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»Tom fürchtet die Demaskierung; nicht nur die Demaskierung seiner selbst als Dickie oder seine Enttarnung als Mörder, sondern die Demaskierung seines Mangels an Selbst und damit seiner eigenen Unzulänglichkeit in den Augen anderer – es gibt keinen nennenswerten Unterschied zwischen der Angst, dass sein Steuerbetrug oder dass seine Morde auffliegen. Seine wichtigste Angst ist die, gesellschaftlich nicht mithalten zu können.«

Diese Form der Amoralität ist das (Post)moderne an Ripley. Die klassische Psychose bestand darin, das Reale und das Symbolische zu verwechseln (das offensichtlichste Beispiel ist, die Stimme Gottes zu hören). Doch Ripleys Psychose beruht auf der Überzeugung, dass nur das große Andere existiert. Von spezifischen, namhaften Anderen, die seine Kriminalität vermuten oder von ihr wissen, ist Tom nicht beunruhigt, solange seine kriminellen Taten nicht in das Symbolische eingeschrieben sind. Das Besondere an Ripleys postmoderner Herangehensweise an das Andere ist, dass sie radikal atheistisch ist – weder glaubt er an Gott noch an irgendeine moralische Ordnung, die in das Gewebe des Universums eingeschrieben ist. Das postmoderne große Andere ist eine Symbolische Ordnung ohne Symbolisierung; sie postuliert keinen Gott und keine Geschichte mehr, sondern bekennt sich freimütig als gesellschaftliches Konstrukt – doch diese vorgebliche Entmystifizierung hindert sie nicht am Funktionieren. Im Gegenteil, das große Andere funktionierte nie besser.

Atwoods Antikapitalismus 51

»Regressiv ist es alles«, schreibt Jameson über den Kult der Gottes-Gärtner in Margaret Atwoods Das Jahr der Flut und fügt in einer provokativen Parenthese hinzu: »Es ist immer hilfreich, sich zu überlegen, für welche Politik das heute eigentlich nicht gilt.«52 Das Jahr der Flut ist unter anderem deswegen enttäuschend, weil es keine Alternative zur Regression anbietet – der einzige Weg nach vorn, so scheint es, führt zurück in die Natur.

Dabei ist es nicht der Fokus auf Religion an sich, der regressiv ist; vielmehr ist es die Weigerung Atwoods, jene Fragen über Religion zu stellen, die Oryx und Crake so beeindruckend aufgeworfen hat. Einer der wichtigsten Momente in dem Roman war die Inthronisierung eines religiösen Gefühls unter den Crakern, jenen im Labor geschaffenen, neuen edlen Wilden. Ganz wie in Totem und Tabu und Der Mann Moses und die monotheistische Religion entsteht die Religion als Folge des Mordes der Vaterfigur. Ironien überall: Da die »Craker« gemacht, nicht gezeugt wurden, handelt es sich bei ihrem »Vater« eigentlich um ihren Schöpfer-Designer, das misanthropische Wunderkind Crake – der sie wiederum ganz bewusst ohne die neurologische Verbindung geschaffen hat, von der er glaubte, dass sie für die Religion verantwortlich ist. Crake ist weniger ein eliminativer Materialist als ein materialistischer Eliminativer: »Crake dachte, er hätte das alles abgeschafft, hätte den, wie er sagte, G-Punkt des Hirns beseitigt. Gott ist ein Neuronen-Cluster, hatte er behauptet. Es war allerdings ein heikles Problem: Wird in dieser Gehirnregion zu viel entfernt, kommt ein Zombie oder ein Psychopath heraus.«53 Wenn die Entstehung der Religion unter den Crakern auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt, stellt sie sich am Ende lediglich als Beweis der Macht anderer (psychoanalytischer und kultureller) Faktoren, zusätzlich zur Neurologie, dar.

Crakes Experimente sind eine Antwort auf die alte, reaktionäre Leier, dass die Utopie nicht der menschlichen Natur entspreche. (Eine neuere Version dieses Denkens findet sich bei einem der Antagonisten Žižeks in seinem jüngsten Buch, der Über-Kapitalist Guy Sorman54, der behauptet, »[w]elche Wahrheiten die Wirtschaftswissenschaft auch immer ans Licht bringt, der Markt ist die einzige Wiederspiegelung der menschlichen Natur, die selbst kaum perfektionierbar ist.«) Wenn das der Fall ist, schlussfolgert Crake mit dem Pragmatismus eines Autisten, sollte die menschliche Natur geändert werden: Die Mittel stehen zur Verfügung. Im Grunde reagiert Crake auf Freuds Argument in Das Unbehagen in der Kultur, wo es heißt, dass selbst wenn die Eigentumsverhältnisse egalisiert wären, Antagonismen aufgrund von sexueller Konkurrenz immer noch entstehen würden. »Vielleicht hatte Crake Rechte«, denkt sich Schneemensch:

»Nach dem alten System war der sexuelle Wettbewerb gnadenlos und permanent: Auf jedes glückliche Lie­bespaar kam ein deprimierter Zuschauer, der Aus­ge­schlossene. Liebe bildete ihre eigene durchsichtige Bla­senkuppel: Man konnte die beiden drinnen sehen und kam selbst nicht hinein. Und das war noch die harm­losere Form gewesen: der einzelne Mann am Fens­ter, der zu traurigen Tangoklängen im Suff Vergessen sucht. Aber es konnte ebenso gut in Gewalt ausarten. Extreme Gefühle waren manchmal tödlich. Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch sonst keiner haben, und so weiter. Mord und Todschlag.«55

Deswegen ersetzt Crake das, was Toby in Das Jahr der Flut »romantischen Schmerz« nennt, mit gedämpften, tierischen Balzritualen: »Ihre Sexualität war keine stän­di­ge Plage für sie, keine Wolke turbulenter Hormone: Sie wurden in regelmäßigen Abständen brünstig, so wie die meisten Säugetiere abgesehen vom Menschen.«56 Es wäre faszinierend gewesen, wenn Atwood Crakes Be­haup­tung, Hierarchie, Hunger und Rassismus unter sei­nen genetischen Schöpfungen abgeschafft zu haben, einer literarischen Probe unterzogen hätte. Außerdem gibt es das Problem der Sprache. Atwood legt nahe, dass die Craker ihre genetisch geschaffene Unschuld behalten können, weil ihnen der Konjunktiv II fehlt. (»Und so waren die Leute wohl auf die unsterbliche Seele gekom­men – über die Grammatik. Und auch auf Gott, denn wenn es eine Vergangenheitsform gibt, muss es auch eine Vergangenheit vor der Vergangenheit geben, und man geht immer weiter zurück in der Zeit, bis man an ein Ich weiß nicht kommt, und das ist dann Gott. Es ist das, was man nicht weiß – das Dunkle, Versteckte, die Rückseite des Sichtbaren –, und das alles nur, weil wir Grammatik haben«. Doch auch das lässt sich mit ein bisschen Gentechnik beheben: »Grammatik wäre unmöglich ohne das FOXP2-Gen.«57)

Und dennoch droht die Niederlage Crakes – was nichts anderes ist, als eine Konfrontation mit Niederlage und Negation an sich –, die Craker aus ihrer Tier-Zeit hinaus in die verwundete Zeit der menschlichen Erniedrigung zu katapultieren. In Das Jahr der Flut treten die Craker jedoch in den Hintergrund: Vielleicht ist das ein Zeichen, dass Atwood das Interesse an ihnen verloren hat, oder – vielleicht – dass solche Kreaturen gar kein großes Inte­resse in Wesen wie uns erregen können. Was statt­des­sen im Zentrum des Romans steht, ist die progressiv-regressive religiöse Form, an der eine weniger friedliche Gruppe Menschen in den letzten Tagen der Welt festhält.

Atwood hat gesagt, dass eine Inspiration für die Ökoreligion der »Tod ihres Vaters und ihrer Mutter« gewesen sei, »und die Notwendigkeit, sich Reden für ihre Beerdigung auszudenken, die für sie akzeptabel gewesen wären: Beide waren Wissenschaftler.« Es ist leicht, über das Problem zu spotten, auf das Atwood hier stößt und vielleicht ist die bekannte Schwierigkeit, Religion und Wissenschaft zu versöhnen, letztlich komplizierter als das Problem des symbolischen Defizits im zeitgenössischen Säkularismus zu lösen, auf das sie hinweist. Dem Atheis­mus fehlen noch die Rituale, die es mit der symbolischen Kraft der Religion aufnehmen können und es gibt mehr als einen Hinweis darauf, dass dieser Mangel nicht zu­fällig ist. Deswegen deutet der Atheismus den Tod Gottes normalerweise als eine Verleugnung des Symbolischen (= dem großen Anderen) an sich. Diese im Grunde postmoderne Verleugnung Gottes – in der die offizielle Verneinung eines großen Anderen kombiniert wird mit der de facto Observanz des Symbolischen auf einer ande­ren Ebene – und der kapitalistische Realismus liegen sehr eng beieinander. Wie Althusser begriff, funktionieren die Rituale der kapitalistischen Ideologie umso besser, wenn sie nicht als Rituale erkannt werden. Anstelle der unnach­giebigen Feierlichkeit des religiösen Rituals bietet uns der postmoderne Säkularismus entweder eine Vermei­dung des Rituals überhaupt (es braucht überhaupt keine Zeremonie) oder Personalisierungen á la »Schreibt eure Eheversprechen selbst«, eine Art humanistischen Ersatz-Kitsch, in der die religiöse Form erhalten wird, selbst wenn der Glaube an einen übernatürlichen Gott verleug­net wird. Das Problem ist nicht ein säkularer »Mangel an Sinn«, sondern das Gegenteil: Es ist die Sinnlosigkeit reli­giöser Rituale an sich, ihr Mangel an persönlicher Bedeutung, die ihnen ihre Kraft verleiht. Zum Teil, wie Jameson in seiner Rezension von Das Jahr der Flut vorschlägt, hat das Problem mit Zeit zu tun: Jedes neue »Glaubenssystem« braucht »ein Supplement in Gestalt tiefer Zeit, alter kultureller Bräuche oder der Offenbarung selbst«. Die Zeit erlaubt dem Ritual, zu einem Brauch zu werden, einer leeren Form, der das Individuum unterwor­fen wird – und das ist alles andere als ein Nachteil, es ist der Grund, warum Beerdigungsriten eine solche Kraft, zu trösten haben.

Trauer und Verlust liegen nicht nur in den Ursprüngen der Religion, sondern sorgen natürlich auch für ihre an­haltende Anziehungskraft. Eine der heftigsten – und fast schon verbitterten – Diskussionen unter Studenten, die ich seit langer Zeit erlebt habe, kam während eines Semi­nars über Religionsphilosophie auf, das ich gegeben habe. Ausgangspunkt war meine These, dass der Atheis­mus ein weit größeres Problem mit dem Bösen und dem Leid hat, als die Religion – nicht zuletzt aufgrund des Leides derer, die nun tot sind. Iwan Karamasows Klage kann sich genauso gut gegen die atheistischen Architek­ten der strahlenden Stadt wie gegen Gott richten, denn was soll die revolutionäre Eschatologie, egal wie glor­reich sie ist, gegen das Leiden jener tun, die längst tot sind? Kein säkularer guter Wille kann eine Korrelation zwischen Tugend und Glück garantieren, wie Kant in einer skandalösen Passage der Kritik der Urteilskraft ausführt:

 

»Betrug, Gewalttätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, fried­fertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden, unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein, dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesamt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren.«58

Bemerkenswert ist, dass Kants Argument sowohl auf die neoheidnischen Gottes-Gärtner als auch auf die »ungläu­bigen Gerechten« anwendbar ist, weil Kant sich strikt weigert, Natur mit Güte gleichzusetzen, wie es die Got­tes-Gärtner predigen. Im Gegenteil, laut Kant ist Gott notwendig, um eine Welt wieder gut zu machen, die durch amoralische Zwecklosigkeit gekennzeichnet ist. Der wahre Atheist muss fähig sein, dem »weite[n] Grab«, dem »Schlund des zwecklosen Chaos« ins Gesicht zu schauen – während ich annehme, dass die meisten (von uns) Ungläubigen es lediglich schaffen, wegzusehen. Doch Kants moralisches Argument ist weniger leicht beiseite zu wischen, als es scheinen mag, denn es ist weit schwieriger, den Glauben an eine göttliche Struktur des Universums zu widerlegen als wir uns vorstellen können – gerade weil dieser Glaube weit unter allem liegt, was wir uns trauen würden zuzugeben. (Schau allerdings eine Folge Deal or No Deal und es wird klar, dass viele genau einen solchen Glauben hegen.) Vielleicht braucht es wirklich Crakes gentechnologische Spielereien, um die­sen Glauben abzuschaffen.

Das Problem an Das Jahr der Flut ist, dass Politik und Religion synonym werden – und weil es allen Grund gibt, positiv gegenüber einer politisierten Religion eingestellt zu sein, gibt es tiefgreifende Probleme mit einer Politik, die es nicht schafft, den eschatologischen Mantel der Er­lösung und des Messianismus abzulegen. Es ist bezeich­nend, wie sehr die Gottes-Gärtner den Grünen ähneln, die Sorman so verabscheut, wie hier in einer Passage aus Žižeks First as Tragedy, Then as Farce:

»Alles andere als normale Krawallmacher, sind die Grünen die Priester einer neuen Religion, die die Natur über die Menschheit stellen. Die Ökobewegung ist keine schöne Frieden-und-Liebe-Lobby, sondern eine revo­lu­tionäre Kraft. Wie viele andere moderne Religio­nen, klagen sie das Böse angeblich auf der Basis von wissenschaftlichem Wissen an: globale Erwärmung, das Aussterben der Arten, Verlust der Biodiversität, Super­getreide. Tatsächlich sind all diese Bedrohungen Produkte der grünen Phantasie. Die Grünen borgen sich ihr wissenschaftliches Vokabular, ohne von dessen Ratio­nalität Gebrauch zu machen. Ihre Methode ist nicht neu; Marx und Engels haben auch so getan, als wäre ihre Weltsicht in der Wissenschaft ihrer Zeit verankert, dem Darwinismus.«59

Atwood wirbt für eine solche Religion. (Zur Klärung: Nur um 100 Prozent richtig verstanden zu werden – Ich unterstütze Sormans Sicht auf die Grünen in keiner Wie­se. Ich war nur der Meinung, dass es amüsant ist, dass Atwood einen Ökokult erfunden hat, der so gut auf Sormans Stereotyp passt.) In einer Unterhaltung mit Richard Dawkins bei Newsnight vor ein paar Wochen beharrte Atwood darauf, dass es wenig Sinn mache, gegen Religion vom Standpunkt der Evolution aus zu argumentieren, weil die Beharrlichkeit der Religion selbst darauf hinweise, dass sie für die Menschen einen evolu­tionären Vorteil bringe. In Anbetracht dieser Tatsache, so Atwood, solle Religion als Werkzeug für »progressive« Kämpfe genutzt werden; und Adam Eins, der Anführer der Gottes-Gärtner, ist nur dann interessant, wenn er wie Machiavelli oder Strauss klingt, die die Religion nutzen, um das Volk zu manipulieren – die restliche Zeit ist seine Ökofrömmigkeit nur aufgrund Atwoods zarter, satirischer Spitzen erträglich (man denke zum Beispiel an die Verrenkungen, die die Gärtner-Doktrin durchmachen muss, bei dem Versuch, den Vegetarismus sowohl mit der karnivoren Tendenz der Bibel und dem »amora­li­schen Chaos« einer blutrünstigen Natur zu versöhnen). Was zu Beginn an der Idee der Gottes-Gärtner interessiert, ist die Aussicht, dass Atwood eine neue Art politischer Organisation beschreibt. Doch die Doktrin und die Struktur der Gärtner stellt sich als enttäuschendes Sammelsurium alter, langweiliger No Logo-ähnlicher, antikonsumistischer Askese, primitivistischer Märchen, Na­tur­heilmittel und Selbstverteidigung heraus, die so verlockend wie das Patschuli-Öl von letzter Woche ist. In letzter Instanz wirkt Das Jahr der Flut wie ein Symptom der libidinösen und symbolischen Sackgassen, die den Großteil des sogenannten Antikapitalismus auszeichnen. Atwood imaginiert das Ende des Kapitalismus, aber nur nach dem Ende der Welt. Oryx war wie der erste Teil von Wall-E; Das Jahr der Flut ist der zweite Teil, in dem wir sehen, dass der letzte Überlebende überhaupt nicht der letzter Überlebende war, sondern dass es herumziehende Gruppen von Menschen gab, die rätselhafterweise außer Sichtweite waren. (Bei Wall-E waren die Menschen wenigstens auf einer anderen Welt, während uns bei Oryx Glauben gemacht werden soll, dass sie irgendwie außer­halb Schneemanns Sichtfeld waren.) In der Rückschau hat dies einen deflationären Effekt, der meiste Pathos und die Nobilität von Schneemanns Leid wird abgezogen, und was wie eine Cyberpunk-Beckett-Tragik-Komödie wirkte, verwandelt sich in eine schlichte Komödie. (Interessanterweise ist vielleicht die größte »Leistung« von Das Jahr der Flut, dass es sich am Ende gar nicht mehr wie ein Roman von Atwood liest. Stattdessen ist es in der funktionalen Prosa eines mittelmäßigen Buches von Stephen King geschrieben, voll von standardmäßig zum Cyberpunk-Genre gehörenden harten Frauen, in einem postapokalyptischen Setting, dem überraschender­weise jede Lebendigkeit fehlt. Das Ergebnis hat Robert Macfarlane unvergesslich als »Dystoap-Opera« bezeichnet.)

Die Frage, die mich immer wieder beschäftigte, während ich sowohl Oryx und Crake als auch Das Jahr der Flut las, war: Warum sind diese Bücher nicht in demselben Maße erfolgreich wie Der Report der Magd? Wenn es sich bei Der Report der Magd um eine exem­plarische Dystopie handelt, dann weil der Roman das Imaginär-Reale des Neokonservatismus traf. Gilead war »Real« auf dem Level eines neokonservativen Begehrens, das die 1980er Jahre Reagans beherrschte; eine virtuelle Gegenwart, die die tatsächliche Gegenwart strukturierte. Desfred, die Mägde, die Marthas, die Mauer – diese Namen haben die nachhallende Konsistenz einer Welt. Doch den Neoliberalismus begreift Atwood nicht in derselben Weise wie den Neokonservatismus. Atwood scheint die billige Poesie der Markennamen deutlich zu unterschätzen, so banal wie sie ist; ihre Firmennamen sind hässlich und klobig, ohne Zweifel mit Absicht – vielleicht klingen die absurden Infantilismen der spät­kapitalistischen Semiotik für sie genauso. AnuYu, Helth­Wyzer, Happicuppa, Rejuv, und – am unbeholfensten – See/H/Öhr-Lekker-Bits: diese Namen haben mir physi­sche Schmerzen beim Lesen bereitet und es ist schwer, sich eine Welt vorzustellen, in der das führende Marken sind. Atwoods Fehler ist immer derselbe – die Namen sind unschöne Wortspiele mit den Funktionen oder Dienst­leistungen, die die Firma anbietet, während die Topmarken des Kapitalismus – Coca-Cola, Google, Star­bucks – zu Abstraktionen ohne Bedeutung geworden sind und der Hinweis auf die Taten der Firmen nur noch Bei­werk ist. Die kapitalistische Semiotik wiederholt die Tendenz des Kapitals zu immer größerer Abstraktion. (Für das Imaginär-Reale des Neoliberalismus tut man besser daran, Nick Lands Texte aus den 1990er Jahren zu lesen, die in Kürze wiederveröffentlicht werden.) At­woods Namen für genetisch zusammengeschusterte Tiere – Bauchschwein, Spinnenziege, Löwamm – sind eben­falls ein linguistisches Gemetzel; vielleicht hat sie ver­sucht, in der Sprache eine Parallele zur denaturalisie­renden Gewalt der Gentechnik zu finden. In jedem Fall sind diese Sprachmonster kaum woanders als in Atwoods Text zu finden (zumindest fehlt ihnen die düstere Glätte und beschwörende Kraft von Gibsons Neologismen).

Das größte Scheitern des Antikapitalismus in Das Jahr der Flut liegt jedoch in der Unfähigkeit, zu verstehen, in welchem Maße der Kapitalismus das Biologische und Grüne absorbiert hat. Die stärksten Passagen in Žižeks First as Tragedy, Then as Farce wiederholen diesen Punkt immer wieder. (Eine meiner Lieblingszeilen des Buches: »Wer glaubt denn wirklich daran, dass halb-vergammelte und überteuerte ›Bio‹-Äpfel gesünder sind als nicht-biologische Äpfel?«) Natürlich muss jede glaub­würdige linke Politik ökologische Belange zum Thema machen, aber es ist ein Fehler, nach einer »authenti­schen« Ökologie jenseits der simulierten Ökologie des Kapitalismus zu suchen. (Eine andere Lieblingszeile in First as Tragedy, Then as Farce: »Wenn es etwas Gutes am Kapitalismus gibt, dann dass Mutter Erde nicht mehr existiert.«) Organizismus ist das Problem und irgendeine Öko-Spiritualität wird die menschliche Umwelt nicht retten (wenn sie überhaupt gerettet werden kann), son­dern neue Formen der Organisation und Verwaltung.

Teil 2

Sie ist nicht meine Mutter 60

»Interviewer: Wenn man diesen Film sieht, fällt es schwer, nicht daran zu denken, dass all unsere Erin­ne­rungen Produkte sind.

Cronenberg: Das sind sie, das sind sie auf jeden Fall.«

Andrew O’Hehir

»The Baron of Blood does Bergman«61

»Watched from the wings as the scenes were replaying. We saw ourselves now as we never had seen. // Wir betrachteten das Schauspiel von der Seite. Wir sahen uns selbst wie noch niemals zuvor.«

Joy Division, »Decades«62

Cronenbergs Spider – eine Adaption von Patrick McGraths wunderbarem Roman – ist eine Studie über Schizophrenie, die meilenweit von den Klischees über »Wahnsinn« im Kino entfernt ist. Davon gibt es unzäh­lige Beispiele, aber das, was mir sofort in den Sinn kommt (vielleicht, weil ich es zuletzt gesehen habe), ist Windom Earl in der zweiten Staffel von Twin Peaks: brabbelnd, theatralisch, megaloman. Man denke auch an Jack Nicholsons Darstellung des Jokers im ersten Bat­man-Film. Wahnsinn wird hier als eine Form des absurd übersteigerten Egos dargestellt; ein Selbst, das keine Gren­zen kennt und sich unendlich ausdehnen möchte. In Cronenbergs Film hat Spider, gespielt von Ralph Fien­nes, zwar auch ein aufmerksames Bewusstsein seiner eigenen Grenzen, doch anstatt sich in die Welt hinaus auszubreiten, möchte er sich vielmehr zum Verschwinden bringen. Alles an ihm – sein Gemurmel, seine ungelen­ken Bewegungen – schreit nach Rückzug, Flucht und Angst vor der Außenwelt. Und zwar deswegen, weil in Cronenbergs Schizoversum das Außen schon im Innen ist. Und umgekehrt.

McGraths Roman ist als eine Reihe von Tagebuch­ein­trägen verfasst und spielt sich daher vollständig im Kopf des archetypisch unverlässlichen Erzählers Spider ab. Um das zu simulieren, hätte Cronenberg auf das Mittel des Voiceover zurückgreifen können, das im ursprünglichen Drehbuch vorgesehen war (obwohl alle, die Spike Jonzes Adaptation gesehen haben, sich an Robert McKees Tira­de über diese Technik erinnern werden). Aber am Ende streicht Cronenberg Spiders Stimme vollständig, wo­durch der Film merkwürdigerweise dem Roman eher ge­recht wird als der Roman selbst. Im Buch erlaubt Spiders Artikuliertheit dem Protagonisten eine Art Selbstwahr­neh­mung und (wenngleich begrenzte) Distanz von seiner Manie. Im Film gibt es diese Distanz nicht, es gibt keine Stimme des Erzählers, nur eine endlos produktive Erzähl-Maschine, die verschiedene Permutationen auswirft. An­stelle einer transzendenten Offscreen-Stimme sehen wir Spider als Figur innerhalb seines eigenen Deliriums, wir sehen ihn als Erwachsenen, wie er beobachtet und schreibt, immer wieder schreibt, während sich die Erinne­rungen an seine Kindheit abspielen. Wie Cronenberg es ausgedrückt hat, es ist, als ob Spider bei seinen Erinne­rungen selbst Regie führt. »Ein Journalist sagte mir: ›Wenn wir Spider in seinen Erinnerungen sehen, wie er durchs Fenster schaut oder sich in der Ecke versteckt, ist das nicht wie ein Regisseur am Set?‹ So hatte ich noch nicht darüber nachgedacht, aber es stimmt, dass er seine Erinnerungen immer wieder steuert und choreogra­phiert.«63 Wir werden daran erinnert, dass Spider jede Fi­gur in seinen Erinnerungen selbst spielt.

 

Bei Spider handelt es sich also um einen naturalisti­schen Expressionismus oder expressionistischen Natura­lis­mus. Das merkwürdig einsame London ist, so Cronen­berg, ein expressionistisches London. Spider fängt präzi­se die Atmosphäre der Zeit der gekochten Kartoffeln in den fünfziger Jahren ein, noch bevor der Rock’n’Roll die Bühne betrat, und die gedämpften Farben des Films sind so trüb wie Kochwasser.

Am meisten ähnelt Spider dem Film Naked Lunch; nicht nur, weil er auch auf einem angeblich unadaptier­baren Buch beruht, sondern auch, weil es in beiden Fil­men um Schreiben, Wahnsinn, Männlichkeit und den Tod einer Frau geht. Sowohl in Spider als auch in Naked Lunch ist das zentrale Ereignis der phantasmatisch immer wieder wiederholte Tod einer Frau, die Leerstelle, um die beide Filme kreisen. In Naked Lunch leugnet Lee zu­nächst den Mord an seiner Frau Joan und beruft sich auf die Kontrolle fremder Mächte. Erst als Lee am Ende des Films »gezwungen« ist, Joan erneut umzubringen, oder zumindest ihre Doppelgängerin, kann er ein Mindestmaß an Verantwortung übernehmen. Die Neuaufführung ihres Todes ist weniger ein Eingeständnis ethischer Verantwor­tung, sondern ein Versuch, die Tat selbst zu be­greifen. Darin besteht die Logik des Traumas. (Was uns an eine Beschreibung des Motivs des Schizophrenen in Die Schre­ckensgalerie von Ballard erinnert: »Er wollte Ken­ne­dy erneut töten, aber diesmal so, dass es Sinn ergibt.«

In Spider glauben wir zunächst, dass sein Vater, Bill Cleg (Horace im Roman), Spiders Mutter getötet hat, nachdem er eine Affäre mit dem »fetten Flittchen« Yvonne begann (Hilda im Roman). Erst als Bill Yvonne bei sich einziehen lässt, ermordet er brutal und beiläufig seine Frau und rollt sie in ein hastig gegrabenes Loch im Garten (»Weg mit dem Alten« sagt Yvonne kaltschnäu­zig). In diesem Moment erhärtet sich unser Verdacht, dass mit der Erzählung Spiders etwas nicht stimmt. Aber erst am Ende des Films erfahren wir, was wohl tat­säch­lich passiert ist: Spider hat seine Mutter umgebracht, er hat sie vergast, als er scheinbar einer Wahnvorstellung unter­lag und sie für eine andere Person hielt. Die frühen Unterhaltungen zwischen Spider und seinem Vater neh­men jetzt eine andere Bedeutung an (Spider: »Sie ist nicht meine Mutter«. Bill: »Wer ist sie denn dann?«). In der Schlussszene sieht man Bill, wie er Spider aus dem Haus rettet und verzweifelt versucht, Yvonne wiederzubeleben, aus der im Moment ihres Todes wieder die dunkelhaarige Mrs. Cleg geworden ist.

Während es sich hierbei um die übliche Deutung der Geschichte handelt, schließt der Film doch keine der narra­tiven Möglichkeiten, die er eröffnet, aus:

1. Bill hat seine Frau getötet und lebte wirklich mit einer Prostituierten namens Yvonne zusammen.

2. Bill hat seine Frau getötet, es gibt eine Prostituierte namens Yvonne, aber sie ist nicht bei Bill eingezogen.

3. Bill hat seine Frau getötet, aber es gibt keine Yvonne.

4. Spider, nicht Bill, hat seine Mutter getötet, aber Bill ist mit Yvonne nach dem Tod in das Haus gezogen.

5. Spider hat seine Mutter getötet, es gibt eine Pros­ti­tuierte namens Yvonne, aber sie ist niemals mit Bill zusammengezogen.

6. Spider hat seine Mutter getötet, aber es gibt keine Yvonne.

7. Weder Spider noch Bill haben die Mutter getötet, aber Bill ist nach ihrem Tod mit Yvonne zusam­men­gezogen.

8. Weder Spider noch Bill haben Mrs. Cleg getötet, es gibt eine Yvonne, aber sie ist nicht bei Bill eingezogen.

9. Weder Spider noch Bill haben Mrs. Cleg getötet und es gibt keine Yvonne.

Anstatt die Ambiguitäten des Romans von McGrath auf­zu­lösen, verstärkt Cronenbergs Film sie. Im Roman er­fah­ren wir zumindest (scheinbar), dass Spider für den Mord an seiner Mutter eingesperrt wurde (auch wenn dieser daran festhält, dass sein Vater für den Tod der Mutter verantwortlich ist). Im Film bleiben die zwanzig Jahre zwischen dem Tod von Mrs. Cleg und Spiders Ankunft in der Pension eine Leerstelle. Wir wissen im Umkehrschluss, oder wir glauben zu wissen, dass Spider in einer psychiatrischen Anstalt war, aber mehr nicht.

Miranda Richardsons Performance ist von entscheiden­der Bedeutung für die Erhaltung der polysemen Ambigui­tät des Films. Sie ist in allen drei Rollen hervorragend: als die tugendhafte brünette Mrs. Cleg, die zügellose blon­de Yvonne und auch als die plötzlich so unange­mes­sen sexuell aggressive Besitzerin der Pension, Mrs. Wil­kin­son. Die Situation wird darüber hinaus dadurch er­schwert, dass Yvonne zu Beginn von einer ganz anderen Schauspielerin gespielt wird (zumindest glaube ich das; es zeugt von dem mulmigen Delirium, das der Film ins­zeniert und von der Leistung Richardsons, dass ich mir nicht sicher bin), genauso wie Mrs. Wilkinson während des Großteils des Films von Lynne Redgrave gespielt wird.

Wie in Naked Lunch ist das Schreiben in Spider sowohl aktiv als auch passiv. Wie Bill Lee scheint auch Spider, wenn er irgendwelche idiolektischen Hieroglyphen in sein Notizbuch kritzelt, zunächst nur ein Signal von außen aufzuzeichnen. In anderer Hinsicht aber ist er der Schöpfer der ganzen Szene, er derealisiert sie.

In Gesprächen über den Film hat Cronenberg auf Nabo­kovs Theorie der Erinnerung und die Kunst als Mittel, das Unwiederbringliche zurückzuholen, verwiesen. Doch die Figur, die den Film dominiert, ist ein anderer Schrift­steller, den Brian McHale, wie Nabokov, als »Grenz-Mo­dernisten« bezeichnet hat, nämlich Samuel Beckett. Cro­nenberg hat gesagt, dass der Look von Spider, mit seinen spitz aufgestellten Haaren, sehr von Fotografien Samuel Becketts beeinflusst war, doch die Affinitäten mit Be­ckett reichen noch tiefer. Wie Molloy oder Malone, wühlt Spider ständig in seinen Taschen nach Talisman-artigen Objekten. Solche bruchstückhaften Dinge markieren die Wegstrecke ihrer »intensiven Reise«. Wie McGrath ver­führt uns Cronenberg dazu, uns mit Spider zu identifi­zie­ren (Cronenberg: »Ich bin Spider«) und nimmt uns mit auf seinen schizophrenen Spaziergang, um uns dann im Delirium im Stich zu lassen …