Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre
Font:Smaller АаLarger Aa

LUNATA

Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

© 1882, 1884, 1857 Lew Tolstoi

Originaltitel Dětstvo, Otročestvo, Junost'

Aus dem Russischen von Hanny Brentano

Umschlagbild: Henry Raeburn

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

I. Kindheit

Der Hauslehrer Karl Iwanowitsch

Maman

Papa

Der Unterricht

Der Idiot

Vorbereitungen zur Jagd

Die Jagd

Spiele

Etwas wie eine erste Liebe

Was mein Vater für ein Mann war

Beschäftigungen im Arbeitszimmer und im Salon

Grischa

Natalia Ssawischna

Die Trennung

Kindheit

Das Gedicht

Die Fürstin Kornakow

Fürst Iwan Iwanowitsch

Die Iwins

Die Gäste kommen

Vor der Mazurka

Die Mazurka

Nach der Mazurka

Im Bett

Der Brief

Was uns auf dem Lande erwartete

Trauer

Die letzten traurigen Erinnerungen

II. Knabenalter

Wagenfahrt

Das Gewitter

Neue Anschauungen

In Moskau

Mein älterer Bruder

Schrot

Karl Iwanowitschs Geschichte

Fortsetzung des Vorhergehenden

Fortsetzung

Die Eins

Das Schlüsselchen

Die Verräterin

Verblendung

Phantasien

Kommt Zeit, kommt Rat

Haß

Wolodja

Papa

Großmama

Ich

Wolodjas Freunde

Betrachtungen

Anfang der Freundschaft

III. Jünglingsjahre

Was ich als den Anfang der Jünglingsjahre betrachte

Frühling

Unser Familienkreis

Lebensregeln

Die Beichte

Die Fahrt ins Kloster

Die zweite Beichte

Wie ich mich zum Examen vorbereitete

Das Geschichtsexamen

Das Mathematikexamen

Das Lateinexamen

Ich bin erwachsen

Was Wolodja und Dubkow trieben

Ich werde beglückwünscht

Der Streit

Ich will Besuche machen

Die Walachins

Die Kornakows

Die Iwins

Fürst Iwan Iwanowitsch

Ein vertrauliches Gespräch mit meinem Freunde

Die Nechljudows

Ich werde heimisch

Ich zeige mich von der vorteilhaftesten Seite

Dmitrij

Auf dem Lande

Meine Beschäftigungen

Jugend

Unsere Nachbarn

Die Heirat unseres Vaters

Wie wir diese Mitteilung aufnahmen

Die Universität

Die Gesellschaft

Der Kneipenabend

Die Freundschaft mit den Nechljudows

Freundschaft mit Nechljudow

Neue Kameraden

Ich falle durch

Teil I

Kindheit


Der Hauslehrer Karl Iwanowitsch

Am 12. August 18.., genau am dritten Tage nach meinem Geburtstage, an dem ich zehn Jahre alt geworden war und so wundervolle Geschenke erhalten hatte, weckte mich Karl Iwanowitsch um sieben Uhr früh auf, indem er gerade über meinem Kopfe mit einer Fliegenklappe – Zuckerhutpapier an einem Stocke – nach einer Fliege schlug. Er tat das so ungeschickt, daß er das Bildchen meines Schutzheiligen, welches an der Eichenwand meines Bettes hing, berührte, und daß mir die getötete Fliege gerade auf den Kopf fiel. Ich steckte die Nase unter der Bettdecke hervor, hielt das Heiligenbild, das noch immer hin und her schaukelte, mit der Hand an, warf die tote Fliege auf den Fußboden und blickte mit zwar verschlafenen, aber bösen Augen auf Karl Iwanowitsch. Der aber – in buntem, wattiertem Schlafrock, mit einem Gürtel aus gleichem Stoff umgürtet, ein rotes, gestricktes Käppchen mit Troddel auf dem Kopfe und weiche Ziegenlederschuhe an den Füßen – fuhr fort, an den Wänden entlang zu gehen, nach den Fliegen zu zielen und zu klatschen.

 

»Ich bin zwar noch klein«, dachte ich, »aber dennoch, warum stört er mich? Warum schlägt er nicht bei Wolodjas Bett nach den Fliegen? Dort sind doch so viele! Aber Wolodja ist älter als ich, und ich bin der Allerkleinste, daher quält er mich. Sein Leben lang denkt er nur nach«, murmelte ich, »wie er mir etwas Unangenehmes zufügen könnte. Er sieht sehr gut, daß er mich aufgeweckt und erschreckt hat, tut aber so, als merke er nichts ... Ein unausstehlicher Mensch! Und der Schlafrock und das Käppchen und die Troddel – alles ist unausstehlich!«

Während ich so in Gedanken meinem Ärger über Karl Iwanowitsch Ausdruck gab, trat er an sein Bett, sah nach der Uhr, die über dem Bett in einem perlgestickten Pantöffelchen hing, hing die Fliegenklappe an den Nagel und wandte sich in sichtlich ausgezeichneter Laune zu uns.

»Auf, Kinder, auf! 's ist Zeit! Die Mutter ist schon im Saal!« rief er mit seiner gutmütigen deutschen Stimme in seiner Muttersprache, dann trat er an mein Bett, setzte sich am Fußende nieder und zog die Tabaksdose aus der Tasche. Ich stellte mich schlafend. Karl Iwanowitsch nahm eine Prise, putzte seine Nase, schnalzte mit den Fingern, und dann erst widmete er sich mir. Leise lachend begann er meine Fußsohlen zu kitzeln.

»Nun, nun, Faulenzer!« sagte er.

So sehr ich auch das Kitzeln fürchtete, sprang ich doch nicht aus dem Bett und antwortete auch nicht; ich grub den Kopf noch tiefer in die Kissen, strampelte aus Leibeskräften mit den Beinen und bot alles auf, um das Lachen zu verbeißen.

»Wie er gut ist, und wie er uns liebt! Und ich konnte schlecht von ihm denken!« sagte ich mir. Ich war ärgerlich über mich selbst und über Karl Iwanowitsch; mir war halb nach Lachen und halb nach Weinen zumute: meine Nerven waren erregt.

»Ach lassen Sie, Karl Iwanowitsch!« rief ich mit Tränen in den Augen, den Kopf aus den Kissen hervorsteckend.

Karl Iwanowitsch war verwundert, ließ meine Sohlen in Ruhe und fing an, mich besorgt auszufragen: was mir fehle? Ob ich etwas Schlechtes geträumt habe? – Sein gutes deutsches Gesicht, die Teilnahme, mit welcher er sich bemühte, die Ursache meiner Tränen zu erraten, ließen diese noch reichlicher fließen: ich schämte mich, und es war mir unverständlich, wie ich einen Augenblick früher Karl Iwanowitsch nicht lieben und seinen Schlafrock, das Käppchen und die Troddel unausstehlich finden konnte; jetzt erschien mir das alles im Gegenteil außerordentlich lieb, und sogar die Troddel kam mir wie ein deutlicher Beweis seiner Güte vor. Ich erzählte ihm, daß ich wegen eines bösen Traumes weinte: ich hätte geträumt, daß Maman gestorben sei und beerdigt werden sollte. Das alles erfand ich, weil ich mich gar nicht mehr erinnerte, was ich in dieser Nacht geträumt hatte. Aber als Karl Iwanowitsch, durch meine Erzählung gerührt, mich zu trösten und zu beruhigen anfing, schien es mir, als hätte ich wirklich so schrecklich geträumt, und meine Tränen strömten nun schon aus anderem Grunde.

Als Karl Iwanowitsch mich verlassen hatte und ich, im Bette aufrecht sitzend, die Strümpfe auf meine kleinen Füße zog, versiegten die Tränen allmählich, doch die trüben Gedanken an den erfundenen Traum verließen mich nicht. Unser Instruktor Nikolaj trat ein, ein kleines, reinliches Männchen, immer ernst, pünktlich, ehrerbietig und sehr befreundet mit Karl Iwanowitsch. Er brachte unsere Kleider und Schuhe: für Wolodja Stiefel, für mich immer noch die unausstehlichen Schuhe mit Schleifchen. In seiner Gegenwart hätte ich mich geschämt zu weinen, auch schien die Morgensonne so lustig durchs Fenster, und Wolodja, über die Waschschüssel gebeugt, ahmte Maria Iwanowna (die Gouvernante meiner Schwester) nach und lachte dazu so lustig und laut, daß sogar der ernste Nikolaj, der mit dem Handtuch über der Schulter, der Seife in der einen und dem Wasserkrug in der andern Hand neben ihm stand, lächelnd sagte:

»Hören Sie doch auf, Wladimir Petrowitsch; bitte, waschen Sie sich!«

Ich war ganz heiter geworden.

»Sind Sie bald fertig?« ließ sich Karl Iwanowitsch aus dem Unterrichtszimmer vernehmen. Seine Stimme klang streng und hatte nicht mehr jenen Ausdruck von Güte, der mich zu Tränen gerührt hatte. Im Schulzimmer war Karl Iwanowitsch ein ganz andrer Mensch: dort war er Lehrer. Ich zog mich schnell an, wusch mich und folgte seinem Rufe noch mit der Bürste in der Hand, meine nassen Haare glättend.

Karl Iwanowitsch saß, mit der Brille auf der Nase und einem Buche in der Hand, auf seinem gewöhnlichen Platze zwischen Tür und Fenster. Links von der Tür befanden sich zwei Bücherbretter: eines für uns Kinder, das andere für Karl Iwanowitsch – sein »eigenes«. Auf dem unsrigen standen Bücher jeder Art, Lehrbücher und Nichtlehrbücher, die einen aufrecht, die andern liegend. Nur zwei große Bände Histoire des voyages in rotem Einband lehnten würdevoll an der Wand; dann aber folgten lange, dicke, große, kleine Bücher, Deckel ohne Bücher und Bücher ohne Deckel; gewöhnlich wurde alles dort hineingestopft und -gedrückt, wenn es hieß, vor der Pause müsse die »Bibliothek« in Ordnung gebracht werden, wie Karl Iwanowitsch dieses bescheidene Bücherbrett hochtrabend nannte. Die Büchersammlung auf seinem Privatbrett war, wenn auch nicht so groß wie die unsere, so doch noch verschiedenartiger. Ich erinnere mich an drei Bücher: eine deutsche Broschüre über das Düngen von Kohlgärten – ohne Einband; einen Band der Geschichte des siebenjährigen Krieges – in Pergament, mit einer verbrannten Ecke; und ein vollständiges Lehrbuch der Hydrostatik. Karl Iwanowitsch verbrachte den größten Teil seiner Zeit mit Lektüre und hatte sich dadurch sogar seine Augen verdorben, er las aber nichts andres als diese Bücher und »Die nordische Biene«.1

Unter den Gegenständen, die auf dem Bücherbrett von Karl Iwanowitsch herumlagen, war einer, welcher ihn mir ganz besonders ins Gedächtnis ruft. Es war eine Scheibe aus Pappe in einem hölzernen Fuße, in dem sich die Scheibe durch kleine Zapfen bewegen ließ. Auf die Scheibe war ein Bild geklebt, welches die Karikatur irgend einer Dame und ihres Friseurs darstellte. Karl Iwanowitsch war sehr geschickt in Papparbeiten, und diese Scheibe hatte er selbst erfunden und zum Schutze seiner schwachen Augen gegen grelles Licht hergestellt.

Heute noch sehe ich die lange Gestalt vor mir: in wattiertem Schlafrock und mit dem roten Käppchen, unter welchem spärliche graue Haare hervorschimmern. Er sitzt neben dem Tischchen, auf welchem die Scheibe mit dem Friseur steht und sein Gesicht beschattet; in einer Hand hält er ein Buch, die andere ruht auf der Armlehne des Sessels, und neben ihm liegt eine Uhr, auf deren Zifferblatt ein Jäger gemalt ist, ein kariertes Taschentuch, eine schwarze, runde Tabaksdose, ein grünes Brillenfutteral, eine Lichtputzschere mit Untersatz. All das liegt so sittsam und ordentlich auf seinem Platz, daß man aus dieser Ordnung allein schon schließen kann, daß Karl Iwanowitsch ein reines Gewissen und Seelenfrieden besitzt.

Zuweilen, wenn ich mich unten im Saal nach Herzenslust ausgetollt hatte, stahl ich mich auf den Fußspitzen hinauf ins Unterrichtszimmer und beobachtete Karl Iwanowitsch, wie er gemütlich in seinem Lehnstuhl saß und mit ruhig erhabenem Gesichtsausdruck irgend eines seiner Lieblingsbücher las. Manchmal traf ich ihn auch in solchen Momenten, wo er nicht las: die Brille saß dann tiefer auf der großen Adlernase, die blauen, halbgeschlossenen Augen hatten einen ganz eigenen Ausdruck, und die Lippen lächelten traurig. Im Zimmer ist's still; man hört nichts als gleichmäßiges Atmen und das Ticken der Uhr mit dem Jäger.

Er bemerkte mich manchmal nicht, ich aber stand an der Tür und dachte: »Armer, armer alter Mann! Unsrer sind viele, wir spielen, wir sind lustig, aber er – ist ganz, ganz allein, und niemand liebkost ihn. Er hat recht, wenn er sich eine Waise nennt. Und seine Lebensgeschichte ist so traurig! Ich erinnere mich, wie er sie einmal Nikolaj erzählte. Es ist schrecklich, in seiner Lage zu sein!«

Und so leid tat er mir dann, daß ich zuweilen an ihn herantrat, seine Hand faßte und sagte: »Lieber Karl Iwanowitsch!« Er hatte es gern, wenn ich so zu ihm sprach; er liebkoste mich dann immer, und ich sah's ihm an, daß er gerührt war.

An der andern Wand hingen Landkarten, fast alle zerrissen, aber von Karl Iwanowitsch kunstvoll unterklebt. An der dritten Wand, in deren Mitte sich die nach unten führende Tür befand, hingen an einer Seite zwei Lineale: ein stark abgenutztes – das unsere, und ein neues – das »eigene«, das mehr zur Anspornung unsres Fleißes als zum Linieren diente; an der andern Seite eine schwarze Tafel, auf welche unsere großen Vergehen mit kleinen Kreisen, unsre geringeren mit Kreuzchen vermerkt wurden. Links von der Tafel war der Winkel, in den man uns zur Strafe knien ließ.

Wie steht mir dieser Winkel im Gedächtnis! Ich erinnere mich der Ofentür und der Luftklappe darin und des Geräusches, das die Klappe verursachte, wenn man sie bewegte. Zuweilen kniete und kniete man in dem Winkel, bis Knie und Rücken schmerzten, und dachte: »Karl Iwanowitsch hat mich vergessen; ihm ist's wahrscheinlich sehr behaglich, im weichen Lehnstuhl zu sitzen und seine Hydrostatik zu lesen, aber wie ist mir?« Und um sich bemerkbar zu machen, fing man an, die Ofentür behutsam auf- und zuzumachen oder den Kalkbewurf von der Wand abzubröckeln; aber wenn plötzlich ein allzu großes Stück mit Geräusch zu Boden fiel, – wirklich, der Schreck war ärger als jede Strafe. Dann sah man sich nach Karl Iwanowitsch um, der aber saß ruhig mit dem Buche in der Hand da und schien nichts gemerkt zu haben.

Mitten im Zimmer stand der Tisch, mit zerrissenem schwarzem Wachstuch bedeckt; unter dem Wachstuch sahen an vielen Stellen die mit dem Taschenmesser zerschnittenen Ränder des Tisches hervor. Rund um den Tisch standen einige nicht angestrichene, aber durch den langen Gebrauch förmlich lackierte Holztaburetts. Die letzte Wand nahmen drei Fenster ein, aus denen man folgende Aussicht hatte: grade unter den Fenstern sah man den Weg, auf welchem mir jede ausgefahrene Stelle, jedes Steinchen, jede Radspur längst bekannt und lieb waren; jenseits des Weges – die geschorene Lindenallee, hinter welcher hier und da ein geflochtener Zaun sichtbar war; durch die Allee blickte man auf eine Wiese hinaus; an einem Ende derselben befand sich die Tenne, am andern ein Wald; in der Ferne sah man das Häuschen des Wächters. Aus dem rechten Fenster erblickte man einen Teil der Terrasse, auf welcher die Großen bis zum Mittagessen zu sitzen pflegten. Oft, während Karl Iwanowitsch das Diktat korrigierte, schaute ich hinaus, sah Mütterchens kleinen dunklen Kopf und irgend jemands Rücken und hörte undeutlich Gespräch und Lachen von unten herauf. Dann ärgerte ich mich, daß ich nicht dort sein konnte, und dachte: »Wann endlich werde ich groß sein, wann werde ich zu lernen aufhören und anstatt bei den Vokabeln zu sitzen bei denen weilen dürfen, die ich lieb habe?« Der Ärger verwandelte sich in Trauer und ich versank unversehens so tief in Gedanken, daß ich nicht einmal hörte, wie Karl Iwanowitsch sich über die Fehler ärgerte.

Karl Iwanowitsch warf den Schlafrock ab, zog den blauen Frack mit den auf den Schultern gebauschten Ärmeln an, richtete vor dem Spiegel seine Krawatte und führte uns hinunter, damit wir Mütterchen guten Morgen sagten.

1 Russische Zeitschrift

Maman

Mütterchen saß im Salon und goss heißes Wasser auf den Tee: mit einer Hand hielt sie die Teekanne, mit der andern den Hahn des Samowars, aus dem das Wasser über den Rand der Teekanne auf den Untersatz floß. Aber obgleich sie unausgesetzt hinsah, bemerkte sie das nicht, ebenso wie sie unser Hereinkommen nicht bemerkt hatte.

Es tauchen so viele Erinnerungen an die Vergangenheit auf, wenn wir uns bemühen, die Züge eines geliebten Wesens in unsrer Vorstellung auferstehen zu lassen, daß man sie wie durch Tränen nur undeutlich sieht. Es sind das die Tränen der Einbildungskraft. Wenn ich versuche, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals war, sehe ich nur ihre braunen Augen, die ihre stets gleiche Güte und Liebe ausdrückten; das kleine Muttermal am Halse, etwas unter der Stelle, wo die kleinen Härchen sich kräuselten; den weißen gestickten Kragen, die zarte, magere Hand, die mich sooft liebkoste und die ich sooft küßte, – der Gesamtausdruck aber ist mir entschwunden.

 

Links vom Divan stand ein alter englischer Flügel; davor saß mein schwarzbraunes Schwesterlein Ljubotschka und spielte mit ihren rosigen, eben erst mit kaltem Wasser gewaschenen Fingerchen ausdrucksvoll die Etüden von Clementi. Sie war elf Jahre alt, hatte ein kurzes Leinenkleidchen an und weiße, mit Spitzen besetzte Höschen; die Oktaven konnte sie nur arpeggio greifen. Neben ihr, halb zu ihr gewendet, saß Maria Iwanowna in einer Haube mit rosa Bändern, in himmelblauer Morgenjacke und mit rotem, bösem Gesicht, das einen noch strengeren Ausdruck annahm, als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat. Sie blickte ihn drohend an und fuhr – ohne auf seine Verbeugung zu achten und mit dem Fuße den Takt schlagend – fort zu zählen: un, deux, trois ... un, deux, trois, noch lauter und befehlender als zuvor.

Karl Iwanowitsch achtete nicht im geringsten darauf, sondern schritt seiner Gewohnheit gemäß mit deutschem Gruß grade auf meine Mutter los. Sie fuhr aus ihrem Sinnen auf, schüttelte schnell das Köpfchen, als wolle sie mit dieser Bewegung trübe Gedanken verscheuchen, streckte Karl Iwanowitsch die Hand entgegen und berührte seine runzelige Schläfe mit ihren Lippen, während er ihr die Hand küßte.

»Ich danke, lieber Karl Iwanowitsch!« und indem sie fortfuhr, deutsch zu sprechen, fragte sie: »Haben die Kinder gut geschlafen?«

Karl Iwanowitsch war taub auf einem Ohr, und infolge des Lärmes vom Klavier her konnte er jetzt gar nichts hören. Er neigte sich näher zum Divan, stützte sich, auf einem Fuß stehend, mit einer Hand auf den Tisch, lüftete mit einem Lächeln, das mir dazumal als der Gipfel des feinen Tones erschien, sein Käppchen und fragte:

»Sie werden mich entschuldigen, Natalia Nikolajewna?« Karl Iwanowitsch nahm, um seinen kahlen Kopf nicht zu erkälten, das rote Käppchen nie ab, doch jedesmal, wenn er in den Salon trat, bat er meine Mutter deswegen um Entschuldigung.

»Setzen Sie's nur auf, Karl Iwanowitsch. – Ich fragte Sie, ob die Kinder gut geschlafen haben?« sagte Maman, näher zu ihm rückend und recht laut sprechend.

Aber er verstand sie wieder nicht, bedeckte seine Glatze mit dem roten Käppchen und lächelte noch liebenswürdiger.

»Hören Sie einen Augenblick auf, Mimi«, sagte Maman lächelnd zu Maria Iwanowna, »man hört nichts.«

Wenn Mütterchen lächelte, so wurde ihr Gesicht, so schön es auch sonst war, noch unvergleichlich schöner, und rund umher schien sich alles aufzuheitern. Wenn ich in schweren Augenblicken des Lebens auch nur flüchtig dieses Lächeln sehen könnte, – ich wüßte nicht, was Kummer heißt. Ich glaube, im Lächeln allein liegt, was man die Schönheit des Gesichtes nennt; wenn das Lächeln dem Gesicht größeren Liebreiz verleiht, so ist das Gesicht schön; wenn es das Gesicht gar nicht verändert, so ist dieses gewöhnlich; wenn es das Gesicht entstellt, so ist dieses häßlich.

Als Maman mich begrüßt hatte, nahm sie meinen Kopf zwischen ihre beiden Hände, bog ihn zurück, sah mich aufmerksam an und sagte:

»Du hast heute geweint?«

Ich antwortete nicht. Sie küßte meine Augen und fragte deutsch:

»Warum hast du geweint?«

Wenn sie freundschaftlich mit uns plauderte, bediente sie sich immer der deutschen Sprache, die sie vollkommen beherrschte.

»Ich hab' nur im Traum geweint, Maman«, erwiderte ich; der erfundene Traum fiel mir mit allen seinen Einzelheiten wieder ein, und ich erschauerte unwillkürlich.

Karl Iwanowitsch bestätigte meine Worte, verschwieg aber den Traum selbst. Nach einem Gespräch über das Wetter, an dem auch Mimi teilnahm, legte Maman auf das Teebrett sechs Stückchen Zucker für einige der Auszeichnung würdige Dienstboten, erhob sich und ging zum Stickrahmen, der am Fenster stand.

»Nun, Kinder, geht jetzt zu Papa! Und sagt ihm auch, daß er auf jeden Fall zu mir kommen möge, bevor er zur Tenne geht.«

Die Musik, das Zählen und die strengen Blicke begannen wieder und wir gingen zu Papa. Nach Durchschreiten des Zimmers, das noch von Großvaters Zeiten her die Offiziantenstube hieß, traten wir ins Arbeitszimmer.