Sand und Asche

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9.

Als seine Zielperson den Schritt verlangsamte, stoppte auch Mats Müller ab. Schnell drehte er sich seitwärts und baute seine gedrungene Gestalt vor einem Schaufenster auf, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Blick nur scheinbar auf die Auslage, tatsächlich aber aus den Augenwinkeln weiterhin auf das Objekt seiner Observation gerichtet, das gerade die Zeitschriftenständer eines Kiosks betrachtete. Bis jetzt hatte ihn der Mann nicht bemerkt. Tja, gelernt war eben gelernt! Hauptsache unauffällig, das war die Devise. Sehen, ohne gesehen zu werden. Davon verstand er etwas.

Zwei kräftig gebaute Frauen blieben neben ihm stehen, die eine rechts, die andere links von ihm. Beide warfen ihm merkwürdige Blicke zu, fragend die eine, empört die andere. Und die eine rümpfte sogar die Nase, als beide weitergingen. Was sollte das denn? Unauffällig senkte er den Kopf noch etwas weiter und schnupperte in Richtung Achselhöhle. Sicher, seit zwei Tagen war er jetzt schon nicht mehr aus den Kleidern herausgekommen, aber war das vielleicht seine Schuld? Und so stark roch er nun auch wieder nicht, dass man es gleich auf zwei Schritt Entfernung wittern könnte.

Oder etwa doch? Er hatte mal irgendwo gelesen, dass die Nase nur fremde, unbekannte Gerüche ans Gehirn weitermeldete. Ein Relikt aus der menschlichen Frühgeschichte: Neues bedeutete entweder Beute oder Gefahr, also Angriff oder Flucht, fressen oder gefressen werden. Bekannte Gerüche waren weder vielversprechend noch gefährlich und wurden unterdrückt. Angeblich funktionierte das Riechorgan heute noch so. In dem Fall konnte es natürlich sein, dass er für andere Leute tatsächlich etwas raubtiermäßig …

Er schaute nach vorne, in das Schaufenster, vor dem er stand. Damenunterwäsche, Übergrößen. Aha, deswegen. Dann war das mit seinem Körpergeruch also wohl doch nicht so schlimm.

Der Mann, den er observierte, stand immer noch vor dem Kiosk, offenbar unschlüssig, welches Hochglanzmagazin er nun kaufen sollte. Mats Müller fragte sich, ob er seinen Standort wechseln sollte. Vielleicht gab es ja nebenan eine männergerechtere Auslage. Obwohl, was war in dieser Hinsicht gegen Damenunterwäsche einzuwenden?

Außerdem schien er ja nicht der einzige Mann zu sein, der sich für so etwas interessierte. Im Schaufensterglas sah er nämlich, dass sich gerade gleich zwei recht männlich aussehende Gestalten neben ihm aufbauten, die eine rechts, die andere links. Eine mittelgroß und schmächtig, die andere deutlich größer. Breitschultrig, massig, stoppelhaarig. Verdammt.

Hauptkommissar Stahnke legte seine schwere Linke auf Mats Müllers schmuddelige Trenchcoat-Schulter. »Thou art the man«, zischte er ihm ins Ohr.

»Was?« Der Privatdetektiv zuckte zusammen. »Wieso Sau?« Er schnüffelte erneut, dann protestierte er: »Ich muss … Sie dürfen doch nicht … meine Arbeit! Wissen Sie, ich bin gerade …«

»Wissen wir«, unterbrach ihn Stahnke knurrend. »Sie observieren gerade das arme Würstchen, das sich an dem Kiosk da vorne eine neue Wichsvorlage kauft. So plump, wie Sie das machen, weiß das doch jeder! Was hat der Typ denn Schlimmes getan? Seiner Schwiegermutter den Rasierapparat geklaut?«

»Eduard Münzberger, Prokurist bei Weise-Papier«, murmelte Kramer, während er seine Augen scheinbar nicht von einer hautfarbenen Korsage in Killerwalgröße lassen konnte. »Seine Schwiegermutter rasiert sich nicht. Wer die Frau schon mal gesehen hat, weiß das.«

»Ja, aber … wie können Sie … woher?« Mats Müller schnappte nach Luft.

»Da staunen Sie, was?« Stahnkes Hand rutschte abwärts und schob sich unter Müllers Ellbogen. »Wir sind eben Profis. Und als Profi müsste ich mal dringend mit Ihnen reden.«

»Das geht nicht! Was wird mit Münzberger?« Mats Müllers Augen waren kugelrund. Offenbar nicht nur aus Angst vor einer abgebrochenen Observation.

»Keine Sorge. Kollege Kramer übernimmt so lange«, flüsterte Stahnke. »Jede Wette, das merkt Ihr Objekt bestimmt nicht.«

»Höchstens, weil er sich plötzlich so unbeobachtet fühlt«, ergänzte Kramer. Sein Gesicht, das sich in der Schaufensterscheibe widerspiegelte, drückte nichts als heiligen Ernst aus. Stahnke beneidete seinen Kollegen sehr um diese Fähigkeit. Vermutlich hatte er so auch Venemas Büroleiterin dazu gebracht, Mats Müllers Namen herauszurücken.

Dann war Kramer plötzlich weg. Spurlos verschwunden. Noch so eine beneidenswerte Eigenschaft.

»Kommen Sie«, sagte Stahnke, »ich geb einen aus.« Er verstärkte seinen Ellbogengriff, ehe er ergänzte: »Einen Kaffee.«

Sie fanden einen freien Tisch vor einem der Eiscafés in der Mühlenstraße. Ein Glücksfall, denn obwohl es zwar schön sonnig, aber noch nicht so richtig sommerwarm war, waren überall die Freiluftsitzgelegenheiten schon sehr gut ausgelastet. Zum Grand Café oder zu den Schönen Aussichten wäre Stahnke nur ungern ausgewichen, denn zwischen Denkmalsplatz und Hafen wimmelte es am letzten Schultag vor den großen Ferien nur so von betrunkenen Schülern.

Mats Müller hantierte betont umständlich mit seinem Latte macchiato, als wollte er Zeit schinden. Nicht einmal das kann er geschickt verbergen, dachte Stahnke mehr mitleidig als geringschätzig. Er wusste, dass viele seiner ehemaligen Kollegen, die vom polizeilichen Stress und Frust irgendwann einmal die Nase voll gehabt hatten, heute als Objekt- oder Personenschützer oder eben als Private eye arbeiteten. Die wenigstens hatten diese Entscheidung aus Abenteuerlust gefällt; meist war ihnen gar nichts anderes übrig geblieben.

Dieser Müller freilich war ein Sonderfall. Er kam nicht aus dem Polizeidienst, sondern aus dem Strafvollzug. Schon nach wenigen Jahren in der JVA Oldenburg hatte ihn seine eigene Gier zu Fall gebracht. Seine Bestechlichkeit war ebenso legendär wie hemmungslos; gegen entsprechendes Entgelt war bei ihm praktisch alles zu bekommen. »Vorteilsnahme im Amt« nannten Juristen so etwas. Die aber waren in Mats Müllers Fall nicht zum Zuge gekommen. Die Oldenburger Kollegen hatten es vorgezogen, Müller durch energischen Druck zum Abschied zu bewegen, und ersparten es ihm damit, seine Laufbahn, die hinter Gittern begonnen hatte, auch hinter Gittern zu beenden.

Kaum zu fassen, dass einer wie Venema einen wie Müller engagierte, dachte Stahnke. Aber der Hinweis stammte aus sicherer Quelle.

Also brauchte auch nicht lange um den heißen Brei herumgeredet zu werden. »Sie haben im Auftrag des Reeders Kay-Uwe Venema dessen Tochter Stephanie observiert«, sagte Stahnke. »Sie wissen, dass Ihre berufliche Zulassung am seidenen Faden hängt. Uns liegen mindestens zwei Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs gegen Sie vor, die zwar beide von den Antragstellern zurückgezogen wurden, was uns aber natürlich nicht daran hindert, von Amts wegen tätig zu werden, wenn wir das für richtig halten. Sie werden mir also alles sagen, was Sie über diese Stephanie rausbekommen haben, und zwar gleich, und wenn Ihnen später noch etwas einfällt, dann eben auch später. Das, oder Sie sind raus aus dem Geschäft. Bedenkzeit entfällt. Los jetzt.«

Mats Müller setzte seine Tasse ab. Auch ohne den Milchschaum in seinen Bartstoppeln wäre er eine traurige Witzfigur gewesen. Immerhin aber schien er in der Lage zu sein, eine Entscheidung zu fällen.

»Venema leidet unter Paranoia, was seine Tochter betrifft«, sagte er leise. »So einer ist für unsereins eine Goldgrube. Jeder andere hätte schon nach einem ersten Bericht auf jede weitere Observation verzichtet. Aber der nicht. Alle paar Wochen klingelt der bei mir durch. Da fühlt man sich fast wie fest angestellt.«

»Kann mich gar nicht erinnern, nach Ihrem Befinden gefragt zu haben.«

Mats Müller ging mit keiner Miene auf Stahnkes Einwurf ein. »Stephanie ist ein echt sauberes Mädchen«, fuhr er fort. »Anständig, intelligent, gutes Benehmen, richtig nett. Allgemein beliebt. Altersgemäße Kontakte, auch viele davon. Aber wenige enge. Die habe ich alle überprüft. Ein Mädchen ist darunter, das Gras raucht, einer der Jungs hat schon mal geklaut, einer kloppt sich manchmal in Diskos herum. Kleinigkeiten, wenn Sie mich fragen. Und Stephanie weiß nicht einmal etwas davon. Sie trinkt auf Feten manchmal ein Glas Wein, und wenn andere betrunken sind oder bekifft, geht sie nach Hause.« Müller seufzte theatralisch: »Ich wollte, ich hätte so eine Tochter.«

Ich auch, dachte Stahnke. Laut sagte er: »Sie haben doch überhaupt keine Kinder.«

»Eben«, sagte Mats Müller. Mit Schwung leerte er sein Kaffeeglas. Eine blassbraune Perle blieb in seinem Mundwinkel hängen. Er schien es nicht zu bemerken.

»Nur in einem Punkt hat sie gelogen«, sagte er dann.

Stahnke hob auffordernd die Brauen.

»Sie hat einen Freund«, fuhr Mats Müller fort. »Seit gut zwei Monaten. Mit dem trifft sie sich regelmäßig. Ihr Vater weiß nichts davon.«

»Warum tut sie das?«, fragte Stahnke. »Ich meine, warum die Heimlichtuerei? Ist das Verhältnis zu ihrem Vater also doch nicht so vertrauensvoll?«

»Doch, ist es«, sagte Müller. »Fast schon unnormal eng, wenn man bedenkt, wie sich andere Mädels in diesem Alter so aufführen. Aber Papa Venema neigt zu hochgradiger Kontrolle. Einer wie er will alles bestimmen. Na, und es gibt eben Dinge, in die will man sich einfach nicht reinreden lassen.«

»Aber warum versteckt sie sich? Hat sie Angst vor einer Konfrontation?«

»Streit mag sie nicht, sie ist eher der ausgleichende Typ«, antwortete Müller. »Ob das aber der alleinige Grund ist, weiß ich nicht. Vielleicht muss sie sich auch selber erst noch über einiges klarwerden.«

»Wer ist dieser Typ, wie heißt er, wo wohnt er?« Stahnke fand, dass es Zeit für ein paar Fakten war.

»Vorname Lennert, Nachname unbekannt. Alter jenseits der zwanzig. Fährt einen getunten Golf, Wittmunder Nummer. Die kann ich Ihnen geben. Mehr weiß ich nicht.«

 

»Mehr wissen Sie nicht? Mann, machen Sie keine Hausaufgaben? Wofür bekommen Sie denn eigentlich Ihr Geld?«

»Dafür«, sagte Müller ruhig, »habe ich mein Geld nicht von Vater Venema bekommen. Sondern von der Tochter.« Er wich Stahnkes Blick nicht aus. »Was soll’s, Sie erfahren es ja sowieso. Damit spare ich Ihnen etwas Zeit. Natürlich können Sie mich jetzt bei Venema hochgehen lassen.« Mit einer schnellen Bewegung seiner Zungenspitze schleckte er sich den Kaffeetropfen aus dem Mundwinkel, so zielsicher, als hätte er die ganze Zeit um seine Existenz gewusst. »Aber überlegen Sie sich gut, wen und was Sie damit außerdem hochgehen lassen.«

Ratte bleibt Ratte, dachte Stahnke, während Müller die Wittmunder Autonummer auf ein Stück Serviette kritzelte. Nimmt Stephanies Beziehungs- und Familienglück als Geisel, gegen mich, und ich kann gar nichts machen. Drecksack. Aber egal, ein bisschen was haben wir wenigstens.

Er zückte sein Handy. Kramer war sofort dran.

»Münzberger ist jetzt im Erotischen Kaufhaus«, berichtete der Oberkommissar. »Gleich gegenüber vom Parteibüro der Grünen.«

Ich weiß, wo das ist, wollte Stahnke sagen, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. »Müller kommt jetzt«, sagte er knapp.

»Ist auch besser. Sonst habe ich nur noch die Wahl zwischen Lackstiefeln und Gesundheitslatschen«, sagte Kramer.

»Eins will ich mal klarstellen«, sagte Stahnke, nachdem er Mats Müller mit einer Handbewegung entlassen hatte. »Ehe du nicht über meine Witze lachst, lache ich auch nicht über deine.«

10.

Die schlanke junge Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber er konnte sie nicht richtig einordnen. Sie ihn offenbar auch nicht, denn sie hatte seinen Gruß nur flüchtig erwidert. Vielleicht hatte sie ihn sogar mit einem der Kofferträger verwechselt, die trugen ja auch weiße Mützen. Sogar mit mehr Recht als er, denn die Polizei war inzwischen längst mit dunkelblauen Uniformen und Kopfbedeckungen ausgestattet, so dunkelblau, dass sie schon schwarz aussahen. Dass der Oberkommissar seinen weißen Deckel einfach beibehalten hatte, war genau genommen eine Dienstpflichtverletzung. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, und bisher hatte sich niemand beschwert.

Nachdenklich schaute Lüppo Buss der hochgewachsenen Gestalt nach. Dann kam er drauf, an wen sie ihn erinnerte. Obwohl die Haarfarbe anders war. Vorletztes Jahr hatte er mit genau solch einer Schönheit zu tun gehabt, allerdings einer blonden.

Und die, so stand es heute in der Zeitung, war jetzt tot. Kaum zu fassen.

Das hübsche Mädchen damals war fast noch ein Kind gewesen, und Lüppo Buss hatte sich ein bisschen dafür geschämt, dass er sie attraktiv fand. Aber er stand nun einmal auf große Blondinen. Solche wie seine Nicole.

Er nahm die Mütze ab und strich sich durch die Haare. Natürlich war er nicht zum Inselbahnhof gekommen, um nach Frauen Ausschau zu halten. Da würde Nicole ihm auch schön etwas erzählen. Nein, Lüppo Buss war der Schüler wegen hier. Heute war letzter Schultag, da kamen die Festlandsschüler und Internatszöglinge aus dem Exil zurück, und abendliche Feten waren schon Tradition. Feten mit viel Alkohol und gelegentlich auch mit anderen Stimmungsmachern. Und ordentlich Randale und Bambule.

Im Amtsdeutsch hieß das Ruhestörung, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Tendenz alljährlich zunehmend. Lüppo Buss kannte seine Pappenheimer, die Rädelsführer ebenso wie die Mitläufer. Und so, wie es aussah, waren sie allesamt wieder da. Beste Voraussetzungen für eine unruhige Nacht.

Ein lautes Pfeifen kündigte die erneute Ankunft der Inselbahn an. Was, schon wieder? Der Oberkommissar schaute zur Uhr: Gerade zwanzig Minuten waren vergangen, seit der Zug seine Fahrgäste auf den Bahnsteig gespieen hatte. Dann kam er drauf: Klar, die Reederei hatte eine Vorfähre eingesetzt, weil zum Ferienbeginn in Niedersachsen mit besonderem Ansturm zu rechnen war. Dieses Schiff war einige Minuten vor dem eigentlichen Termin gefahren, was den Fahrgästen sicherlich gar nicht aufgefallen war. Der nächste Schwung Menschen, der jetzt gerade eintraf, bestand aus den Passagieren der regulären Fähre.

Eigentlich hatte Lüppo Buss genügend zu tun, trotzdem gönnte er sich noch ein paar Minuten, um das Touristengewühl an den Gepäckwagen und die Schlacht um die Koffer noch einmal zu genießen. Niemand schien bereit zu sein, zum Auftakt eines vermutlich mehrwöchigen Urlaubs auch nur fünf Minuten zu warten. Ellbogen wurden eingesetzt wie Rammböcke. Menschen, dachte Lüppo Buss, waren doch faszinierend. Jeder einzelne für sich war vernünftig und intelligent, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Aber Menschen in Massen waren schlimmer als eine Herde Rinder. Alles Rationale und Kultivierte fiel von ihnen ab wie eine dünne Lackschicht, die in großen Placken zu blättern beginnt, sobald der Untergrund in Bewegung kommt. Irgendwie peinlich für jeden Angehörigen dieser Gattung, aber auch immer wieder spannend.

Die Tatsache, dass beim Verladen des Gepäcks natürlich nicht zwischen Fähre und Vorfähre unterschieden worden war, verstärkte das Getümmel noch. Jedes der beiden Schiffe hatte seinen Anteil der Containerwagen an Bord genommen, ohne Rücksicht darauf, ob der Inhalt nun zu den jeweiligen Passagieren gehörte oder nicht. So hatte manch einer die scheinbar gewonnenen Minuten mit Warten auf seine Koffer verbracht. Andere dürften in dem Glauben, ihr Gepäck sei verloren gegangen, ganz hübsch in Panik geraten sein.

Natürlich hatte sich kein Reedereimitarbeiter die Mühe gemacht, die Passagiere über diese Möglichkeit aufzuklären. Die wollten vermutlich auch ihren Spaß haben, dachte Lüppo Buss.

Wenigstens kamen jetzt, da alle Containerwagen eingetroffen waren, alle Passagiere zu ihren Koffern. Auch die, die ihr Gepäck schon verloren geglaubt hatten. Und diejenigen, die sich bereits zu ihren Unterkünften aufgemacht hatten, nicht ohne schon von unterwegs per Handy Verlustmeldungen auf den Anrufbeantworter des Polizeibüros An der Kaapdüne zu sprechen, würden ihre Koffer nachgeliefert bekommen. Die Hoteliers und Vermieter kannten sich schließlich aus.

Ein hochgewachsener junger Mann in schwarzer Lederjacke schien sein Glück, doch noch zu seinem Koffer gekommen zu sein, gar nicht glauben zu können. Noch auf dem Bahnsteig öffnete er das Gepäckstück, um den Inhalt zu inspizieren. Er nahm sich richtig viel Zeit dafür, fand Lüppo Buss. Schließlich stapfte er dann doch noch in Richtung Ortsmitte davon, den Rollkoffer hinter sich herziehend.

Seufzend schloss sich der Oberkommissar ihm an. Erst mal zur Polizeistation gleich beim Wasserturm, die gegenstandslosen Kofferklau-Meldungen vom Anrufbeantworter löschen, und dann weiter im Text in Sachen Angela Adelmund. Bisher war jede einzelne Überprüfung im Sande verlaufen. Die Mutter der Toten war vor zwei Jahren verstorben, und einen Vater schien es nie gegeben zu haben. Blieb der angebliche Bruder – und von dem wusste überhaupt niemand irgendetwas. Angela, so hieß es, sei ein Einzelkind gewesen, und genau das stand auch in der Einwohnermeldekartei. Eine Tatsache, die ihnen die Arbeit nicht gerade erleichterte.

Jedenfalls war für den Rest des Tages für Beschäftigung gesorgt. Und für die halbe Nacht auch – in dieser Hinsicht war auf die Inseljugend Verlass. Wenn er Glück hatte, reichte die Zeit noch für ein Abendessen mit Nicole. Aber nicht einmal das war gewiss.

In solchen Momenten beneidete er doch die Urlauber, die hier auf Langeoog nichts als Müßiggang erwartete. Solche wie den jungen Mann mit dem Rollkoffer, der unmittelbar vor ihm das Bahnhofsgelände verlassen hatte.

Komisch. Eigentlich hätte der Typ direkt vor ihm laufen müssen. Aber das war nicht der Fall. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

11.

»Ach. Das ist ja interessant.« Stahnke griff nach dem Zettel, den Kramer ihm unter die Nase geschoben hatte, und blickte zu dem Oberkommissar hoch. »Ein Kollege also?«

»Ex-Kollege, besser gesagt.« Kramer wies auf eine Datumszeile am Ende des kurzen Textes: »Letztes Jahr ausgeschieden. Auf eigenen Wunsch.«

»Trotzdem allerhand.« Stahnke drehte sich auf seinem Stuhl zum Fenster hin, wandte dem hektischen Getriebe der emsig arbeitenden Mordkommission den Rücken zu. »Stephanie Venemas heimlicher Lover ist also ein SEK-Rambo.«

»Ehemaliges Mitglied eines Sondereinsatzkommandos«, korrigierte Kramer milde. »Lennert Tongers, 25 Jahre. Stand zuletzt im Rang eines Kommissars. Hat die Hochschule für Verwaltung mit Auszeichnung absolviert. Ausgebildet in allen möglichen Kampftechniken und mit den verschiedensten Waffen. Alle Lehrgänge mit gut bis sehr gut bestanden. Der Junge hatte eine Karriere vor sich.«

»Und warum schmeißt er die weg?«, fragte Stahnke. »Doch nicht etwa, um so ein schmieriger Privatschnüffler zu werden wie dieser Mats Müller?«

»Wissen wir nicht«, antwortete Kramer, stoisch wie immer. »Da nichts gegen Tongers vorlag, bestand ja auch kein Grund, ihn nach seinem Ausscheiden unter Beobachtung zu halten. Es gibt schließlich die verschiedensten Motive, eine einmal gefällte berufliche Laufbahnentscheidung nach entsprechenden Erfahrungen zu verändern, auch nach Jahren noch. Die meisten dieser Motive sind ehrenhaft.«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Stahnke zu und grinste mehrdeutig. Aber natürlich glitt auch dieser Versuch der Selbstironie spurlos an Kramer ab.

Dass der hier stand und ihm, Stahnke, Untersuchungsergebnisse zur Bewertung vorlegte, zeugte wieder einmal von seiner maßlosen Loyalität. Schließlich war er es gewesen, der den sogenannten ersten Angriff bei der Untersuchung des Mordversuchs an Stephanie Venema koordiniert hatte. Er hatte – mit Manninga zusammen – die Mordkommission Modenschau personell zusammengestellt und ihre Leitung übertragen bekommen. Kommissarisch natürlich, denn Stahnkes Rückkehr stand ja kurz bevor. Trotzdem, über zwanzig Männer und Frauen, unterstützt von der Analysestelle Fahndung und der Kriminaltechnik, hatten unter seiner Führung ihre Arbeit aufgenommen. Kramer hätte sehr wohl darauf dringen können, auch nach Stahnkes Eintreffen mehr als nur die Rolle des Aktenführers für sich zu beanspruchen, schließlich konnte die nachträgliche Übergabe der Leitung an den Hauptkommissar durchaus zu Reibungsverlusten führen. Das aber hatte er nicht getan, hatte nicht einmal ein Wort darüber verloren.

Wie hätte er sich in einer vergleichbaren Situation verhalten? Stahnke war sich da gar nicht so sicher.

Er betrachtete das mitgelieferte Foto von Lennert Tongers, übermäßig kontrastreich, vom Faxvorgang leicht entstellt. Kein eckiger Testosteron-Kiefer, wie vermutet, stattdessen ein eher gemütlich wirkendes, ovales Gesicht mit ausgeprägter, leicht gebogener Nase und breitem, vollem Mund. Nur der rasierte Kahlschädel entsprach dem Klischee.

Was wollte ein Mädel aus gutem Hause wie diese Stephanie bloß mit solch einer Krawallglatze?

Mit einer durchtrainierten, sicherlich nicht dummen Krawallglatze. Hm, da gab es diverse mögliche Antworten. Stahnke zog die Frage zurück. Anders herum: Was wollte ein 25-jähriger ehemaliger SEK-Kommissar mit einer 17-jährigen Schülerin? Auch diese Frage führte nicht weiter, sie beantwortete sich von selbst, wenn man die Beziehung der beiden auf das rein Sexuelle reduzierte. Vielleicht war’s das ja auch, vielleicht erschöpfte sich das beiderseitige Interesse darin. Man musste …

Kramer Zeigefinger erschien wieder in Stahnkes Blickfeld. »Hier, schau mal. Noch ein interessantes Detail.«

Geburtsort hieß die Rubrik. Und der Eintrag lautete Langeoog.

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