Kindheit, Knabenalter, Jünglingsjahre

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Vorbereitungen zur Jagd

Während des Desserts wurde Jakob gerufen; die Weisungen in Bezug auf die Liniendroschke, die Hunde und die Reitpferde wurden ihm mit größter Ausführlichkeit erteilt, wobei jedes Pferd beim Namen genannt wurde. Wolodjas Pferd hinkte; Papa befahl daher, für ihn ein Jagdpferd zu satteln. Dieses Wort »Jagdpferd« erschreckte Maman: es schien ihr, als müsse ein Jagdpferd so etwas wie ein wildes Tier sein, und als werde es ganz bestimmt durchgehen und Wolodja ums Leben bringen. Trotz des Zuredens meines Vaters und Wolodjas – der mit staunenswerter Courage behauptete, das mache ihm gar nichts, er habe es sehr gern, wenn das Pferd durchgeht, – hörte die arme Maman nicht auf zu versichern, daß sie auf der ganzen Fahrt Angst ausstehen werde.

Das Mittagsmahl war zu Ende; die Großen begaben sich ins Kabinett Kaffee trinken, und wir liefen in den Garten, scharrten mit den Füßen in dem welken Laub, das die Wege bedeckte, und plauderten. Wir sprachen darüber, daß Wolodja auf dem Jagdpferde reiten werde, daß Ljubotschka sich schämen müsse, weil sie langsamer lief als Katjenka, daß es interessant wäre, Grischas Ketten anzuschauen usw.; über unsere Trennung aber wurde kein Wort gesprochen. Unser Gespräch wurde durch das Rollen der Liniendroschke unterbrochen, auf welcher an jeder Ecke ein Knechtsjunge saß. Hinter der Droschke ritten die Jäger mit den Hunden, hinter den Jägern der Kutscher Ignaz auf dem für Wolodja bestimmten Pferde, meinen uralten Klepper am Zügel führend. Wir stürzten alle zum Zaun, von dem aus diese interessanten Dinge zu sehen waren; dann aber liefen wir mit Gekreisch und Getrampel nach oben, um uns anzuziehen, und zwar so, daß wir einem Jäger so ähnlich sahen wie nur möglich. Eines der Hauptmittel zur Erreichung dieses Zwecks war das Hineinstecken der Hosen in die Stiefelschäfte. Ohne Zögern machten wir uns daran, um so schnell als möglich fertig zu sein, auf die Veranda hinauszulaufen und uns am Anblick der Hunde und Pferde sowie am Geplauder mit den Jägern zu ergötzen.

Es war ein heißer Tag. Weiße Wölkchen von seltsamer Form hatten sich schon am Morgen am Horizont gezeigt; ein leichter Wind hatte sie näher und näher getrieben, so daß sie zuweilen die Sonne verdeckten. Doch wie auch die Wolken hin und her zogen und dunkler und dunkler wurden, – es war ihnen nicht vergönnt, sich zu einem Gewitter zusammenzuziehen und noch zu guter letzt unser Vergnügen zu stören. Gegen Abend zerstreuten sie sich wieder: die einen wurden blaß und lang und eilten dem Horizonte zu; andere, gerade über uns stehende, verwandelten sich in weiße, durchsichtige Schuppen; nur eine große schwarze Wolke blieb im Osten stehen. Karl Iwanowitsch wußte immer schon vorher, wohin jede einzelne Wolke ziehen würde; er erklärte, daß diese Wetterwolke nach Maßlowka ziehe, daß es nicht regnen, sondern wunderschön bleiben werde.

Foka kam trotz seines vorgerückten Alters schnell und gewandt die Treppe herabgeeilt, schrie: »Vorfahren!« und stellte sich breitspurig und sicher zwischen der Stelle, wohin der Kutscher den Wagen fahren mußte, und der Türschwelle auf, mit der Haltung eines Menschen, der nicht erst an seine Pflicht erinnert zu werden braucht. Die Damen kamen die Treppe herab, und nach einer kurzen Debatte darüber, wo eine jede sitzen und an wem sie sich festhalten sollte (obgleich ich der Ansicht war, daß es gar nicht notwendig sei, sich festzuhalten), nahmen sie Platz, öffneten ihre Sonnenschirme und fuhren ab. Als die Droschke sich in Bewegung setzte, fragte Maman den Kutscher mit zitternder Stimme, indem sie aus das »Jagdpferd« zeigte:

»Ist das das Pferd für Wladimir Petrowitsch?« Und als der Kutscher bejahte, machte sie eine resignierte Handbewegung und wandte sich ab.

Ich war in höchster Ungeduld, bestieg mein Pferdchen, sah zwischen seinen Ohren hindurch und führte auf dem Hof allerhand Evolutionen aus.

»Überreiten Sie die Hunde nicht, wenn's beliebt!« sagte einer der Jäger zu mir.

»Sei ruhig, ich reite nicht zum erstenmal«, erwiderte ich stolz.

Wolodja bestieg das »Jagdpferd« ungeachtet seiner Charakterfestigkeit nicht ohne einiges Zusammenzucken und fragte mehrmals, indem er das Pferd streichelte:

»Ist es sanft?«

Aber er nahm sich zu Pferde sehr gut aus, – ganz wie ein Großer. Seine in engen Beinkleidern steckenden Schenkel schlossen so fest am Sattel, daß ich neidisch war, besonders weil ich, nach meinem Schatten zu urteilen, bei weitem keine so gute Figur machte.

Jetzt erschallten Papas Schritte auf der Treppe; der Hundewärter trieb die sich umhertummelnden Hunde zusammen; die Jäger riefen ihre Windhunde und bestiegen die Pferde; der Leibjäger führte das Reitpferd vor die Freitreppe und die Hunde von Papas Koppel, die sich bisher in verschiedenen malerischen Stellungen um das Pferd gruppiert hatten, stürzten ihm entgegen. Mit einem Perlenhalsband geschmückt und mit der Schnalle klirrend, kam Milka lustig hinter Papa hergelaufen. Beim Herauskommen pflegte sie sich stets mit den Hunden aus dem Zwinger zu begrüßen: mit den einen spielte sie, mit anderen beschnüffelte sie sich knurrend, und bei noch anderen suchte sie nach Flöhen.

Papa bestieg sein Pferd, und wir brachen auf.

Die Jagd

Allen voran, auf blaugrauem, krummnasigem Pferde, ritt der Pikör, der den Beinamen »der Türke« hatte, mit einer zottigen Pelzmütze auf dem Kopfe, einem riesigen Horn über der Schulter und einem Jagdmesser im Gürtel. Aus dem finstern, wilden Aussehen dieses Menschen hätte man schließen können, daß er nicht zur Jagd, sondern in einen Kampf auf Leben und Tod reite. Neben den Hinterbeinen seines Pferdes liefen in buntem, wogendem Knäuel die zusammengekoppelten Jagdhunde. Es war traurig zu sehen, welches Schicksal den unglücklichen Hund ereilte, der es sich einfallen ließ, zurückzubleiben. Mit großer Anstrengung mußte er seinen Kameraden zu sich herüberziehen, und wenn ihm dies gelungen war, schlug ihn unbedingt einer der hinterher reitenden Hundewärter mit der Hetzpeitsche und schrie ihm zu: »In die Koppel!«

Als wir das Hoftor passiert hatten, befahl Papa den Jägern und uns, die Straße entlang zu reiten, während er selbst ins Roggenfeld hineinlenkte.

Die Getreideernte war in vollem Gange. Das unübersehbare, glänzend gelbe Feld stieß nur an einer Seite an den hohen, bläulich schimmernden Wald, der mir damals als der allerentfernteste und geheimnisvollste Ort erschien, hinter welchem entweder die Welt aufhörte oder eine unbewohnbare Wildnis begann. Das ganze Feld war mit Garben und Menschen bedeckt. Im hohen und dichten Roggen sah man hier und da auf einem ausgemähten Streifen den gekrümmten Rücken einer Schnitterin, das Schwingen der Ähren, wenn sie sie zwischen den Fingern ordnete, dann eine im Schatten stehende Frau, die sich über eine Wiege beugte, und auf dem mit Kornblumen besäten Erntefelde verstreut umherliegende Garben. Auf der anderen Seite luden die Männer, nur mit Hemd und Beinkleid bekleidet und auf den Leiterwagen stehend, die Garben auf, wobei sie auf dem ausgedörrten Felde viel Staub aufwirbelten. Der Aufseher, in hohen Stiefeln, mit über die Schulter geworfenem Rocke und dem Merkholz in der Hand, hatte Papa schon von weitem bemerkt, nahm seinen aus Lämmerwolle gemachten Hut ab, trocknete sein rötliches Haupt- und Barthaar mit einem Handtuche und trieb die Weiber durch Zurufe zur Arbeit an. Der kleine Fuchs, den Papa ritt, ging leicht und tänzelnd, dann und wann den Kopf zur Brust neigend, am Zügel ziehend und mit dem dichten Schweif die Bremsen und Fliegen forttreibend, die sich gierig an ihm festsaugen wollten. Zwei Windhunde setzten graziös über die hohen Stoppeln hinter dem Pferde her, die Beine hochhebend, mit sichelförmig nach oben gekrümmtem Schweife; Milka lief voran und bog den Kopf zurück, als erwarte sie etwas. Die Stimmen der Leute, das Getrampel der Pferde, der Lärm der Wagen, der fröhliche Schlag der Wachteln, das Summen der Insekten, die in fast unbeweglichen Schwärmen in der Luft hingen, der Geruch von Wermut, Stroh und Pferdeschweiß, die tausenderlei Farben und Schatten, welche die glühende Sonne über das hellgelbe Erntefeld, die blaue Ferne des Waldes und die lichtvioletten Wolken verteilte, die weißen Sommerfäden, die in der Luft schwebten oder sich über die Stoppeln legten, – all das sah, hörte und fühlte ich.

Als wir am Kalinowschen Walde anlangten, fanden wir die Liniendroschke schon vor und außerdem – ganz unerwarteterweise – einen einspännigen Feldwagen, in welchem der Küchenmeister saß. Aus dem Heu, das den Boden des Wagens bedeckte, lugten hervor: ein Samowar, eine Eismaschine und einige verheißungsvolle Bündelchen und Schächtelchen. Ein Irrtum war nicht möglich: das bedeutete einen Tee im Freien mit Gefrornem und Früchten. Beim Anblick des Wagens bekundeten wir eine lärmende Freude, denn im Walde Tee zu trinken, auf dem Grase gelagert, und überhaupt an einem Orte, auf dem niemand je Tee getrunken hatte, galt uns als besonderer Genuss.

»Der Türke« kam an das Gehölz herangeritten, machte halt, hörte aufmerksam Papas genaue Weisungen an, wie man ausrücken und wo man herauskommen sollte (übrigens befolgte er diese Weisungen niemals, sondern tat, was ihm gut schien), koppelte die Hunde los, band ohne besondere Eile die Koppeln hinten an den Sattel, bestieg wieder sein Pferd und verschwand, den Hunden zupfeifend, hinter den jungen Birken.

Die losgekoppelten Jagdhunde äußerten vor allem durch Schweifwedeln ihre Freude, schüttelten und reckten sich und rannten dann in leichtem Trab schnüffelnd und schweifwedelnd nach verschiedenen Richtungen.

»Hast du ein Taschentuch?« fragte mich Papa.

Ich zog es hervor und zeigte es ihm.

 

»Nun, so binde diesen grauen Hund daran –«

»Den Giran?« fragte ich mit Kennermiene.

»Ja, und lauf den Weg entlang. Wenn du an die Lichtung kommst, bleibst du stehen. Und paß auf: daß du mir nicht ohne Hasen zurückkommst!«

Ich umwickelte Girans zottigen Hals mit dem Tuche und rannte Hals über Kopf der bezeichneten Stelle zu. Papa lachte und rief mir nach:

»Schneller, schneller! sonst kommst du zu spät!«

Giran blieb alle Augenblicke stehen, spitzte die Ohren und horchte auf die antreibenden Rufe der Jäger. Es fehlte mir an Kraft, ihn von der Stelle zu schleppen, und ich begann zu rufen: »Hatu! Hatu!« Da stürmte er so ungestüm vorwärts, daß ich ihn kaum halten konnte und mehr als einmal hinfiel, bevor ich an Ort und Stelle kam. Nachdem ich mir am Fuße einer hohen Eiche ein schattiges und ebenes Plätzchen ausgesucht hatte, legte ich mich ins Gras, platzierte Giran neben mir und wartete. Meine Phantasie eilte, wie das in ähnlichen Fällen immer zu sein pflegt, der Wirklichkeit weit voraus: ich bildete mir ein, daß ich schon den dritten Hasen hetzte, während im Walde der erste Hund Laut gab. Die Stimme des »Türken« schallte lauter und lebhafter durch den Wald; ein Jagdhund schlug an, und seine Stimme wurde öfter und öfter hörbar; bald gesellte sich eine zweite, tiefere Stimme dazu, dann eine dritte und vierte. – Zuweilen verstummten diese Stimmen, dann wieder klangen sie bunt durcheinander. Sie wurden immer lauter und anhaltender und vereinigten sich schließlich zu einem hellen, langgezogenen Getöne. Das ganze Gehölz schien von Tönen erfüllt und die Jagdlust der Meute hatte den höchsten Grad erreicht.

Als ich das alles hörte, erstarrte ich förmlich auf meinem Platze. Die Augen fest auf den Waldessaum gerichtet, stand ich da und lächelte gedankenlos; die Schweißtropfen rannen mir über das Gesicht, und obgleich sie mich im Herabrollen am Kinn kitzelten, wischte ich sie nicht ab. Mir war, als ob es keinen wichtigeren Augenblick geben könne als diesen. Eine solche Nervenanspannung war zu unnatürlich, um von Dauer zu sein. Die Jagdhunde ließen sich bald ganz in der Nähe der Lichtung hören, bald in weiterer Ferne; kein Hase zeigte sich. Ich begann mich nach allen Seiten umzuschauen. Giran machte es ähnlich wie ich: zuerst hatte er gewinselt und sich frei machen wollen, dann aber streckte er sich neben mir aus, legte die Schnauze auf mein Knie und beruhigte sich.

Rund um die bloßgelegten Wurzeln der Eiche, unter der ich saß, auf der grauen, trockenen Erde, zwischen dem dürren Eichenlaub, den Eicheln, dem vertrockneten, bemoosten Reisig, dem gelblichgrünen Moos und den spärlichen, dünnen, grünen Grashälmchen wimmelte es von Ameisen. Eine hinter der andern hasteten sie auf den von ihnen selbst gebahnten Wegen vorwärts, einige eine Last schleppend, andere unbeladen. Ich nahm einen dürren Zweig und versperrte ihnen damit den Weg. Man muß es mitangesehen haben, wie sie, jede Gefahr verachtend, entweder unter dem Hindernis durchkrochen oder es überkletterten; aber einige, besonders die beladenen, verloren alle Fassung und wußten nichts anzufangen: sie blieben stehen, suchten einen Umweg, liefen zurück oder gelangten über den Zweig bis zu meiner Hand und schienen die Absicht zu haben, in den Ärmel meines Rockes zu schlüpfen. Von diesen interessanten Beobachtungen wurde ich durch einen gelbflügeligen Schmetterling abgelenkt, der mich äußerst verlockend umgaukelte. Sobald ich ihm aber meine Aufmerksamkeit zuwandte, flog er auf etwa zwei Schritte von mir fort, umflatterte eine halbverwelkte weiße Kleeblüte und ließ sich schließlich darauf nieder. Ich weiß nicht, ob er sich in der Sonne wärmte oder ob er Saft aus der Blume sog, aber ich sah es ihm an, daß er sich ungemein wohl fühlte. Er bewegte nur zuweilen die Flügelchen und schmiegte sich fest an die Blüte; schließlich blieb er unbeweglich sitzen. Ich stützte meinen Kopf in beide Hände und betrachtete ihn mit Vergnügen.

Plötzlich heulte Giran auf und riß mich so ungestüm vorwärts, daß ich beinahe hingefallen wäre. Ich blickte mich um. Am Waldessaum – den einen Löffel gesenkt, den andern gespitzt – sprang ein Hase umher. Mir schoß das Blut zu Kopfe; alles vergessend schrie ich etwas mit wilder Stimme, gab den Hund frei und stürmte vorwärts. Aber kaum hatte ich das getan, als ich's auch schon bereute: der Hase machte ein Männchen, hüpfte hoch auf – und ich sah ihn nicht wieder.

Aber wie sehr schämte ich mich, als hinter der Meute, die jetzt laut bellend die Spur des Hasen auf die Lichtung heraus verfolgte, aus dem Gestrüpp hervortretend »der Türke« erschien! Er hatte meinen Fehler (der darin bestand, daß ich nicht stillgehalten hatte) bemerkt und sagte nur mit einem Blick voller Verachtung: »Ei, Herr!« Aber man muß wissen, wie er das sagte! Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich wie einen Hasen hinten an seinen Sattel gehängt hätte.

Lange stand ich in höchster Verzweiflung auf demselben Fleck, rief den Hund nicht zurück und sagte nur immer wieder, indem ich mich auf die Schenkel schlug:

»Mein Gott, was hab' ich angerichtet!«

Ich hörte, wie die Meute weiterjagte, wie der Lärm sich auf die andere Seite des Gehölzes hinzog, wie »der Türke« mit seinem Riesenhorne die Hunde zurückrief, – aber ich rührte mich nicht von der Stelle.

Spiele

Die Jagd war zu Ende. Im Schatten der jungen Birken wurde ein Teppich ausgebreitet, auf dem sich jetzt die ganze Gesellschaft im Kreise lagerte. Gabriel, der Küchenmeister, drückte das grüne, saftige Gras neben sich nieder, wischte Teller ab und holte aus einer Schachtel in Blätter gewickelte Pflaumen und Pfirsiche hervor. Durch die grünen Zweige der jungen Birken schien die Sonne und warf auf den Teppich, auf meine Füße und sogar auf die schweißbedeckte Glatze Gabriels runde, schwankende Lichtflecken. Der leichte Wind, der durch das Laub der Bäume, durch meine Haare und über mein erhitztes Gesicht wehte, erfrischte mich außerordentlich.

Als wir unsern Anteil am Gefrornen und an den Früchten erhalten hatten, gab es für uns auf dem Teppich nichts mehr zu tun, und trotz der schräg fallenden, glühenden Strahlen der Sonne standen wir auf und gingen spielen.

»Also was spielen wir?« fragte Ljubotschka, mit den Augen blinzelnd und auf dem Grase umherhüpfend, »vielleicht Robinson?«

»Nein, das ist langweilig«, sagte Wolodja, der sich faul ins Gras geworfen hatte und an einem Blatt kaute. »Immer und ewig Robinson! Wenn ihr schon durchaus etwas tun wollt, so laßt uns lieber eine kleine Laube bauen.«

Wolodja machte sich sehr wichtig: wahrscheinlich war er stolz darauf, daß er auf einem Jagdpferde geritten war; er tat, als wäre er sehr müde. Vielleicht auch hatte er schon zu viel gesunden Verstand und zu wenig Einbildungskraft, um sich am Robinsonspiel genügend zu ergötzen. Dieses Spiel bestand in der Darstellung von Szenen aus »Robinson suisse«, den wir nicht lange zuvor gelesen hatten.

»Ach bitte, warum willst du uns nicht das Vergnügen machen?« bettelten die Mädchen; »du wirst Charles sein, oder Ernest, oder der Vater, was du willst«, sagte Katjenka, indem sie sich bemühte, ihn am Rockärmel in die Höhe zu ziehen.

»Ich mag wirklich nicht, es ist langweilig«, entgegnete Wolodja, sich reckend und mit selbstgefälligem Lächeln.

»Da wär's doch besser gewesen, zu Hause zu sitzen, wenn niemand spielen will«, stammelte Ljubotschka unter Tränen. Sie war eine schreckliche Heulliese.

»Na, so kommt, nur wein' bitte nicht, ich kann das nicht ausstehen.«

Wolodjas Herablassung bereitete uns sehr wenig Vergnügen, im Gegenteil: sein träges und gelangweiltes Aussehen zerstörte den ganzen Zauber des Spieles. Als wir uns niedersetzten und – in der Einbildung, daß wir auf den Fischfang fahren – aus allen Kräften zu rudern anfingen, saß Wolodja mit gekreuzten Armen da, in einer Stellung, die nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit derjenigen eines Fischers. Ich sagte ihm das, aber er antwortete, daß wir durch unser stärkeres oder schwächeres Armschwenken weder etwas gewinnen noch verlieren, da wir ja doch nicht von der Stelle kämen. Ich mußte ihm unwillkürlich recht geben. Als ich, einen Gang auf die Jagd darstellend, mit einem Stocke auf der Schulter, dem Walde zuging, legte sich Wolodja mit unterm Kopf verschränkten Händen auf den Rücken und sagte mir, ich solle annehmen, daß auch er zur Jagd gehe. Ein solches Benehmen und solche Reden wirkten abkühlend auf unseren Spieleifer und waren sehr unangenehm, um so mehr, als man im Grunde seines Herzens zugeben mußte, daß Wolodja vernünftig handelte.

Ich weiß ja selbst, daß man mit einem Stocke nicht schießen, geschweige denn einen Vogel töten kann. Es ist nur Spiel. Aber wenn man so urteilt, so kann man ja auch nicht auf Stühlen spazieren fahren, und doch weiß Wolodja noch recht gut, denke ich, wie wir an langen Winterabenden einen Lehnstuhl mit Tüchern bedeckten und aus ihm einen Wagen machten; der eine von uns spielte den Kutscher, der andere den Lakai, die Mädchen saßen in der Mitte, drei Stühle bildeten das Dreigespann – und wir machten uns auf die Reise. Und welch verschiedene Abenteuer erlebte man auf diese Art, und wie lustig und schnell vergingen die Winterabende! – Wenn man nur an die Wirklichkeit denken soll, kann kein Spiel zustande kommen. Und wenn das Spiel aufhört, was bleibt da übrig?

Etwas wie eine erste Liebe

In der Einbildung, daß sie irgend welche amerikanische Früchte vom Baume pflückte, riß Ljubotschka ein Blatt mit einer riesigen Raupe ab, warf es entsetzt zu Boden, hob die Hände hoch und sprang zurück, als fürchte sie, bespritzt zu werden. Das Spiel hörte auf; wir alle warfen uns ins Gras und steckten die Köpfe zusammen, um das Wundertier anzustaunen.

Ich blickte über die Schulter Katjenkas, welche sich bemühte, die Raupe auf ein Blatt zu bringen, das sie ihr vorhielt.

Ich habe bemerkt, daß viele Mädchen die Gewohnheit haben, mit den Schultern zu zucken, um durch diese Bewegung den herabsinkenden Halsausschnitt des Kleides zurechtzurücken. Ich erinnere mich noch sehr gut, daß Mimi sich über diese Bewegung immer ärgerte und oft sagte: »C'est une geste de femme de chambre.« Über die Raupe gebeugt, machte Katjenka jetzt wieder diese Bewegung, und im selben Moment lüftete der Wind das Halstuch auf ihrem weißen Hälschen, das kaum zwei Finger breit von meinen Lippen entfernt war. Ich blickte hin und drückte einen herzhaften Kuss auf Katjenkas Schulter. Sie drehte sich nicht um, aber ich bemerkte, daß sie sehr rot wurde. Wolodja sagte, ohne den Kopf zu heben, verächtlich:

»Wozu die Zärtlichkeiten?«

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich blickte Katjenka noch immer an. Ich sah ihr frisches, von blonden Locken umrahmtes Gesichtchen seit je sehr gern, heute aber erschien es mir ganz besonders lieblich.

Als wir zu den Erwachsenen zurückkehrten, eröffnete uns Papa zu unsrer großen Freude, daß unsere Abreise auf Mamas Bitten bis zum nächsten Morgen verschoben sei.

Auf dem Heimwege ritten wir neben der Liniendroschke her. Von dem Wunsche beseelt, einander durch Reiterkunststückchen und Kühnheit zu übertreffen, tummelten Wolodja und ich unsere Pferde um den Wagen herum. Mein Schatten war jetzt länger als vorhin und daher meinte ich, daß ich das Aussehen eines stattlichen Reitersmannes haben müsse; aber die Selbstzufriedenheit, die ich darüber empfand, ward bald durch folgendes Geschehnis vernichtet: Um alle auf der Droschke Sitzenden völlig für mich einzunehmen, blieb ich ein wenig zurück, trieb dann mit der Gerte und den Stiefelabsätzen mein Pferdchen an, gab mir eine ungezwungen-graziöse Haltung und wollte wie ein Wirbelwind an der Seite des Wagens, wo Katjenka saß, vorüberjagen. Nur wußte ich nicht, wie es sich besser ausnehmen würde: wenn ich schweigend vorbeiritt oder wenn ich einen wilden Schrei ausstieß? – Doch das unausstehliche Pferd hatte kaum das Droschkengespann eingeholt, als es ungeachtet all meiner Bemühungen so plötzlich stehen blieb, daß ich aus dem Sattel auf den Hals des Pferdes flog und beinahe abgeworfen worden wäre.