automatically made available.31


(12)

Neben der Aktivierung von verstehensrelevantem Hintergrundwissen beschreibt Fillmore eine weitere kognitive Operation beim Textverstehen: den invozierenden Akt. Die Darstellung basiert auf einem Beispiel, das Fillmore sich in der leicht abgewandelten Form (12) von Minsky ausleiht. Um Kohärenz zu etablieren, instantiiert der Rezipient einen allgemeineren Rahmen, der mehrere Informationen aus einem Text integriert, die jeweils für sich genommen diesen übergeordneten Rahmen mit seinen spezifischen Standardannahmen und Leerstellen nicht evoziert hätten. (12) aktiviert einen allgemeinen PARTY-Rahmen, der durch she wondered if he would like a hinsichtlich der Art vorspezifiziert wird, es handelt sich um einen Geburtstag. Die Art des Geschenks (kite) lässt weitere Schlüsse zu, sodass KINDERGEBURTSTAG die vorläufige Endspezifizierung hinsichtlich der Art der Feier und des Alters von Jack darstellt. Isoliert betrachtet hätten die Wörter party, she wondered if he would like a und kite den übergeordneten Rahmen nicht aktiviert.33

Die psycholinguistische Unterscheidung in Explizites und Implizites. In der psycholinguistischen und kognitionslinguistischen Textverstehenstheorie wird häufig mit einer Unterscheidung in explizit und implizit im Text Enthaltenes operiert.

The textbase provides a shallow representation of the explicit text but does not go the distance in capturing the deeper meaning of the text. Deeper meaning is achieved by computing a referential specification […]. Deeper comprehension is achieved when the reader constructs causes and motives that explain why events and actions occurred.34

Ziem zufolge verliert die hier angebotene Dichotomie in Explizites und Implizites ihr Fundament, sobald sich – wie oben gezeigt – eine der beiden Bestandteile als eine linguistisch inadäquate Beschreibungsebene erweist. Wenn es keine explizite Bedeutung gibt, kann es auch keine Explizit-Implizit-Unterscheidung geben.35

Aus dieser Analyse könnte fälschlicherweise geschlossen werden, dass alles Implizite in den Bereich der bedeutungskonstituierenden Inferenzen auf Wortebene fällt bzw. dass es sich bei Inferenzen um eine homogene Klasse handelt.

Dem Zitat von Graesser, Singer und Trabasso zufolge umfasst der implizite Anteil auch kausale Relationen zwischen Handlungen und Ereignissen.


(13) Die Frau fällt aus dem 14. Stockwerk.

Sollte eine Analyse das Implizite auf inferierte Wortbedeutungen reduzieren, so müsste die inferierte Konsequenz, dass die Frau in (13) von McKoon und Ratcliff sterben wird, sich auf eine der Konstituenten zurückführen lassen. Diese konzeptuelle Anreicherung müsste also dem Ausdruck die Frau, fällt oder aus dem 14. Stockwerk zugerechnet werden. Einerseits sollte es kompliziert sein, die entsprechende Konstituente eindeutig zu bestimmen. Andererseits würde das Konstrukt Wortbedeutung beliebig werden, würden diese impliziten Anteile einem lexikalischen Element zugerechnet werden. Denn jedem Ausdruck könnte durch variierende Einbettung eine beliebige Bedeutung verliehen werden.


(14) The child stuck the balloon with the pin, the balloon burst.
(15) Jimmy wanted to have a new bike. He spoke to his mother.
(16) The salesman was sitting in the dining car of a train. The waitress brought a bowl of soup to the table. Suddenly, the train slowed to halt. The salesman jumped up and wiped off his pants.

Noch problematischer wird es in komplexeren Fällen wie in (14) bis (16). Dann nämlich, wenn eine solche Inferenz nicht mehr aus einem einzelnen Satz abgeleitet werden kann bzw. wenn sie sich transphrastisch, also über die Satzgrenze hinaus ergibt. In (14) von Singer und Ferreira konstruiert der Rezipient, dass der zweite Satz eine Konsequenz der im ersten Satz formulierten Handlung beschreibt.36 In (15) von Suh und Trabasso stellt der Rezipient die Inferenz her, dass Jimmy seine Mutter nach Geld fragt, um ein Fahrrad zu kaufen. Ein im ersten Satz formuliertes Ziel wird inferentiell auf eine im zweiten Satz beschriebene Handlung bezogen und dabei als ein Versuch interpretiert, dieses zuvor eingeführte Ziel zu erreichen.37 In (16) von Fincher-Kiefer ergibt sich die Inferenz, dass die Suppe über den Handelsreisenden geschüttet wurde. Diese kausale Inferenz basiert auf der komplexen, mehrere Sätze überspannenden Passage.38 Weder die kausale Inferenz in (14) noch die Zweck-Mittel-Relation in (15) noch die Inferenz in (16) lassen sich auf die Bedeutung eines Wortes, Satzgliedes oder eines Satzes zurückführen. (Die Beispiele werden in Absatz 4.2.2 und Absatz 4.2.4 ausführlicher beschrieben. Die kompaktere Beschreibung an dieser Stelle sollte ausreichen, um zu zeigen, dass inferentielle Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen zum Tragen kommen.)

 

Da die Inferenzen, die sich aus (13) bis (16) ergeben, sich nicht auf eine Konstituente der jeweiligen Sätze verteilen lassen und damit nicht Teil der wörtlichen Bedeutung sind, bedarf es einer alternativen Lösung – einer Lösung, die statt an einer eindimensionalen Konzeption des Impliziten festzuhalten, zwischen verschiedenen Ebenen inferentieller Beiträge unterscheidet, von denen keine von einer ausgereiften Verstehenssemantik ignoriert werden darf.

Anstatt wie Ziem die Unterscheidung zwischen dem Expliziten und Impliziten vollständig aufzuheben, könnte daher auch ein alternativer Weg gewählt werden, der diesen Fehlschluss erst gar nicht zulässt. Man könnte den Begriff des Expliziten so präzisieren, dass man zu einer Bestimmung gelangt, die den Zeichentheoretiker und den kognitionsorientierten Linguisten gleichermaßen zufrieden stellt (beide können ja durchaus in genau einer Person auftreten).

Saussure zufolge handelt es sich bei einem Zeichen um eine mentale Größe, die aus Ausdrucksseite und Inhaltsseite besteht und die konventionsgestützt zusammengehalten wird.39 Die Inhaltsseite wird in kognitiv arbeitenden Teildisziplinen der Linguistik mit Wissensstrukturen gleichgesetzt.

Um die psycholinguistische Unterscheidung in Explizites und Inferiertes zu präzisieren, greift Busse auf eine Beschreibung zurück, die stark an die Bestimmung des Zeichens von Saussure erinnert, wobei er einen auf David K. Lewis basierenden Begriff der Konventionalität anwendet. Beim Expliziten handelt es sich um die konventionale Bedeutung eines Zeichens.40

Da es sich beim Expliziten um eine mentale Größe handelt, da diese im mentalen Lexikon des Rezipienten gespeichert ist und da diese beim Textverstehen abgerufen werden muss, muss unter dieser Zeichendefinition das Verstehen von Zeichen und Zeichenketten stets als eine mentale Aktivität begriffen werden. Demnach geht also jede sprachverarbeitende Operation auf mentale Prozesse zurück, von denen ein Teil für den Bereich des Expliziten konstitutiv ist und ein weiterer in den Bereich des Impliziten fällt.41 Busse spricht daher auch von verschiedene[n] kognitive[n] Modi des Aktivierens von verstehensrelevantem Wissen.42 Nimmt man zusätzlich an, dass der Bedeutungsaktualisierung die Bestimmung der entsprechenden konventionalen Bedeutung aus einem Pool von mehr oder weniger verwandten Lesarten vorausgeht, so sollten sich damit die bedeutungskonstituierenden Inferenzen auf Wortebene erfassen lassen.

Die mentale Operation der Auswahl und Aktivierung der adäquaten Einheit des mentalen Lexikons als bedeutungskonstituierende Inferenzen auf der Wortebene entspricht dieser Präzisierung nach also dem Expliziten.

Darüber hinaus kann es allerdings Inferenzen geben, die nicht ein einzelnes Wort ins Zentrum rücken, die also nicht bei der Konstitution der aktuellen Wortbedeutung involviert sind. Diese translexikalischen Inferenzen ergeben den Bereich des Impliziten und werden im Folgenden beschrieben.

4.2 Notwendige Inferenzen

Notwendige Inferenzen dienen dazu, Kohärenz in einem Text herzustellen. Auf der Grundlage von textuellen Signalen werden verschiedene Textelemente rezipientenseitig verbunden. Diese Text verbindenden Inferenzen basieren auf Wissen, das der Leser an den Text heranträgt.43 Das Wissen kann darüber hinaus während der Rezeption aufgebaut hat.44 Das Wissen kann sich als weltbezogen erweisen, es kann morphosyntaktische Eigenschaften betreffen und es kann pragmatische Aspekte der Textorganisation und -interpretation beinhalten. Verbunden werden textuelle Einheiten verschiedenen Umfangs. Zum Teil grenzen diese aneinander, zum Teil liegt Diskursmaterial dazwischen.

4.2.1 Direkte Anaphern

Bei dem ersten Typ Text verbindender Inferenzen werden einzelne Diskursreferenten mit einem referenzidentischen Ausdruck wieder aufgenommen. Der Ausdruck, der den Referenten einführt, wird Bezugsausdruck oder Antezedens genannt. Der wiederaufnehmende Ausdruck wird Anapher genannt, es handelt sich in der Regel um eine definite Nominalphrase. Der mentale Prozess, der Bezugsausdruck und Anapher verbindet, wird in Anlehnung an Clark Bridging genannt. Dazu bieten sich eine Reihe verschiedener Möglichkeiten an.


(17) Ein Mann kauft ein Auto. Es ist schön.

(17) zeigt das klassische Beispiel der pronominalen Wiederaufnahme. Die Ausdrücke ein Mann und ein Auto dienen als potentielle Bezugsausdrücke. Die Bestimmung des Antezedens basiert auf der Numerus-Genus-Kongruenz zwischen dem Bezugsausdruck und Antezedens. So ist ein Auto das Antezedens von es.

Wenn mehrere konkurrierende Bezugsausdrücke mit einer pronominalen Anapher hinsichtlich Numerus und Genus kongruent sind, so genügen die morphosyntaktischen Eigenschaften alleine nicht, um die Relation herzustellen.45 Dann kommt dem Wissen eine Koreferenz konstituierende Funktion zu.


(18) Bill took his dog to the vet this morning. He injected him in the shoulder and he should be all right now.

In (18) von Marslen-Wilson, Levy und Tyler verfügt der erste Satz über die drei möglichen Antezedenten Bill, his dog und the vet. Der Rezipient liest im Anschlusssatz zwei Mal den Ausdruck he, der beim ersten Auftauchen wegen Informationen aus der textuellen Umgebung mit the vet verknüpft wird und beim zweiten Auftauchen wegen einer alternativen Einbettung mit his dog.46


(19) I think I’ll order a frozen margarita. I just love them.

Dass Bezugsausdruck und Anapher morphosyntaktisch nicht kongruent sein müssen, zeigt (19). Der Ausdruck frozen margarita etabliert statt ein spezifisches Einzelexemplars eine allgemeine Entität in der Textwelt. Die Numerus-Abweichung bewirkt keine Verarbeitungsprobleme bei der Rezeption.47 Sie wird sogar als natürlicher empfunden als in einer Version, in der das Pronomen ebenfalls im Singular steht, wie eine Studie von Oakhill u.a. zeigt.48

Neben der pronominalen Wiederaufnahme gibt es eine Reihe weiterer Möglichkeiten der anaphorischen Wiederaufnahme.


(20) Das Gold wurde von einem Drachen bewacht. Der Lindwurm tötete jeden, der sich näherte.
(21) Um die Ecke kam ein Auto. Das Fahrzeug prallte auf den Passanten.

In (20) wird der Antezedensausdruck ein Drachen durch das Synonym der Lindwurm wieder aufgenommen. In der Literatur finden sich auch die Möglichkeit, dass diskontinuierliche Ausdruckspaare als Antezedens oder Anapher dienen wie etwa Polizist und Hüter der Ordnung.49 Zum Teil können die Ausdrücke auch morphosyntaktisch divergieren. So könnte eine durch den Ausdruck ein Fernseher in die Diskurswelt eingeführte Entität im Folgesatz wieder aufgenommen werden durch ein im Genus nicht übereinstimmendes Wort wie Flimmerkiste.50 In (21) wird der Antezedensausdruck ein Auto durch das Hyperonym das Fahrzeug wieder aufgenommen.51 Garrod und Sanford zeigen, dass es sich um Antezedenten handeln muss, die als prototypische Vertreter des wiederaufnehmenden Oberbegriffs gelten. So kommt es zu einer langsameren Zuordnung zwischen dem Antezendens tank und der Anapher vehicle als zwischen bus und vehicle.52


(22) Gestern habe ich einen Vogel beim Nestbau beobachtet. Der Vogel war ganz klein.
(23) Albert Einstein hielt sich in seiner Jugend für eine Weile in Pavia auf. Der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie machte einmal eine Wanderung bis Genua.

In (22) wird die Koreferenzrelation durch einen ausdrucks- und inhaltsseitig identischen Ausdruck wieder aufgenommen, eine Form, die Rekurrenz genannt wird. Außer in wissenschaftlicher Fachliteratur verstößt diese präzisionsmaximierende Form der Wiederaufnahme gegen die ästhetische Anforderungen an einen Text.53 Bei der pragmatischen Substitution in (23) von Conte wird die Relation zwischen dem Antezedens Albert Einstein und der Anapher der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie auf der Basis von Weltwissen inferentiell etabliert.54

Bei Anaphern spielt der bestimmte Artikel eine wichtige Rolle. Mit dem wiederaufnehmenden Ausdruck (in (20) der Drachen, in (21) das Fahrzeug, in (22) der Vogel, in (23) der zukünftige Erfinder der Relativitätstheorie) tritt in der Regel der bestimmte Artikel auf, der signalisiert, dass eine Diskursentität bekannt ist (was die Vorerwähntheit im Text mit einschließt).55

4.2.2 Indirekte Anaphern und kausales Bridging

Indirekte Anaphern. Bei den oben beschriebenen Anaphern basieren die Bridging-Inferenzen auf morphosyntaktischen, semantischen und Weltwissenszusammenhängen. Zwischen Bezugsausdruck und Anapher besteht Referenzidentität.

In den folgenden Beispielen besteht zwischen beiden keine Koreferenz, weshalb sich in der Literatur auch der Begriff indirekte Anapher findet. Die Interpretation basiert auf einem einführenden Element aus dem vorangegangenen Text (Bezugsausdruck oder Anker (-Ausdruck)). Als Anker können nominale oder verbale Elemente gelten, genauso wie Sätze, einige Sätze umfassende Passagen und vollständige Absätze. Clark sowie Schwarz bestimmen verschiedene Relationen zwischen Bezugsausdruck und indirekter Anapher. Diese werden im Folgenden wiedergegeben und anschließend auf der Grundlage von Ziem in einem holistischen Ansatz unifiziert.


(24) The worker swept the floor. The broom was tattered.
(25) I looked into the room. The ceiling was very high.
(26) Der fünfjährige Buddy wird entführt. Die verzweifelte Mutter Sam erhält eine Lösegeldforderung über 50.000 Dollar. Polizei und FBI ermitteln erfolglos.

In (24) wird der Ausdruck the broom auf der Grundlage des Ankerverbs swepts mit dem ersten Satz verknüpft. Die Relation basiert auf der Instrument-Rolle, die Fillmore neben einigen anderen Rollen 1968 in den linguistischen Diskurs eingeführt hat.56 In (25) dient der nominale Ausdruck the room als Anker, zu dem die indirekte Anapher the ceiling durch eine Bridging-Inferenz in Bezug gesetzt wird. Während mit the ceiling ein im Weltwissen notwendiger Bestandteil eines Raums aufgenommen wird, könnte mit einem Ausdruck wie the windows im Folgesatz auch ein optional mit einem Raum verknüpftes Element aufgenommen.57 Schwarz zufolge handelt es sich in (25) meronymiebasierte Anaphern. In (26) werden mit dem verbalen Anker entführen eine Reihe von Diskursentitäten indirekt eingeführt, die durch die anaphorischen Ausdrücke Lösegeldforderung, Polizei und FBI aufgenommen werden.58

 

In Schwarz’ Argumentation basieren indirekte Anaphern einerseits auf semantischen Rolle, auf Schemata und auf Meronymie-Relationen .59

Anaphorische Prozesse verlaufen frame-basiert, und zwar maßgeblich über die Aktivierung von Standardwerten. Frames bilden ein Beschreibungsformat, mit dessen Hilfe sich Anaphorisierungen einheitlich explizieren lassen.60

Da in dieser Arbeit eine holistische Position favorisiert wird, werden diese Fälle in einen Typ wissensbasierter indirekter Anaphern überführt, was durch die Argumentation in dem Zitat von Ziem begründet wird. In den Beispielen (24) bis (26) wurden also jeweils wissensgestützte Default-Füllwerte anaphorisch realisiert, die damit einen kohärenzstiftenden Beitrag leisten.

Kausales Bridging. Eine zentrale Rolle in der Inferenzforschung nehmen die kausalen Bridging-Inferenzen ein, bei denen zwei aneinanderliegende Sätze inferentiell in eine kausale Relation gebracht werden. Kausale Bridging-Inferenzen ergeben sich wie die vorangegangenen indirekten Anaphern aus dem Weltwissen, sie basieren einerseits auf Ursache-Wirkung-Verhältnissen, bei denen kausale Relationen zwischen Ereignissen im Mittelpunkt stehen. Andererseits gibt es motivationale und psychologische Zusammenhänge, bei denen Rezipienten ihr Handlungswissen auf Figuren übertragen. Bei dieser Unterscheidung wird Kausalität auf der Ereignisebene von Kausalität auf der Handlungsebene abgegrenzt.61 Während bei Anaphern eine Verbindung auf der Basis einzelner Worte hergestellt wird, argumentieren die Autoren beim kausalen Bridging Satz-orientiert. So konstruiert der Rezipient eine kausale Verbindung zwischen einem neu einlaufenden und einem bereits eingeführten Satz. Indem der Rezipient kausale Relationen verschiedener Art zwischen zwei Sätzen konstruiert, kann er diese Sätze inferentiell überbrücken.


(27) John fell. What he wanted to do was scare Mary.
(28) Max had a black eye. It was Maxine who hit him.

Im Folgesatz von (27) handelt es sich um eine rezipientenseitig konstruierte psychische Ursache bzw. um ein Motiv, das die Anknüpfung an den vorhergegangenen Text erlaubt. In (28) inferiert der Rezipient den kausalen Zusammenhang, dass der Schlag zum blauen Auge geführt hat. Der Anschlusssatz wird als Ursache für den im ersten Satz etablierten Sachverhalt interpretiert.62 Der Rezipient ist also in der Lage, Sätze als Ursachen oder Konsequenz vorangegangener Textabschnitte zu interpretieren, die sich auf der Ereignis- oder Handlungsebene ansiedeln.


(29) The child stuck the balloon with the pin, the balloon burst.

In (29) von Singer und Ferreira wird ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Platzen des Ballons und der Handlung des Kindes inferiert. Das Stechen mit der Nadel dient als Ursache bzw. als kausales Antezedens, der zweite Teilsatz wird als Konsequenz interpretiert.63


(30) The salesman was sitting in the dining car of a train. The waitress brought a bowl of soup to the table. Suddenly, the train slowed to halt. The salesman jumped up and wiped off his pants.

In (30) handelt es sich um einen Fall der kausalen Bridging-Inferenz, der in mehrfacher Hinsicht komplexer ist. a) Während in den vorangegangenen Beispielen (27) bis (29) zwei ideas über ein kausales Verbindungsglied in eine kohärente Textweltrepräsentation integriert wurden, verlangt das Beispiel (30) eine aufwändigere Inferenzleistung. So beschreibt Fincher-Kiefer das Beispiel in Anlehnung an Singer und Ferreira so, dass der Leser ein zwischengelagertes Ereignis mit verbindendem Charakter konstruiert. Nämlich, dass die Suppe auf den Salesman verschüttet wurde.64 Dieses Phänomen wird in Singer/Ferreira (1983) das erste Mal beschrieben.65 Fincher-Kiefer nennt die Konstruktion eines solchen zwischengelagerten Kausalschritts mediating idea.66 Keenan, Baillet und Brown spricht auch von unterschiedlichen kausalen „Distanzen“ zwischen zwei Diskursentitäten.67 b) Der Rezipient inferiert, dass sowohl das Aufspringen als auch das Abwischen der Hose kausal auf die verschüttete Suppe zurückzuführen sind – also zwei Konsequenzen, die auf eine mediating idea zurückgehen.68

The text unit of investigation varies between researchers. Most adopt the main clause or sentence […] but the description of inferential processes applies regardless of the unit .69

c) Der überwiegenden Mehrheit der in diesem Teil vorgestellten Aspekte liegen Beispiele zugrunde, die auf der Satzebene operieren. In (30) erfolgt das kausale Bridging dagegen nicht zwischen zwei Sätzen. Stattdessen wird ein Satz kausal auf eine Textweltmodell bezogen, dem drei Sätze zugrunde liegen. Dass dieser Fall möglich ist, wird durch das Zitat von Broek, Beker und Oudega verbalisiert. Demnach dann die Verarbeitung von sprachlichen Einheiten verschiedener Komplexität von den gleichen mentalen Aktivitäten begleitet werden.