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Severins Gang in die Finsternis

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III

Der Sommer wurde liebreizender und zärtlicher, je mehr er dem Ende entgegenging. Jeden Tag spannte der Himmel seine fleckenlose Decke aus und die Sonne war milde. Severin verbrachte seinen Urlaub in der Stadt. Die Vormittage, die er jetzt müßig nach seinem Gutdünken verbummelte, waren für ihn ein lange entbehrter Genuß. Hinter den schweigsamen, von stumpfer Bureauarbeit vernichteten Jahren quoll zeitweise wundervoll klar die Stimmung der Schulferien auf und die Gedanken an sein armes, in der Tretmühle zerriebenes Leben, die Ereignisse des letzten Winters zerflatterten ihm wie dünne Gespinste. Früh, wenn der Schlaf von ihm abfiel, dehnte er die Glieder und lag noch eine Stunde im Bette. Bedächtig sah er den Ringen zu, die das Licht durch die Maschen des Vorhangs auf die Zimmertüre malte und fühlte sich von einer Last befreit. Dann wusch er sich und ging auf die Gasse. Er stieg auf die Höhe, wo man von den Weinberger Schanzen in das Nusler Tal hinunter sah. Neue, kalkweiße Gebäude glänzten unten in der Sonne und das Rauschen der fernen Eisenbahnzüge erfüllte die Luft. Irgendwo in der Nähe war in seiner Kindheit ein kleiner, verwilderter Garten gewesen, wo er nach Kieselsteinen und Schneckenhäuschen gesucht hatte und wo im Frühling auf dem ungepflegten Rasen die Gänseblümchen wuchsen. Neben dem Kinderspital guckte die Kuppel der Karlshofer Kirche wie eine ungeheure, braune Zwiebel zu ihm herüber und jenseits des Tals stand der neue Wasserturm in den Feldern von Pankraz, der ihm immer so vorkam, als hätte ihn jemand aus dem Bilderbuche herausgeschnitten, das er früher einmal besessen hatte. Der Morgen war durchsichtig und leuchtete über den Häusern. In einer Fabrik fing eine Sirene zu pfeifen an und ihre melancholische Stimme blieb noch lange wie ein neuartiger und einförmiger Gesang in seinen Ohren.

In diesen Vormittagstunden empfand er so eigentlich erst das vielgestaltige Leben der Stadt. Neben ihm und hinter ihm dehnten sich ihre tausend Straßen und wenn er drüben den Talhang erstieg, sah er die Moldau unter den Wyschehrader Schanzen vorbeifließen und die grellen Reflexe der Sonne schwammen wie glühende Brände auf ihrem Wasser. In den verfallenen Schießluken des Schanzgemäuers sproßte das Gras. Severin dachte an die Abende zurück, wo es ihn dumpf und unruhig bedrückte, wenn er von Furcht und Ahnungen überrieselt im Gewirre der Häuser stand. Die Stadt, die vor ihm lag und ihre Türme in den Morgen tauchte, schien ihm schöner zu sein und hatte doch ihre Wunder behalten.

Auf dem Heimwege trat er zumeist in das geöffnete Tor einer Kirche ein. Seit jenem Nachmittage auf der Kleinseite trieb ihn immer etwas an, im Dunkel der Seitenaltäre zu verweilen, wo die Statuen mit ernsten Mienen in der Nische lehnten und wo das ewige Licht in einem roten Glase brannte. Er setzte sich auf eine Bank und ruhte eine Viertelstunde. Zu dieser Zeit kam selten ein Besucher und nur ein altes Weib schlürfte manchmal mit kurzen Schatten über die Fliesen. Severin nahm die Stille in sich auf, begierig wie jemand, der lange den Lärm gewohnt war. Im Zwielicht des Schlupfwinkels, der ihn verbarg, spannen sich die Gedanken unlösbar ineinander und verstrickten sein Herz in eine kindisch verworrene Welt. Die Bilder des Vormittags kamen traumhaft wieder und er sah die Wellen des Flusses und die niedrigen Giebel des Hradschins in der helldunklen Luft und hörte die Dampfpfeife im Tale singen. Es kam auch vor, daß ein Geräusch ihn störte und daß eine Frau hinter ihm im Gebete kniete, die leise eingetreten war, bevor er sich umwandte. Dann schrak er zusammen und über die Schulter spähte er prüfend in ihr Gesicht.

Allmählich wurde es ihm bewußt, daß er die Nonne mit den Sternenaugen suchte. In einer grundlosen Laune hatte er sie Regina getauft und er glaubte am Ende selbst an diesen Namen. Es kam ihm in den Sinn, wie sie ihm unter den Akazien des Ufers begegnet war. Und in einem jähen und unergründlichen Zusammenhange mußte er plötzlich an Mylada denken. –

In diesen Stunden gab er sich Rechenschaft über die Tage, an denen ihn die Liebe Zdenkas beschützte. Er erlebte alles zum zweiten Male, was seither mit ihm geschehen war. Die Worte des alten Lazarus fielen ihm ein und nutzlose und grausame Tränen gemahnten ihn an sein Kind. Nach und nach begann er zu begreifen, daß die Idylle dieses Sommers nur eine Täuschung war. Die verschlafene Müdigkeit seines Herzens hatte ihn glauben gemacht, daß jetzt der Trost darin eingekehrt sei und ein wirkliches Glück. Aber die bösen Kräfte wohnten weiter darin, sie wucherten im geheimen, während er lächelnd den Mund seines Mädchens küßte und bissen wie ätzende Säuren sein Inneres wund. Irgend etwas hatte den flackernden Schatten in ihm aufgescheucht, vor dem er im Winter geflohen war und den er im Dunkel der leeren Kirche wieder erkannte. Er wußte es nicht genau, ob es Regina oder Mylada war und die Erinnerung an beide verwob sich ihm merkwürdig zu einer einzigen Gestalt. Das Schicksal Susannas war für ihn eine Deutung, daß sein Fuß auf einer schlimmen und unseligen Fährte ging. Wo sie vorüberführte, stand der Gram und das Unheil hinter ihm auf und auf seiner Spur welkte die Freude. Die Sorge um Zdenka packte ihn und er wand sich vergebens unter ihren Griffen. Und in der geängstigten Liebe zu ihr entdeckte er fröstelnd eine grimmige Lust, daß er ihr Leben in seinen Händen hielt und es zerknittern konnte.

Wenn Severin aus der Kirche wieder ins Freie trat, schüttelte er den Kopf über seine Träume. Die Mittagssonne floß wie ein warmer Honig durch die Gasse, und an der Mauer stand ein Blinder mit dem Hute in der Hand und blinzelte. Das köstliche Flimmern des Spätsommers hing über den Dächern, das draußen vor der Stadt aus den Stoppelfeldern aufstieg. Severin strich mit den Fingern über die Stirne. Unsicher ging er weiter und die wohlige Betäubung der letzten Wochen löste die Spannung in ihm. Aus den offenen Fenstern der Parterrewohnungen klang manchmal das Trillern eines Kanarienvogels auf und oben im dritten Stocke eines Hauses kratzte eine Geige. Von fernher kam ein Summen durch die Luft, ein metallisches Klingeln, das immer stärker wurde. Auf den Türmen huben die Mittagsglocken zu läuten an.

IV

Nathan Meyer liebte es, sein Leben vor den Leuten zu verstecken. Seitdem er mit Karla zusammen die Weinstube in der schwarzen Gasse eröffnet hatte, war er noch niemals unten bei seinen Gästen gewesen. Er hielt sein Zimmer versperrt, wo er zwischen Büchern und achtlos auf dem Fußboden verstreuten Broschüren hauste und verließ es nur in der Nacht, wenn die Bewohner des Hauses zur Ruhe gegangen waren und er niemandem mehr auf der Treppe begegnete. Er mochte ungefähr vierzig Jahre alt sein, aber das kurzgeschorene Haar und sein glattrasiertes Gesicht ließen ihn jünger erscheinen. Über seine Vergangenheit wußte man wenig. Sein Vater hatte eine große Brauerei in Rußland besessen und ihm nach seinem Tode ein stattliches Vermögen hinterlassen. Jahrelang lebte er von den Zinsen seines Kapitals, ohne den Drang nach irgendeiner Tätigkeit in sich zu spüren. Sein schroffes, durch keinerlei Gutmütigkeit gemildertes Wesen hatte seinen Hang zum Alleinsein nicht erschwert. Karla und er waren durch einen unbekannten Zufall zusammengeführt worden, aber sein äußeres Dasein ward dadurch nur wenig berührt. In der Wohnung, die sie miteinander teilten, blieb seine Türe auch ihr zumeist verschlossen. Darum war es für die wenigen Menschen, mit denen er in eine flüchtige Beziehung kam, erstaunlich und nur schwer verständlich, als Nathan plötzlich die Idee, ein Weinlokal zu gründen, mit Eifer und Beharrlichkeit verfolgte. Vielleicht hatte Karla die Anregung dazu gegeben, weil ihr beweglicher Geist in dem unerträglichen Einerlei ihres Zusammenlebens eine Beschäftigung suchte. Aber er begrüßte ihren Gedanken mit einem Fanatismus, der selbst für Karla unerklärlich blieb, die besser wie die andern die Energien kannte, die er unverbraucht in müßiger Beschaulichkeit vertat. Er hatte auch Mylada aufgespürt und sich händereibend für ihren Erfolg verbürgt. Aber als alles im Gange war und das Unternehmen zu einem vielversprechenden Anfang gedieh, nahm er seine Gewohnheiten wieder auf und bekümmerte sich nicht mehr darum.

Wenigstens schien es so. Denn es sah ja niemand das zufriedene Lachen auf seinen dünnen Lippen, wenn in der Nacht der Lärm der Musik aus der Weinstube in seine Kammer drang. Das Fenster stand offen und Nathan Meyer saß mit erhobenem Kopfe beim Schreibtisch und lauschte. Die stille Gasse fing alle Geräusche zwischen den hohen Wänden der Häuser auf und brachte sie in sein Zimmer. Er hörte, wie unten die Gläser aneinanderstießen und wie das spröde Gelächter Myladas die Männer erhitzte. Er hörte die schrillen und ekstatischen Stimmen der Menschen, die sich am Wein und an den Gesprächen berauschten. In sein glattes Gesicht trat ein Ausdruck der Genugtuung und er nickte. An manchen Abenden kam ein minutenlanges Brausen von unten herauf, das Zischen und Gurgeln einer ungehemmten und überschäumenden Lust, die sich überschlug und nicht zu fassen vermochte. Die heißen Akkorde des Klaviers tönten taumelnd dazwischen und schwere Hände wühlten aus den Tasten jubelnde Melodien, Walzer und Märsche. Dann nahm Nathan Meyer den Hut und den Mantel aus dem Schrank und ging die Treppen hinunter. Ungesehn und unerkannt stand er neben dem Weinhause und zählte die Gäste, die darin verschwanden. Das Bogenlicht der Lampe zeichnete einen hellen Kreis in die Finsternis der Gasse und beleuchtete die Gesichter der Eintretenden mit einem grellweißen Strahlenbündel. Einen Augenblick lang konnte Nathan die Seelen der Menschen erkennen, die vor der Türe Halt machten und geblendet ein wenig verweilten. Tiefer und unverschleierter als bei Tage zeigte die Lampe das Antlitz eines jeden. Die Gruben, die die Angst hineingegraben, die Furchen und Risse um starre, vom Nachtschwärmen entzündete Augen. Nathan hatte den Hut in die Stirne gedrückt und den Kragen des Mantels hochgeschlagen. Bewegungslos stand er im Dunkel und bewachte das Haus.

 
* * *

Severin erinnerte sich noch vom Begräbnistag des Doktor Konrad her an Nathan Meyer. Er hatte seine hohe, breitknochige Gestalt und seinen ingrimmigen Mund im Gedächtnis, wie er damals in der kalten Dämmerung des Winternachmittags neben Karla, zwischen den Leidtragenden schritt. Eine mitfühlende Bangigkeit mit der Frau war damals in ihm rege geworden, die vor kurzem noch seine Geliebte war und deren schlanke Grazie neben den robusten Schultern des Mannes müde und hingebungsvoll in sich zusammenkroch. Seither war er ihm kein einziges Mal mehr in den Weg gekommen, auch später nicht, als Karla ganz zu ihm übersiedelte und die Weinstube in der schwarzen Gasse schon im Betriebe war. In einem kleinen Kaffeehause in der Nähe der Moldau sah er ihn wieder, wo Severin jetzt manchmal vor dem Schlafengehn einkehrte, wenn er mit Zdenka den Abend verbracht hatte und wenn ihn die meuchlerischen und feigen Gedanken der Nacht noch vom Heimgange abhielten. Neuerdings war es ihm ein Bedürfnis geworden, wenigstens eine Stunde mit sich selbst zu verbringen, wenn er sich von Zdenka verabschiedet hatte und ihre sanften Liebkosungen nicht mehr da waren, um die Unruhe zu beschwichtigen, die ihn wieder wie früher in einem immer engern Bogen umkreiste. Sein Urlaub näherte sich dem Ende. Lichtlos und engbrüstig wartete der Herbst auf ihn. Das lautlose Dasein in seinem Bureau begann von neuem, wo die Tage wie Mauern aneinanderstießen und zwischen den engen Lücken sein Leben zerschürften. Wenn Zdenka bei ihm war und er die Wärme ihrer Hand auf seinem Arme spürte, dann ging er wohl noch mit der Miene des Gesundeten neben ihr her und ihre schöne Stimme erzählte ihm von dem großen Glück ihrer Liebe. Zugleich mit dem Nebel, der jetzt frühzeitig in die Straßen fiel und das Ende des Sommers prophezeite, kam die Unrast zu ihm. Er sah wieder wie einmal am Anfang mit einem verzerrten Lächeln auf den blonden Scheitel Zdenkas, die sich an ihn schmiegte. Wenn sie zu Bette gegangen war und ihr Fenster erlosch, grub er die Zähne in das Fleisch seiner Fingernägel. Er lief durch die Gassen und die Laternen zogen seinen schmalen Schatten auf den Pflastersteinen nach. Im Kaffeehause setzte er sich zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Ungeheuer hob sich der Rumpf des Rudolfinums vom Himmel ab, auf dem die Spätsommersterne wie rote Lampions verkohlten.

Es war in einer solchen Nacht, als Severin mit Nathan Meyer ins Gespräch geriet. Hinter den Zeitungen, die er las, hatte dieser schon längere Zeit nach ihm hingesehn und ein nachdenklicher Zug zog seine Lippen tiefer in die Winkel, während er mit den langen Fingern die Asche seiner Zigarette in den Messingbecher streifte. Severin antwortete anfangs wortkarg und mürrisch. Er fühlte sich unbehaglich und es ärgerte ihn, daß jener unverwandt sein Gesicht durchforschte. Aber es dauerte nicht lange, so saß er gebannt auf seinem Platze und hörte den Worten des Mannes zu, der ihm unvermittelt und ungebeten seine Bekenntnisse enthüllte. Sie waren allein in der niedrigen Kaffeehausstube, nur der Kellner schlief mit hörbaren Atemzügen in einer Ecke und aus dem Spielzimmer nebenan tönte noch das Klatschen der Kartenblätter zu ihnen herüber. Es waren sonderbare Dinge, die sie verhandelten. Die blinde und gehässige Wut der Einsamkeit flammte in der Stimme Nathans, das Gift brodelte darin, das die Herzen der Krüppel und der Wahnsinnigen verwüstet, der Haß gegen die Welt. Der zornige Unglaube an die Güte und Herrlichkeit der Erde, der erbarmungslose Hohn eines vermessenen Frevlers predigte von seinen Lippen, die sich beim Sprechen feuchteten und über die ein Zittern hinflog, das aus der innersten Seele kam. Mit einem trockenen und hüstelnden Geflüster neigte er sich zu Severin:

Wir sind alle ein bißchen Chemiker, die von drüben aus Rußland kommen. Ich habe Sprengbüchsen und Maschinen zu Hause, die eine Gasse umreißen würden, wenn ich es wollte. Aber das tun ja nur die Dilettanten. Es gibt feinere und bessere Mittel, die die Polizei konzessioniert und das Gesetz gestattet. – Sind Sie schon einmal in meiner Weinstube gewesen? – –

Severin überlief es. Er sah in die grauen und listigen Augen Nathans hinein und ohne weitere Erklärung verstand er ihn plötzlich. Ein Schrecken faßte ihn vor dem Manne, der auf Seelenfang ausging, ohne daß jemand es merkte.

– Vor einer Woche hat sich ein junger Herr erschossen – erzählte der Russe weiter. – Er hat die Kassa seiner Bank bestohlen, um bei mir Sekt zu trinken und mit Mylada zu schlafen. Ich habe seine Leiche im pathologischen Institute gesehn. – Ein Fratz, kaum über die zwanzig. Seine Mutter hat der Schlag gerührt, als sie davon erfuhr. Und das ist nur der Anfang. Ich kenne sie alle, die in das Haus hineingehn. Ich sehe sie an, wenn sie sich unbewacht glauben, im Finstern, neben der Türe. – –

Und nach einer Pause, während Severin schweigend wartete:

Ich habe einen Namen für das Haus gefunden, einen guten Namen, der die Leute anziehn wird: Die Spinne.

Severin stand auf. Der Speichel stieg ihm bitter in die Kehle und ihn schwindelte. Der kurzgeschorene Kopf Nathans tauchte in dem Rauche seiner Zigarette unter, und Severin sah statt seiner sekundenlang ein Bild vor sich, das ihn beklemmte. Da war die Stadt, riesengroß, mit tiefen Straßen und tausend Fenstern. Und mitten darin das Weinhaus in der schwarzen Gasse. Die Lampe über dem Eingang glotzte wie ein Auge und vor der Türe drängten sich die Leute. Sie kamen einer nach dem andern, wie die Mücken zum Licht – – Drinnen saß Mylada in ihrem grünen Kleide – – Unsichtbar, unter den geschweiften Beinen des Klaviers zusammengeduckt, kauerte ein plumpes Wesen, das die Nachtmenschen die Freude nannten –

Severin schüttelte sich und das Bild verschwand.

Wollen Sie nicht einmal mein Laboratorium besichtigen? – hörte er Nathan Meyer fragen.

Ich weiß es nicht – sagte er und mußte sich an der Lehne des Stuhles festhalten, um nicht zu fallen.

V

Es kamen die Regentage und wuschen die letzten Spuren des Sommers mit sich fort. Auf den Parkwegen stand das Wasser in großen Lachen und auf den Bänken klebten die Blätter, die der Wind von den Bäumen riß. Die Droschken fuhren mit nassen Lederdächern durch die Stadt, und die Buben pantschten mit nackten Füßen durch die Pfützen und bauten am Rande des Gehsteigs kleine Dämme aus dem Straßenkot. Rascher als sonst um diese Jahreszeit dämmerte der Abend hinter dem feuchten Himmel.

Severin stand beim Fenster. Das spärliche Leben des Vorstadtbezirkes, in dem er wohnte, ging langsam in zögernden Pausen durch den Nachmittag. Ein Kohlenwagen ratterte über die Steine und die großen Lastpferde senkten mißmutig die Köpfe. Ein Mann eilte mit schnellen Schritten die Häuser entlang und sein schwarzer Tuchschirm glänzte vor Nässe. Hie und da stieg ein schmutziger Papierdrache in die Höhe, den ein Kind an einem Faden durch den Regen zerrte; dann fing er schwer und ängstlich zu flattern an und fiel auf die Erde. In dem Kaufmannsladen an der Ecke surrte die Türglocke; eine junge Frau mit gebrannten Stirnhaaren trat heraus und schaute prüfend in das Wetter. Dann hob sie die Röcke hoch, daß man die hübschen Beine bis zu den Knien sehen konnte und lief die Straße hinunter.

Severin dachte an den Herbstregen in seinen Kinderjahren. Es war alles wie heute und die Knabenwünsche gruben in seinem Herzen ein wehleidiges Heimweh auf. Auch die Kaufmannsklingel gegenüber dem Vaterhause hatte denselben Klang. Severin wartete ungeduldig, bis unten wieder die Türe gehen würde. Einmal war er an der Lungenentzündung erkrankt, als ganz kleiner Junge, lange bevor er zur Schule mußte. Da hatte ihn manchmal ein eigentümliches Gefühl beschlichen, während er zu Hause im Bette lag und das schräge Licht der Gasse auf die gemalten Blumen auf der Zimmerdecke fiel. Draußen hantierte die Mutter in der Küche und von irgendwoher kam der langgezogene Ton eines Leierkastens. Da hatte das Fieber in sein Gehirn eine merkwürdige, kreisrunde Stelle genagt, die sich weich anfühlen mochte und mit einer feinen Membran bedeckt war. Es fiel ihm auch ein Vergleich ein; er erinnerte sich an die Bonbons, die er sich damals für einen Kreuzer auf dem Markte kaufte. Wenn der Zucker im Munde zerfloß, dann spürte er unter der papierdünnen Rinde die flüssige Fülle mit der Zungenspitze. Lange war dieses Gefühl in ihm verschollen gewesen und nicht mehr wiedergekommen. Jetzt war es wieder da, klar und bestimmt und Severin erkannte es wieder. Ein Schwarm von vertrauten, durch die Jahre verwaschenen Bildern kam zugleich in ihm herauf, die er seitdem vergessen hatte und die der Regentag wieder in sein Gedächtnis spülte. Die rußige Pawelatsche mit dem Eisengeländer, wo er mit dem Bruder kindische Spiele ersann und mit der Gummischleuder nach den Katzen im Garten jagte. Die alte Julinka, die das Gnadenbrot im Hause aß und dafür die zersprungenen Holzstiegen scheuern mußte. Die Sommerabende vor der offenen Türe, wenn ihm die roten Wolken zwischen den Dächern die ersten unverstandenen Tränen brachten und die Dienstmädchen in den Nachbarhöfen die tschechischen Lieder anstimmten, deren banale Süßigkeit ihn noch heute bewegte.

Auch Mylada kannte diese Lieder.

Severin lehnte den Kopf gegen die glatte Scheibe. Ein bettelhafter Schmerz verzog seine Lippen zum Weinen.

* * *

Die Nacht war gekommen und hatte den Regen in einen triefenden Nebel verwandelt, der durch die Fensterspalten in die Wohnungen drang und die Träume der Schlafenden beunruhigte. Severin hielt es nicht zu Hause. Er war seit dem Mittag nicht auf der Straße gewesen und ein stechender Krampf trieb ihm das Blut in die Schläfen. Er hatte Zdenka heute vergeblich warten lassen und eine lästige Reue staute sich in seinen Gedanken, wie der Dunst, der draußen die Gaslaternen verschleierte. Er zog den Wetterkragen um die Schultern und stülpte die Kapuze über den Hut.

Auf dem Marktplatze der Vorstadt scheuchte er zwei Gestalten auf, die sich hinter den leeren Bretterbuden der Obstverkäufer umschlungen hielten. Severin blieb stehn und sah ihnen zu, bis der Mann ihn gewahrte und mit dem Mädchen in die Dunkelheit flüchtete. Eine übermächtige Sehnsucht nach dem einfachen Glück dieser Menschen erfaßte ihn. Mit einer dumpfen und grüblerischen Spannung versuchte er zum hundertsten Male die Spur zu ergründen, die ihn seitab in eine unselige Wildnis des Lebens führte. Und eine schmerzliche, von Bangigkeit erdrückte, von Zweifeln zerrissene, ohnmächtige Lüsternheit nach den Küssen des Weibes verzehrte ihn jäh, das sein Begehren in derselben Stunde entfacht hatte, in der ihm Lazarus vom Tode seines Kindes sprach.

Vor der Rampe des Museums machte er Halt. Vor ihm lag der Wenzelsplatz und der Herbstdampf hing in weißen Wolken zwischen den elektrischen Flammen. Severin breitete die Arme aus.

Mylada! rief er und seine Stimme flatterte wie ein zitternder Vogel durch den Nebel.

* * *

In der »Spinne« zeigte der Zeiger der Wanduhr schon die zwölfte Stunde. Das Lokal war überfüllt und ein aufreizender Geruch nach vergossenem Wein schwamm über den Tischen. An den grünen Rauchringen der Zigarren kletterte das Gelächter empor und fiel mit Gekreisch wieder zu Boden. Der Lärm der Gespräche schwoll zum Getöse an, das sich nicht hemmen ließ und das glucksend abbrach, wenn die Musik begann oder einer der Gäste mit lauter Stimme ein Lied anstimmte. Karla selbst in einem bunten und verführerischen Kostüme saß beim Klavier. Ihr schöner Kopf bog sich zurück, während sie spielte und berührte den Nacken.

Severin setzte sich hinter sie und bestellte eine Flasche. Die dicke und verdorbene Luft des Zimmers benahm ihm den Atem und der Schweiß brach aus seinen Poren und klebte das Hemd an seine Haut. Karla spielte die Melodien, die die Leute verlangten. Das falsche und lügnerische Gefasel der Operetten girrte unter ihren Fingern und das Aroma ihres Leibes perlte mit dem Wein durch die Kehlen und verbrannte die Adern. Eine sinnlose und verwegene Lustigkeit tobte in den Köpfen und überschwemmte die Herzen.

Von einer Gruppe ganz junger Männer im Frack und weißer Binde löste sich Mylada los. Ihr magerer Mund lachte in einer unendlich verheißenden Freude, als sie sich über Severin beugte.

Gib mir zu trinken, bat sie und er reichte ihr sein Glas.

Er sah ihr zu, wie sie die Zunge zwischen die scharfen Zähne schob und er mußte an sich halten, um sie nicht zu küssen. Er schlang den Arm um sie und zog sie auf seinen Schoß.

Deine Augen hab ich schon einmal gesehn, hast du nicht eine Schwester, Mylada? –

Ich hatte eine Schwester, die mit sehr ähnlich war, aber sie ist gestorben. –

 

Severin strich ihr die Haare aus dem Gesichte und sie klammerte sich mit den Beinen an ihn und ließ ihn gewähren. Ihr Körper war klein wie der eines Kindes und hinter dem dünnen Kleide reckten sich ihre Brüste.

Komm zu mir heute nacht – – flüsterte er und sie sagte darauf:

Sie hieß Regina und war eine Nonne.