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Eine Welt aus Furcht und Angst 37

»Kein Schlaf. Nur Arbeit –

Immer hell.

Kopf an der Scheibe, Sonnenaufgang –

Auf den Straßen unten versammelten sich die Truppen. Die Rote Garde skandierte laut:

Scab, Scab, Scab –

Der Morgenchor der Sozialistischen Republik South Yorkshire.

Noch eine Tasse Kaffee. Noch ein Aspirin.«38

David Peace, GB84

GB84 von David Peace ist in einer Prosa verfasst, die so kalt und unerbittlich ist wie die Neonröhren einer Raststätte.

Der harsche, expressionistische Realismus, den Peace über die vier Bücher der Red Riding Quartett-Reihe hinweg perfektioniert hat, eignet sich hervorragend für die Themen von GB84, die Ereignisse rund um den Bergarbeiterstreik 1984/85. Die Zeit der Quartett-Reihe bewegte sich vorwärts – 1974, 1977, 1980, 1983 –, so als ob sich die Bücher dem schicksalhaften Jahr im Titel von GB84 immer weiter annähern, ohne es zu erreichen. Von dort aus geht es rückwärts; bei GB84 handelt es sich »eigentlich um den letzten Teil einer invertierten Nachkriegstrilogie, zu der auch UKDK gehört, ein Roman über den Plan der Ermordung Wilsons und dem sich anschließenden Aufstieg Thatchers sowie ein weiteres Buch, bei dem es vielleicht um die Regierung Atlee geht«. Vom Schauerkrimi zum politischen Gruselroman …39

Der kompromisslos parteiliche Roman endet mit der Beschwörung: »Dies ist England, Euer England – im Jahre Null.« 1985 jedoch, dem Jahr in dem sowohl der Streik als auch das Buch endet, war alles andere als ein Neuanfang oder eine Welt voller Möglichkeiten für das »uns« des Buches. (Tatsächlich steht zu diesem Zeitpunkt die Existenz dieses »uns«, des proletarischen Kollektivsubjekts, überhaupt infrage. Gleichzeitig ist GB84 der erste Roman von David Peace, in dem die Möglichkeit eines kollektiven Subjektes überhaupt erwogen wird. Normalerweise sind seine Figuren solipsistische Einzelwesen, die nur durch Gewalt verbunden sind, ihrem einzigen gemeinsamen Projekt.) Im Gegenteil: Es war das Jahr einer katastrophalen Niederlage, deren Ausmaße erst nach mehr als einem Jahrzehnt sichtbar wurden. (Vielleicht wurde die Niederlage erst mit der Wahl von New Labour zwölf Jahre später sowohl erkannt als auch zementiert.)

Heute wissen wir – auch wenn das nicht die Spannung des Romans ausmachen kann –, dass es sich bei dem Bergarbeiterstreik um eine gescheiterte Proletarisierung gehandelt hat. Auf die Ereignisse, die das Buch beschreibt, folgten Fragmentierung, neue Möglichkeiten für eine Minderheit, und Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung für die Mehrheit. Die mobilen Streikposten, die Arthur Scargill in den späten 1960ern und frühen 1970ern so erfolgreich einsetzte (und die an der Demütigung und dem Zusammenbruch der Regierung Heath entscheidenden Anteil hatten), wurde mit umfangreichen Mitteln bekämpft (einschließlich einer hochorganisierten Bekämpfung der Streikaktionen durch den MI5), die schon zu Zeiten entstanden, als die Tories noch in der Opposition waren. Das Ziel war, die Solidarität unter den Arbeitern zu zerschlagen und zu verhindern, dass sie durch andere Industriezweige unterstützt werden. Die Entstehung des Working Miners Committee und der Union of Democratic Mineworkers (UDM) waren dafür entscheidend. Die Deterritorialisierung des Kapitals – seiner Verwandlung in »Nachrichten, die unmittelbar von einem Knotenpunkt zum anderen geschickt werden, über die ganze, frühere Welt, die frühere materielle Welt«40 – ging nicht mit einer Deterritorialisierung der Arbeit einher. Die Bergarbeiter wurden dazu verführt, sich mit ihrem eigenen Territorium zu identifizieren, anstatt mit der Industrie als Ganzes; deswegen gingen die Bergarbeiter in Nottinghamshire und Derbyshire wieder an die Arbeit, weil sie glaubten, damit ihre Zukunft zu sichern, aber in einer bitteren Ironie der Geschichte kein besseres Schicksal erfuhren als die Bergarbeiter anderer Zechen. Innerhalb eines Jahrzehnts ging fast die gesamte Kohleindus­trie in England zugrunde und weder die Mitglieder der UDM noch der National Union of Mineworkers (NUM) hatten ein Auskommen.

Ja, all das wissen wir heute. Doch Peace stellte die Dramatik wieder her, indem er alles im Nachhinein gewonnene Wissen ausschließt. Die Ereignisse treten einem entgegen, wie als würden sie zum ersten Mal geschehen und zwar ohne den lindernden Schutzschild einer allwissenden Autorstimme. Wie Joseph Brooker in einem langen Artikel über GB84 in der aktuellen Ausgabe von Radical Philosophy schreibt41, fehlt dem Roman jede vermittelnde Metasprache. Die Tragik, die bereits von den ersten Szenen des Romans ausgeht, entsteht durch das Wissen, das wir, die Leser, vom Verlauf der Ereignisse mitbringen – aber das den Protagonisten notwendigerweise verwehrt ist.

Kontrafaktische Erzählung sind eine Domäne der reaktionären Rechten und Peace widersteht der Versuchung, die Tatsachen nachträglich zu verändern. Seine retrospekulative Literatur entsteht im Raum zwischen Fakten, Erschließung, Schlussfolgerung und Mutmaßung. Aber die Frage, die man sich als Leser stellen muss, ist: Was wäre, wenn die Bergarbeiter doch gewonnen hätten? (Eine Frage, die darum eine gewisse Brisanz enthält, weil spätere Erkenntnisse gezeigt haben, dass die Regierung einer Niederlage sehr viel näher war als vorher angenommen.) Das Narrativ, in dem der Streik nun stattfindet – dem einzigen Narrativ, das es gibt, der Geschichte des globalen Kapitals –, besagt, dass der Streik bereits den Rückgang organisierter Aufstände der Arbeiterklasse bedeutete. Die Niederlage war unvermeidlich, eingeschrieben in den historischen Übergang vom Fordismus zum Postfordismus. Die radikale Linke wird überflügelt und kämpft unter einem der Vergangenheit angehörenden Banner für die »Geschichte des Bergmanns. Die Tradi­tion des Bergmanns. Das Erbe ihrer Väter und deren Väter«42.

Eine solche Narrativierung wirft jedoch Fragen auf, da die Glaubwürdigkeit dieser Erzählung auf den Ereignissen des Streiks, wie sie sich wirklich entfaltet haben, beruht. Aber was, wenn es anders gewesen wäre? Unter dem Aspekt der Ewigkeit ist alles unvermeidlich und wir sind alle Spinozisten. Das Leben jedoch muss »vorwärts« gelebt werden, was uns zu Existenzialisten wie Sartre macht. Wenn man das Buch heute liest, entsteht zwangsläufig eine Spannung zwischen diesen beiden Positionen, zwischen dem Wissen, dass alles schon geschehen ist und so tun, als ob noch nichts geschehen wäre.

Eine Bande von Doppelgängern, fast Duplikaten, spukt durch die Seiten von GB84, dieser »Fiktion auf der Basis von Fakten«. Peace schreibt eine geheimnisvolle Geschichte der Gegenwart, in dem er die jüngste Vergangenheit simuliert. Die dramatis personae tragen nicht dieselben Namen wie ihr realhistorisches Pendent, manch­mal haben sie überhaupt keine Namen, sondern nur Titel, die ihre strukturelle Position markieren: der Präsident, der Vorsitzende, der Minister. Manchmal werden reale Namen leicht verändert; in GB84 wird aus dem Geschäftsführer der NUM Roger Windsor der glücklose Terry Winters. Das Verhältnis dieser Simulationen zu ihren realen Vorbildern ist komplex. Der Präsident ist nicht Scargill. Aber er ist auch nicht nicht Scargill. Ohne Zweifel hat Peace teilweise die Namen geändert, um juristische Probleme zu vermeiden, doch auf merkwürdige Weise verleiht die imaginative Freiheit, sich von den tatsächlichen Biographien zu entfernen, den Figuren mehr Wirklichkeit. Er schafft es, in ihr Inneres zu blicken, wie es ihm bei echten Personen nicht gelungen wäre.

Am kontroversesten ist seine Darstellung von Stephen Sweet, dem professionellen Streikbrecher, der nach dem Vorbild Thatchers rechter Hand, David Hart, entworfen ist. Hart war die treibende Kraft hinter der Gründung des Working Miners Committee und der UDM. Im Roman sehen wir, wie Sweet den entscheidenden Kampf zwischen Polizei und Streikposten in der Kokerei Orgreave plant. (Heute gilt es als schwerer strategischer Fehler der NUM, dass alle Ressourcen auf Orgreave verwendet wurden.) Sweet wird die ganze Zeit als »der Jude« bezeichnet. Auch wenn diese Designation unangenehm ist – was sie auch sein soll, wie Peace gesagt hat –, wird jeder Verdacht des Antisemitismus durch ein genaues Lesen des Romans sofort widerlegt. Alles, was wir von Sweet sehen, erfahren wir durch die Augen seines Chauffeur-Faktotums Neil Fontaine. (Diese Distanzierung ist wichtig, da Sweets Wichtigtuerei und Prunk ein bisschen unglaubwürdig wirken. Es scheint, als fehle Peace die Sympathie für eine überzeugende Darstellung der Figur. Vielleicht war Hart aber auch die leicht absurde Person, als die Peace ihn im Roman darstellt. Jedenfalls macht Peace nicht den Fehler, Sweet als wissentlich bösartige Figur zu portraitieren; im Gegenteil, Sweet sieht seine Arbeit in einem messianischen Licht.)

Fontaine, wahrscheinlich ein korrumpiertes Mitglied der Arbeiterklasse, der für den Geheimdienst gearbeitet hat, ist als Romanfigur ein leeres Blatt, ein auf seine Funktion reduzierter Mensch (im Buch wird er verdoppelt durch David Johnson, den Mechaniker, der zu seinem Antagonisten wird, in der Vergangenheit aber zweifelsohne ein Verbündeter war). Es ist Fontaine, ein Mann mit rechten Meinungen und Verbindungen und wenig Leidenschaften, der nicht aufhören kann, Sweet als »den Juden« zu sehen. Diese Perspektive unterstreicht die provisorische Natur der Allianz, die Thatcher ins Leben rief: Irgendwie konnten im Programm Thatchers Faschisten mit Juden koalieren und Nationalisten mit Agenten des multinationalen Kapitalismus.

 

Fontaine ist in GB84 auch das Bindeglied zwischen den offenen und geheimen Aktionen des Staates gegen die Streikenden. Es ist die Aufdeckung der Rolle, die der Geheimdienst MI5 spielte, die Peace auf das Terrain endemischer Korruption und Verrats führt, das er in der Red Riding Quartett-Reihe so eindrücklich abgesteckt hat. Obwohl Peace es eigentlich so meisterhaft versteht, sich (und damit uns) in das Leben unverbesserlich korrupter Marionetten hinein zu versetzen, gibt es in GB84 keinen Polizisten als Hauptfigur. Es gibt Funktionäre des Staates: Fontaine, Johnson, aber vor allem Malcom Morris, ein Mann, dessen Rolle im Schatten bleibt, eine Chiffre, ein Spezialist für Abhöraktionen, der in einem an Francis Bacon erinnernden Delirium glaubt, dass seine Ohren ständig bluten …

In GB84 ist der MI5 die entscheidende Institution, die Terry Winters spektakulär unkluge Reise nach Libyen or­ga­nisieren. Wie kann man die Fernsehbilder vergessen, in denen Roger Windsor Gaddafi in dessen Zelt küsst? Win­ters/Windsors Reise nach Libyen – nur ein paar Monate nachdem die Polizistin Yvonne Fletcher von libyschen Agenten getötet wurde – war ein wichtiger, vielleicht ent­scheidendes PR-Fiasko für die NUM. (Die tatsächliche Rolle von Libyen im Bergarbeiterstreik war ein wenig anders: Die Regierung Thatcher hatte unerlaubterweise die Ölimporte aus dem vermeintlich geächteten Regime erhöht, um der Gefahr von Stromausfällen vorzubeugen.) Das Ausmaß der Verschwörung zwischen Wind­sor/Win­ters und dem Geheimdienst bleibt offen. Er wollte den Roman als »Chaos« belassen, das der Streik war.

Die Verdopplung der historischen Fakten mit Peace’ Version von ihnen gehört zum Innersten des Romans, dessen fiktionaler Strang durch die Tagebucheinträge zweier Bergarbeiter gebrochen wird, Martin und Peter. Ihre Berichte, verfasst in dem Dialekt aus Yorkshire, den Peace so wunderbar einsetzt, waren »nicht fiktionalisiert«, so der Autor. Hier tauchen Scargill, Macgregor, Thatcher, McGahey und Heathfield unter ihren echten Namen auf. Die in der ersten Person verfassten Berichte zeugen vom düsteren Elend des Streiks, aber auch von der Kameradschaft, die einen Kontrast zu den Gemeinheiten, der Korruption und den hochrangigen Treffen darstellt, die den zentralen Erzählstrang des Romans ausmachen.

Peace sagt, dass er zuerst sich selbst in die Vergangenheit versetzt und dann beginnt, sich Vorstellungen zu machen. Es ist wie eine Art Method Writing oder eine Zeitreise. Peace hat dafür eine Reihe von Tricks ausprobiert. Er verwendet skeptische Zeitungsberichte, Bücher, aber vor allem Popmusik – nicht die Musik, die er selbst angehört hätte oder überhaupt gehört hat, sondern Songs, die damals allgegenwärtig waren und so zu einer Art Audio-Madeleines werden. Und so durchsucht er den Schund der Flohmärkte aus den Jahren 1984 und 1985 und findet unter dem dumpfen Glanz des weggeworfenen Post-New-Pop eine codierte Geschichte des Streiks. GB84 beginnt mit Nenas »99 Luftballons«, das zu einem apokalyptischen Karnevalslied wird, voll von all den Hoffnungen, die am Ende des langen Gewaltmarschs des Romans enttäuscht darnieder liegen. »Two Tribes« ist der Soundtrack zur nächsten Phase, der Konfrontation zwischen der Polizei und den Bergarbeitern (beide Lieder spielten natürlich mit den Ängsten des Kalten Kriegs, als sie veröffentlicht wurden; eine weitere Erinnerung daran, wie weit die Welt von 1984 von uns entfernt ist). Der Rausch und das Adrenalin der ständigen Zusammenstöße, des Wir gegen Sie, wird verdächtig (wer ist auf unserer Seite und wer auf der Seite der anderen?). »Two Tribes – Den verdammten Song höre ich jetzt schon seit Wochen mindestens zehn Mal am Tag, den können sie doch gleich zur neuen Nationalhymne machen, sagte Sean.«43 Für die letzte Phase des Streiks gräbt Peace »Careless Whisper« («guilty feet have got no rhythm«) und – weil der Winter kalt, aber nicht kalt genug war und die Stromausfälle ausblieben – »Do they know it’s Christmas« von Band Aid. Im Roman wird spekuliert, ob Band Aid ein von der Regierung geplanter Schachzug ist, um von den Nöten der Bergarbeiter abzulenken und die Zeile, die Peace für sein Sampling auswählt ist natürlich »There’s a world outside your window, and it’s a world of dread and fear.«

Sampling ist genau der richtige Begriff, da Pop, viel mehr als Literatur, Film oder Fernsehen (Peace hegt starkes Misstrauen gegenüber den letzten beiden), Peace eine Methode bietet, um seine Sätze in Wiederholungen und Refrains zu verwandeln, die damals gang und gäbe waren. Wiederholung ist das Markenzeichen von Peace’ Stil; bekanntlich hat Peace gesagt, der Streik sei eminent repetitiv gewesen und dass seine Prosa das wiederspiegle. Sein Krimi macht keine Anstrengungen, den Leser für Intrigen und Geheimnisse zu interessieren; der Plot von GB84 existiert bereits vorher als eine Art Readymade. Und was an Peace ungewöhnlich intimen Stil nicht sofort auffällt – man hat das Gefühl, das man einer Person an ihre geheimen Orte folgt –, ist die eigentümliche Tatsache, dass die Figuren kein sogenanntes »Innenleben« haben. Sie zeichnen sich weniger durch reflexive Vitalität als durch todestrieb-ähnliche Wiederholungen aus, durch Riffe, Echos und Gewohnheiten.

Im Endeffekt ist GB84 poetischer als viele Poesie; es handelt sich aber natürlich um eine von Lyrik befreite Poesie, eine streng dissonante Wortmusik. Peace ist ein Schriftsteller, der eine große Aufmerksamkeit gegenüber Klängen besitzt: Die niemals schlafende Beobachtung durch die Staatsmacht symbolisiert das »Klick, Klick« einer Telefonüberwachung, die Massen an Polizisten das »Krk, Krk« der Stiefel und der Klang der auf Schilder geschlagenen Knüppel, und beide Klänge werden so oft wiederholt, dass sie gleichsam zum Hintergrundrauschen werden, als Teil des paranoiden Ambientes. Die Rezension im Telegraph bemerkte ganz richtig, dass der Roman »manchmal wie ein Summen im Ohr wirkt, wie das literarische Äquivalent zu Bands aus den späten 1970er Jahren wie Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire.« Noch mehr gleicht das Buch zwei Antworten auf den Streik aus dem Post-Punk: Mark Stewarts As the Veneer of Democracy Starts to Fade (Keith Leblanc produzierte auch die Single »The Enemy Within«) und Test Departments The Unacceptable Face of Freedom.

Einer der Gründe, warum 1985 wie das schlechteste Jahr des Pop in seiner Geschichte wirkt, war der Beginn der Restauration. Bis 1984 war die englische Populärkultur und die Politik noch ein umkämpftes Feld. 1985 war das Jahr von Live Aid und der Beginn eines falschen Konsens’, der kultureller Ausdruck des globalen Kapitals. Wenn Live Aid ein Nicht-Ereignis ist, das stattgefunden hat, war der Bergarbeiterstreikt ein Ereignis, das nicht stattgefunden hat.

»Schwerter und Schilde. Stecken und Steine. Pferde und Hunde. Blut und Knochen –

Die Armeen der Toten waren erwacht, bereit zur letzten Schlacht –

Die Windschutzscheibe des Granadas wurde von einem heftigen Blitz erleuchtet –

Straße. Hecke. Bäume –

Feuerschein erhellte die Nacht. Der Nebel wich Qualm. Blaue und rote Lichter –

Terry zerrte an Bills Arm. Zerrte und zerrte. Bill schlug die Augen auf –

›Wo sind wir?‹ rief Terry. ›Wo sind wir hier?‹

›Am Anfang und Ende von allem‹, antwortete Bill. ›Brampton Bierlow. Cortonwood.‹

›Aber was ist denn hier los?‹ schrie Terry. ›Was ist das?‹

›Das ist das Ende der Welt‹, antwortete Bill Reed lachend. ›Das Ende all unserer Welten.‹«44

Ripleys Glam 45

»Er haßte den Gedanken, wieder Thomas Ripley zu sein, haßte es, ein Niemand zu sein, haßte es, seine alten Gewohnheiten wieder anzunehmen, zu spüren, daß man wieder auf ihn herabsah, daß man sich mit ihm langweilte, es sei denn, er gab eine Schau wie ein Clown, haßte es, sich inkompetent zu fühlen und unfähig, etwas mit sich anzufangen, außer daß er andere Leute für wenige Augenblicke zu amüsieren verstand.«46

Patricia Highsmith, Der talentierte Mr. Ripley

Vieles von dem, worum es im Glam geht, können wir aus diesen Zeilen aus Der talentierte Mr. Ripley lernen.

Es ist nicht unbedeutend, dass Highsmith den ersten Ripley-Roman 1955 schrieb und erst 1970 zu der Figur zurückkehrte. Tom Ripley und seine Fokussierung auf Teenager-Begehren, soziale Aufmüpfigkeit und dionysischer Exzess hätte nicht in die Ära des Rock’n’Roll gepasst. Sein »hedonistischer Konservatismus«, sein Snobismus und sein Umgang mit Masken und Verkleidungen jedoch machen ihn zu einem perfekten Bewohner des Marienbad-ähnlichen Glam-Reiches. Wenn der Rock der 1960er sich einerseits dadurch auszeichnete, dass er auf ein großes Anderes anspielte (Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung und/oder mehr Genuss), und andererseits aber die Existenz der symbolischen Ordnung als solcher negierte (Psychedelika), bestand Glam anfänglich in einer hyperbolischen/parodierenden Identifikation mit dem großen Anderen – in der Rückkehr von Zeichen und/des Status.

In den oben zitierten Sätzen gibt es offenkundig zwei Toms: »Thomas Ripley«, die soziale Rolle und Tom, der diese Rolle spielt; Tom, das sprechende Subjekt, und Tom, das Subjekt des Gesprochenen. Am Anfang von Der talentierte Mr. Ripley sind beide Figuren »niemand« – als sprechendes Subjekt, so wie alle sprechenden Subjekte, ist Tom ein ontologisches Nichts; und als Subjekt des Gesprochenen ist er ein gesellschaftliches Nichts. Auf dieser Stufe ist Tom noch weit von der sorglosen, gelassenen Figur entfernt, als die er später auftreten wird; Selbstbewusstsein kann er nur simulieren, wenn er die Rolle anderer Menschen annimmt. Nicht, dass Tom keinen Status besäße; er hat nur keinen Platz in der sozialen Hierarchie. Sein Status ist nicht einmal niedrig. Seine unbestimmbare gesellschaftliche Herkunft und seine Fähigkeit zu imitieren und zu fälschen (die Fähigkeiten, auf denen seine Anti-Karriere als Betrüger aufbaut) bedeuten, dass er nirgendwo hineinpasst. Tom erfährt diese Nichtigkeit auf klassisch existenzialistische Weise, er fühlt sich unvollständig, leer, unentschlossen, unwirklich.

Doch das Buch verwandelt sich in eine Art Schelmenroman, in dem am Ende Tom die (finanziellen) Mittel besitzt, um einen Thomas Ripley zu erschaffen, dessen Verkörperung er nicht mehr hasst. Am Beginn des nächsten Romans, Ripley Under Ground, ist offensichtlich, dass Tom zu einer solchen Figur geworden ist bzw. sie geschaffen hat. Tom ist seine beste Fälschung gelungen – ein Thomas Ripley, der unabhängig und reich ist, ein elegantes Haus in der Pariser Vorstadt besitzt und mit einer schönen, hedonistischen Erbin verheiratet ist. Von nun an geht es Ripley nicht mehr um die Herstellung einer Identität, sondern darum, den erreichten Status zu bewahren und zu verteidigen.

Ripleys Entwicklung gleicht auf unheimliche Weise der von Brian Ferry. Roxy Music und For Your Pleasure, diese Übungen im Er- und Verlernen von Akzenten und Umgangsformen, sind die Pop-Äquivalente von Der talentierte Mr. Ripley. Die Kleidung, das Auftreten und die Stimme sind vorgetäuscht, aber noch nicht ganz perfekt. Man erkennt die Herkunft noch und das schmerzhafte Drama, jemand zu werden, der man nicht ist, ist existenziell aufgeladen. Stranded und die darauffolgenden Alben sind hingegen das Pendant zu den späteren Romanen von Patricia Highsmith; hier ist der Erfolg bereits vorausgesetzt und das zwar banale aber geschmackvolle Idyll wird einzig durch Ennui infrage gestellt, einem bestimmten Unwohlsein in der Zufriedenheit und – am bedrohlichsten – durch die Gefahr der Rückkehr der Vergangenheit. Die fade Ländlichkeit von Roxys Avalon – aufgenommen zu einer Zeit, da Ferry selbst mit einer Erbin verheiratet war und auf einem Landgut lebte – ist der perfekte Soundtrack zu Thomas Ripley in seinem Harpers & Queens entsprungenen Anwesen Belle Ombre, wie er sich gemeinsam mit seiner Frau, Heloise, die Zeit vertreibt.

Als erster Schritt zur Verwandlung Tom Ripleys in einen Jemand stellt sich die vampirische Aneignung der Identität von Dickie Greenleaf heraus. Ich sage »stellt sich heraus«, weil – anders als der Film von Anthony Minghella es nahelegt – Tom nicht schon mit dem Gedanken nach Europa geht, Dickie zu zerstören. Ripley ist ein brillanter Improvisator, kein Planer; die Pläne, die er macht, sind kurzfristig und führen oft zu mehr Problemen als sie lösen, und er schöpft Freude daraus, die Sachen wieder in Ordnung zu bringen, anstatt sie von vornherein zu vermeiden.

 

Am Anfang ist Toms Haltung gegenüber Dickie ambivalent und nicht einfach räuberisch – er ist aggressiv und neiderfüllt, aber auch herzlich. Wenn Tom ein Nichts ist, ein Chaos von nicht erreichten Zielen, ein Tumult aus Scham und Unzulänglichkeit, dann ist Dickie hingegen wirklich ein Jemand, ein Objekt, entschlossen und wirklich, mit der »Festigkeit eines Steins«. Indem Tom seinen Platz einnimmt, kann er dem Schmerz, der Angst und dem Unbehagen, dass es bedeutet, er selbst oder ein Selbst zu sein, entfliehen. Ein Objekt zu werden – vom Druck der Subjektivität befreit zu werden, ungestört zu sein von jeder Innerlichkeit – ist das nicht eine der zentralen Phantasien des Glam? Žižek hat sicherlich recht, wenn er konstatiert, dass die Sexualisierung der Beziehung zwischen Tom und Dickie in Anthony Minghellas Film ein Fehler ist. Und dennoch ist Žižeks Argumentation nicht vollkommend zutreffend. Er schreibt:

»Für Tom ist Dickie nicht das Objekt seines Begehrens, sondern das ideale begehrende Subjekt, das übertragene Subjekt, das ›angeblich weiß, wie man begehrt.‹ Kurz gesagt, Dickie wird für Tom sein Ideal-Ich, die Figur seiner imaginären Identifikation: Wenn er immer wieder begehrende Seitenblicke auf Dickie wirft, dann ist das kein Beweis für sein erotisches Begehren, mit Di­ckie in sexuellen Kontakt zu kommen, also Dickie zu HABEN, sondern seines Begehrens, Dickie zu SEIN.«47

Žižeks Analyse erkennt aber nicht, dass Dickies Erhebung zum Ideal-Ich nicht gelingt. Der entscheidende Moment des Romans ist, als Ripley die Phantasie einer Identifikation mit Dickie nicht länger aufrechterhalten kann. Wenn Tom in Dickies Augen schaut und dort nicht die Fenster zur Seele erblickt, mit der er sich identifizieren kann, sondern die tote, glasige Oberfläche einer trägen und idiotischen Puppe, fällt er (zurück) in ein tiefe existenzielle Krise und erlebt einen Moment tiefer kosmischer Abscheu und miserabler Orientierungslosigkeit.

»Er starrte in Dickies blaue Augen, die immer noch finster blickten, auf die sonnengebleichten, weißen Augenbrauen und auf die Augen selbst, glänzend und leer, nichts als kleine Kugeln aus hellblauem Gelee mit einem schwarzen Punkt darin, ausdruckslos, ohne jede Beziehung zu ihm. Man soll ja durch die Augen in die Seele schauen können, durch die Augen Liebe erblicken können, die Augen sollen das einzige Fleckchen am Körper des Mitmenschen sein, in das man hineinschauen, in denen man sehen kann, was innen wirklich vor sich geht, aber in Dickies Augen sah Tom jetzt nicht mehr als in der harten, blutlosen Oberfläche eines Spiegels. Tom fühlte einen schmerzhaften Riß in der Brust, und er verbarg sein Gesicht in den Händen. Es war, als wäre Dickie ihm plötzlich entrissen worden. Sie waren keine Freunde. Sie kannten sich nicht. Darin sah Tom die entsetzliche Wahrheit, sie galt für alle Zeiten, für alle Menschen, die er früher gekannt hatte, für alle Menschen, die er künftig noch träfe: jeder hat vor ihm gestanden, wird vor ihm stehen, und er wird immer und immer wieder wissen, daß er sie niemals kennt, und das schlimmste ist, daß er immer eine Zeitlang die Illusion haben wird, er kennte sie, er und sie seien völlig im Einklang miteinander und eins. Einen Augenblick lang schien der wortlose Schock seiner Erkenntnis mehr, als er ertragen konnte. Es war, als schnürte ihm ein würgender Griff die Luft ab, als müsse er gleich zu Boden sinken.«48

Einerseits registriert Tom hier zweifelsohne Dickies Zurückweisung. Andererseits kommt aber auch Toms Abscheu gegenüber Dickie zum Ausdruck. Was Tom »entrissen« wurde, ist nicht länger Dickie »selbst«, sondern die Phantasievorstellung von Dickie. Es scheint, als könne Tom (sich selbst gegenüber) nicht länger so tun, als sei Dickie irgendetwas anderes als eine einigermaßen mittelmäßige Person; so als ob er, zum ersten Mal, mit der brutalen, dummen Körperlichkeit von Dickie in Kontakt kommt – ihn wirklich gesehen hat, ohne den Schein/ Glanz der Phantasie, der ihn seligspricht.

Toms Bruch mit Dickie ist schon etwas früher unvermeidlich geworden, in einer unglaublich schmerzhaften Szene, als Dickie bemerkt, wie Tom seine Kleidung trägt und ihn im Spiegel imitiert. Dickie ist angewidert und verärgert von Toms Imitation (was ist angsteinflößender als jemandes Ideal-Ich zu sein?), während Tom tief beschämt ist, dass Dickie ihn erwischt hat (was ist beschämender als von seinem Ideal-Ich beim Phantasieren über dasselbe erwischt zu werden?). Interessanterweise macht Dickie genau denselben Fehler wie Minghella: Er (fehl-) interpretiert Toms Verhalten als sexuelle Obsession und nutzt den Moment, um Tom nachdrücklich zu erklären, dass er nicht »schwul« sei. Doch Toms Wunsch, Dickie zu sein, ist viel obszöner, viel tödlicher, viel burroughesquer, als wenn er ihn nur hätte haben wollen.

Sobald Tom seine phantasmatische Identifikation mit Dickie nicht länger aufrechterhalten kann, erzwingt die Logik seiner Psychose, dass die einzige Möglichkeit, die existenzielle Krise – sein Mangel an Sein – zu lösen, darin besteht, Dickie zu töten. Das hat zum Teil damit zu tun, dass Dickie in Ripleys Vorstellung bereits tot ist: eine seelenlose Hülle, die unberechtigt zu Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen gekommen ist, die der stilvolle und gebildete Tom für sich beansprucht. Tom ist sich sicher, dass er besser Dickie sein kann als Dickie selbst und so wird Dickie das Material, aus dem Tom sein Meisterwerk schafft, den neuen Thomas Ripley. Indem Tom Dickie tötet, »verdient« er sich in gewisser Weise dessen Status unter den unproduktiven, feinen Leuten. Schon vor diesem Aufstieg hegt Tom eine Abneigung gegen »Schufterei«. Der Unterschied zwischen Tom, dem gewöhnlichen Dieb und Betrüger, und Tom, dem Mitglied der Elite des Müßiggangs, ist ein erfolgreicher Akt der Gewalt. Laut Thorstein Veblen gründet die »müßige Klasse« auf der »barbarischen« Unterscheidung zwischen Ausbeutung – »der Verwandlung von Kräften – die ursprünglich von einem anderen Agens für andere Zwecke bestimmt waren – und in deren Lenkung für die eigenen Zwecke« – und Industrie (oder Schufterei) – »das Bemühen, aus dem passiven ›rohen‹ Stoff etwas Neues mit einem neuen Zweck zu schaffen«.49 Wie ein Vampir muss sich der Herr immerzu die Arbeit anderer aneignen, niemals produziert er selbst.

»Aus demselben Grunde bringt man der produktiven Arbeit oder der Beschäftigung im Dienst einer andern Person nichts als Verachtung entgegen. Auf diese Wie­se entsteht die diskriminierende Unterscheidung zwischen Heldentat und gewaltsamem Erwerb auf der einen und produktiver Arbeit auf der anderen Seite. Die Arbeit wird als Bürde empfunden, weil ihr das Odium des Verächtlichen anhaftet.«50

Die Jagd war immer schon eine Tätigkeit, auf die die fei­nen Leute stolz waren und Ripley ist ein perfekter Jäger (Beute ist eine der Bedeutungen von Ripleys Game).

Die Anwendung mörderischer Gewalt, um eine privilegierte Position zu erreichen und zu erhalten, ist alles andere als eine Abweichung, und Tom hat genauso wenig mit Konsequenzen zu rechnen wie die Räuber der herrschenden Klasse der Wirklichkeit. (Highsmiths Weigerung, den Opfern in ihren Romanen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ganz so wie es in der unserer Welt geschieht, ist einer der subversivsten Aspekte ihrer Figurendarstellung.) Wenn Toms Handeln pathologisch ist, dann sind seine Pathologien die Pathologien einer bestimmten Klasse; von seinen neuen Freunden trennt ihn einzig, dass das Blut, das er vergießt, frisch ist (und seine Bereitschaft, selbst zur Tat zu schreiten). Im Gegenteil, die Figur des Thomas Ripley ist deswegen so furchterregend, weil er Mord als eine praktische Aufgabe, ohne jede existenzielle oder affektive Dimension betrachtet. Ripleys Morde zeichnen sich durch ihre Kälte und den Mangel an Grausamkeit aus; bekanntermaßen tötet Ripley nur, weil er muss, nicht weil es ihm gefällt. Ripley tötet aus einer kalten, utilitaristischen Logik heraus, er eliminiert die, die ihm im Weg stehen oder ihn entlarven könnten. Nochmals, die sorgsam aufrecht erhaltene Unterscheidung zwischen der gewalttätigen, obszönen Unterseite und einer blassen, offiziösen Oberfläche gehört zur normalen Praxis von Macht und Privileg und ist alles andere als abweichend. Es sind keine moralischen Skrupel, die Ripley antreiben (die kennt er überhaupt nicht), sondern die Angst vor Demütigung. Julie Walker formuliert es so: