euch her?“ Seine Kumpels lachten bei dieser Vorstellung. „Nein.“ Leo seufzte. Dann
fing er an zu erklären. „Bibelkicker ist so ähnlich wie Fußball, nur ohne Torwart.
Oder besser gesagt: Der, der am weitesten hinten steht, verteidigt das Tor, ihr wisst
schon.“ Die anderen nickten. „Ja und?“, fragte einer der Jungen dann ungeduldig,
„Was hat das jetzt mit der Bibel zu tun?“ „Warte doch mal ab.“, beschwerte sich
Leo, „Ich bin doch noch gar nicht fertig mit Erklären. Jedes mal, wenn ein Tor
geschossen wird, wird eine Karte mit einer Frage gezogen, die sich nun mal auf die
Bibel bezieht. Wenn die Mannschaft die Frage beantworten kann, zählt das Tor, wenn
nicht, dann eben nicht.“ Leo wartete ab, wie seine Freunde darauf reagieren würden.
Marco und der Blonde runzelten unwillig die Stirn, während die beiden anderen gar
keine Reaktion zeigten. „Du immer mit deiner Bibel.“, maulte der Blonde
schließlich, „Ich dachte, das wäre langsam vorbei. Ich hab den
Konfirmandenunterricht gerade erst hinter mir, jetzt will ich endlich meine Ruhe
haben von diesem Schwachsinn.“ Leo verdrehte die Augen. Er hatte keine Lust,
darüber zu streiten. „Warum fragst du dann?“, gab er nur mürrisch zurück. Der
Blonde zuckte mit den Schultern. Zehn Minuten später machten sie sich bereit für ein
zweites Spiel. Der Ball flog über die Wiese hinweg und hinterließ hin und wieder
Abdrücke auf dem ebenmäßigen Rasen, genauso wie die Stollenschuhe, die sich
erbarmungslos in den Boden bohrten. Irgendwann knallte eine Autotür. Leos Eltern
waren wiedergekommen. Sein Vater war auf einer Besprechung gewesen und seine
Mutter beim Frisör. Als Leo sie sah, wie sie sich durch den Garten auf den Weg zum
Haus machten, rief er ihnen ein kurzes: „Hallo!“, zu, das seine Mutter mit einem
freundlichen Kopfnicken erwiderte. Dann verschwand sie im Haus. Sein Vater
hingegen kam auf die Jugendlichen zu. Während er ging, hatte er seinen Blick fest
auf den Boden gerichtet, aus dem das Gras an manchen Stellen herausgerissen
worden war und wo sich jetzt Löcher aus braunem, schmierigem Erdboden in die
vorher so glatte Rasenfläche gefressen hatten. Als Leo ihn kommen sah, dachte er
sich erst nichts dabei. Er spielte einfach weiter und passte Marie gerade den Ball zu,
die daraufhin versuchte, ihn ungelenkt an Marco weiterzugeben. Da spürte er, wie
ihn jemand herumriss. Kurz darauf starrte er in die blauen, ernsten Augen von Herrn
Schneider, dem Chef einer großen Firma, die Autoreifen herstellte. „Was soll das
hier?“, fragte er leise. Leo merkte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein
unangenehmes Gefühl machte sich in ihm breit. „Was?“, fragte er und erwiderte den
durchdringenden Blick seines Vaters, nichtsahnend, was für ein Problem dieser hatte.
Eine Sekunde später hielt Leo sich die Ohren zu. Der Mann vor ihm hatte
unvermittelt angefangen und brüllen und das direkt vor seinem Gesicht. „Bist du
wahnsinnig?“, schrie er, „Ich habe den Rasen erst vor kurzem von unserem Gärtner
neu bepflanzen lassen und du verschandelst ihn, indem du hier mit deinen Freunden
Fußball spielst!“ Plötzlich hatte sich die ruhige, willensstarke und durchdringe
Maske des soliden Geschäftsmannes in ein rotes, vor Wut verzerrtes Gesicht
verwandelt. Sein Vater hatte sich vor seiner Familie nie gut beherrschen können und
Leo und seine Brüder schon so manches mal zusammengebrüllt. Jetzt packte er
seinen Sohn am Arm. „Du sagst deinen Freunden jetzt sofort, dass sie nach Hause
gehen sollen und für den Schaden hier kommst du auf. Weißt du eigentlich, wie teuer
so etwas ist?“ Erst jetzt begriff Leo. Vage erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihm
vor einigen Tagen stolz von seinem neuen Projekt, der Erneuerung des Rasens,
berichtet und ihn gebeten hatte, zum Fußballspielen die kleinere Rasenfläche auf der
Hinterseite des Hauses zu benutzen. Leo war nur mäßig interessiert gewesen und
hatte deshalb nur mit einem Ohr zugehört, seinem Vater dann aber versprochen, ihm
das Projekt nicht zu versauen. Und jetzt? Jetzt hatte er es einfach vergessen. Wie
hatte er nur so dumm gewesen sein können… Hektisch schaute er von seinen
Freunden, die wie erstarrte dastanden, wieder zu seinem Vater und von ihm aus
schließlich zu Marie. Er wusste, dass sie die einzige von seinen Freunden war, die
sein Vater mochte. Und wahrscheinlich war sie auch die Einzige, die er überhaupt
kannte. Von Leos Fußballfreunden wusste er ja nicht einmal die Namen. Würde
Marie nicht irgendetwas für ihn gerade biegen können? Oder hatte er durch seine
dumme Aktion jetzt auch noch ihr Ansehen vor seinem Vater zerstört? Jetzt schaute
er wieder in das harte Gesicht seines Erzeugers. „Es tut mir Leid.“, stammelte er,
„Ich habe es einfach vergessen.“ „Ja, ja, vergessen!“, tönte sein Vater und bäumte
sich vor ihm auf, „Ich vergesse mich auch gleich!“ Dabei machte er den Eindruck,
als würde er sich wirklich jeden Augenblick auf seinen Sohn stürzen, was er bis jetzt
allerdings noch nie getan hatte. Trotzdem hatte Leo keinen Zweifel daran, dass
genau das heute passieren würde, wenn seine Freunde nicht schnellstmöglich von
hier verschwänden. Er schluckte. „Tut mir Leid, Leute.“, sagte er dann mit belegter
Stimme, „Ihr müsst jetzt gehen...“ In diesem Moment wusste er, dass ein großer Teil
der lockeren Freundschaft, die er mit einigen von ihnen gepflegt hatte, zerstört war.
Die vorwurfsvollen, stummen und anklagenden Blicke der Jungen, als sie sich auf
den Weg nach Hause machten, blieben in seinem Gedächtnis haften. Jetzt war nur
noch Marie da. „Tut mir wirklich Leid, Herr Schneider.“, sagte sie leise, aber nicht
ängstlich. „Ich sage noch meiner Schwester Bescheid und dann gehe ich, wir müssen
jetzt sowieso nach Hause.“ Leo betrachtete Marie, wie sie so dastand, in ihrem rosa
T-Shirt mit dem schlanken Oberkörper und den schmalen Händen, ihr gegenüber der
massige, vor Wut rasende Mann. Doch irgendwie schien sein Vater auf Marie
wesentlich weniger einschüchternd zu wirken als auf ihn, obwohl er, Leo, nur wenige
Zentimeter kleiner war als der Mann. „Mach das.“, brummte Herr Schneider. Immer
noch war sein Gesicht verfärbt, doch er ließ seine Wut nicht an Marie aus. „Das
Chaos hier ist ja auch nicht deine Schuld, sondern allein die meines Sohnes.“ Mit
einem unbeschreiblichen Ausdruck in den Augen sah er Leo an. Dann wandte er sich
ab. Das hinderte seinen Sohn allerdings nicht daran, die letzten Worte noch
aufzuschnappen. Sie klangen in seinem Herzen nach wie das Geräusch von
zerberstendem Ton. „Nicht einmal das kriegt er auf die Reihe.“
Marie schüttelte in Erinnerung an den gestrigen Tag den Kopf. Sie mochte Herrn
Schneider. Sie mochte seine besondere Art, die auf die meisten eher abstoßend
wirkte, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Trotzdem wusste sie,
dass Leo darunter litt. Sein Vater hatte oft solche Ausraster. Und zum Schuldigen
machte er immer den Sohn, der ihm als Erstes über den Weg lief. Meistens war das
Leo. Hinzu kam, dass er fast immer arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie
hatte. Seufzend ließ Marie sich auf ihr Bett fallen. Insgeheim fragte sie sich, ob sie
auch solche Probleme mit ihrem Vater gehabt hätte, wenn er noch leben würde. Er
war vor vielen Jahren umgekommen und hatte seine Kinder nicht aufwachsen sehen.
Aber so war das nun mal. Es klopfte. Marie stieß genervt Luft aus. Dann stand sie auf
und öffnete die Tür des nunmehr ziemlich kahlen Zimmers. Vor ihr stand ein blondes
Mädchen in einer teuren Jeans mit Glitzersteinchen und einem bunten, bauchfreiem
Top. Ihre Haare waren von pinken Strähnen durchzogen und eine Wolke von süßlich
duftendem, teuren Parfüms umgab sie. Es war Sarah-Annabell, Leos Schwester. Sie
war genauso alt wie Maries Schwester Michelle und klingelte regelmäßig bei ihnen,
um mit ihr zu spielen. Wenn Marie ehrlich war, fühlte sie sich in der Gegenwart
dieses Mädchens etwas unwohl. Leo hatte ihr oft erzählt, wie sie ihn Tag für Tag in
den Wahnsinn trieb und je öfter Marie beobachtete, wie sie mit ihrer Schwester
umging, desto mehr hatte sie zugeben müssen, dass das, was Leo der Kleinen
unterstellte, keineswegs aus der Luft gegriffen war. Herrisch und arrogant hatte er sie
genannt und noch vieles mehr. „Was ist denn?“, fragte Marie und bemühte sich, nicht
zu abweisend zu klingen. „Michelle hat gesagt, du hast so viele Bücher. Kann ich mir
die mal angucken?“ Es war mehr ein unwillig aufgebrummter Befehl als eine Frage.
Marie murmelte nur: „Natürlich.“ Und versuchte dann, so schnell wie möglich zu
verschwinden. Vorher fiel ihr Blick noch auf die beiden Mädchen. Da wo Sarah-
Annabell selbstsicher, launisch und kindisch war, war Michelle eher in sich
zurückgezogen, nachdenklich und manchmal eine Spur zu erwachsen. Hoffentlich
geht das gut!
„Wann muss ich wieder los?“ Eljosch Kanidis war es, als säße er auf heißen Kohlen.
Vor einer halben Stunde erst war er wieder nach Hause gekommen und jetzt stand
urplötzlich seine persönliche Beraterin und Managerin auf der Matte, um ihn auf den
nächsten Termin vorzubereiten. Und das nach einer durchwachten Nacht! „In einer
Stunde findet das Gespräch mit Herrn Borost im Verhandlungssaal statt. Bis dahin
solltest du alle relevanten Fakten überflogen haben und für einen angeregten
Austausch gewappnet sein. Und du sollten duschen!“ Kristina verzog das Gesicht.
Sie kannte Eljosch jetzt schon seit Jahren. Eigentlich war sie mehr als nur seine
engste Vertraute, was die Arbeitsangelegenheiten betraf. Sie ihm zu einer Freundin
geworden. Und als solche konnte sie sich sogar erlauben, den Präsidenten von Iria
persönlich von zu Hause abzuholen, um ihn daran zu hindern, einen wichtigen
Termin in den Sand zu setzen. Er schnaubte. Und während er versuchte, sich seiner
stinkenden Socken zu entledigen, wetterte er: „Wenn Emanuel noch bei uns wäre,
wär das alles nicht passiert. Er wüsste, wie man mit so einer Situation umgehen soll.“
Wütend stampfte er auf, wodurch er in die warme Kaffeepfütze trat, die sich soeben
aufgrund seiner Unachtsamkeit auf den Fußboden ergossen hatte. „Wie konnte er uns
nur im Stich lassen? Das ist verantwortungslos. Am liebsten würde ich ihn verklagen,
zur Rechenschaft ziehen und dann...“ „Und ihn dann wieder bei jeder wichtigen
Entscheidung im Land zu Rate ziehen, ich weiß.“, Kristina schürzte die Lippen. „Ich
vermisse ihn auch. Aber das ist keine Ausrede, um nicht zur Arbeit zu gehen. Jetzt
beeil dich.“ Eine Dreiviertelstunde später saß der Präsident von Iria im
Verhandlungssaal und war mit voller Konzentration in die Papiere vertieft, die er
studierte. Es blieb ihm viel zu wenig Zeit, um sich richtig auf das Gespräch
vorbereiten zu können. Er war ja schon froh, selbst nicht zu spät gekommen zu sein.
Aber wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass keine Zeit der Welt ihm
tatsächlich die Möglichkeit gegeben hätte, sich auf Borost vorzubereiten. So ein
Mann wie er machte immer nur Ärger. Eljosch räusperte sich. Er war perfekt gestylt,
jede einzelne Strähne seines langen Haares saß richtig. Und er würde heute, wie an
jedem anderen Tag auch, wieder erfahren, ernst und durchsetzungsfähig wirken, so,
wie man es von einem Staatsoberhaupt eben erwartete. Aber in seinem Inneren
rumorte es. Die Tür sprang auf. Herein kam ein asketisch wirkender, dünner Mann in
Anzug, dessen elegantes Erscheinungsbild durch seine eisblau gefärbten Haare
gänzlich ins Lächerliche gezogen wurde. Borost. Es war ihm schleierhaft, wie eine
Bürgerinitiative so einen zu ihrem Sprecher hatte wählen können. Er kam zehn
Minuten zu früh. „Guten Tag, Herr Präsident.“, sagte er und reichte dem
Angesprochenen die Hand. Eljosch machte sich nicht die Mühe, von seinen
Unterlagen aufzublicken. „Sie sind zu früh.“, stellte er fest, ohne sich jegliche
Emotionen anmerken zu lassen. „Ich weiß.“, bestätigte Borost, „Ich bin ein bisschen
früher dran, weil ich sie warnen wollte.“ Er hatte sich mittlerweile einen Stuhl
genommen und sich dem Präsidenten direkt gegenüber gesetzt. Seine langen
Fingernägel ließ er ungeduldig über den Tisch kratzen. Eljosch blickte auf und
fixierte sein Gegenüber. Ohne mit der Wimper zu zucken. Doch Borost gab sich nicht
einmal Mühe, dem Blickkontakt standzuhalten. Wahrscheinlich ist er wieder bekifft,
ärgerte sich Eljosch und zog die Mundwinkel nach unten. „Sie warnen den
Präsidenten?“ Er fand sich gut in seiner Rolle als Autoritätsperson. Sehr gut sogar.
Hätte er sich selbst gegenüber gesessen, er hätte es mit der Angst zu tun bekommen,
so kalt und schneidend war sein Ton. Doch Borost war zu unaufmerksam, um dies
überhaupt wahrzunehmen. Oder aber er hatte Nerven aus Stahl. „Um sie zu warnen,
ganz Recht.“ In Borosts Stimme lag Abscheu und er machte keinen Hehl daraus, dass
er den Präsidenten abgrundtief hasste. „Ich habe mir nämlich Unterstützung
mitgenommen.“ Sofort dachte Eljosch an bezahlte Schlägertrupps, die ihm auflauern
würden, wenn er nicht das machte, was dieser Lackaffe vor ihm von ihm verlangte.
Die kommen eh nicht an mich dran, dachte er grimmig. „Die Presse ist bei mir.“
Eljosch zuckte zusammen. Für einen kurzen Moment verlor er die Fassung. „Sie
haben was?“, fragte er, ohne seine Überraschung ganz verbergen zu können. „Unser
Gespräch hier werden heute Millionen von Menschen mitverfolgen.“, eröffnete
Borost, „Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, oder?“ Eljosch holte tief Luft.
Und ob er etwas dagegen hatte! Er wusste ganz genau, dass es für ihn übel aussehen
würde, wenn Borost die Reporter in der Hand hielt. Er war ein Meister der
Täuschung und ganz egal, was er ihm heute antworten würde, es würde zu seinen
Ungunsten ausgelegt werden. Und selbst wenn Borost die Leute nicht geschmiert
hatte, die Presse war ein nicht zu zähmendes Tier, das im einen Moment ein
Regenwurm und im nächsten ein Tiger sein konnte. Außerdem hatte Eljosch die
letzten 36 Stunden nicht geschlafen und seine Vorbereitung war miserabel gewesen.
Na super! Pressebesuche musste man anmelden, das, was Borost hier machte, war
illegal. Gerade wollte er ihm das unter die Nase reiben und die Besprechung absagen,
als er daran dachte, was für Konsequenzen das haben würde. Also blieb er cool.
„Natürlich habe ich nichts dagegen.“, versicherte er, „Unsere Bürger sollen ja
schließlich über alles, was in der Politik passiert, Bescheid wissen und mitreden
dürfen, richtig?“ „Richtig.“, Borosts schmieriges Lächeln zeigte ihm, dass er verloren
hatte.
Der Qualm nahm ihm fast den Atem. Er versuchte, die Luft anzuhalten und durch die
grauen, dichten Schwaden davonzurennen. Doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich
einfach nicht losreißen, sosehr sein Körper sich auch gegen die Stricke, die ihn
hielten, aufbäumte. Er war gefangen. Er hörte das Knistern der Flammen, konnte
aus den Augenwinkeln Feuerzungen hervorschnellen sehen. Dann sah er nur noch
weiß. Ein blendendes Weiß, genauso schrecklich wie der Schmerz, der ihn durchfuhr.
Er schrie. Es war grauenvoll. Sein ganzes Dasein war nur noch Schmerz.
„Suro? Suro!“ Von einem Moment auf den anderen war er hellwach. „Ja?“, fragte er
perplex, noch während sein Oberkörper hochschoss, „Was ist denn?“ Er blickte in
das ungeduldige Gesicht seiner Chefin, Professor Ferono. Ihr Blick sagte alles. Er
war eingeschlafen, hier, im Lehrerzimmer. Wie das nur? Aber die Angelegenheit,
wegen der Professor Ferono ihn sprechen wollte, schien wichtig zu sein, sodass ihm
eine peinliche Szene erspart blieb. „Ist der Satz Englischbücher für die neue fünfte
Klasse endlich geliefert worden? Ich warte schon seit Tagen darauf.“ Er stöhnte. „Ja,
kann sein.“ Ihm war gerade nicht nach nachdenken zumute. Da fiel ihm wie von
selbst etwas ein. „Doch, warte mal. Ich glaube, da ist ein Paket angekommen, unten
in der Eingangshalle.“ Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verschwand Professor
Ferono. Sie hastete in den großen, mit rotem Teppich ausgekleideten Raum, der nur
durch die an den Wänden hängenden Fackeln und dem eisernen Kronleuchter erhellt
wurde, der einige Zentimeter von der Decke baumelte. Das Licht war warm und
gemütlich. Angestrengt suchten ihre Augen den Fußboden nach einem Paket ab. Und
fanden es. Dort stand es, direkt in der Mitte. Sie lief darauf zu, stolperte, fing sich
wieder. Dann nahm sie eine Schere aus der Tasche ihres roten Lehrerumhangs und
ritzte damit das Klebeband auf, mit dem das Päckchen sorgfältig verschnürt worden
war. Das gelang ihr nicht sofort. Noch während sie daran herumbastelte, hörte sie,
wie in einem der beiden Türme eine Tür knallte. Danach vernahm sie, wie Schritte
die Treppe hinunter polterten. Sie musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, dass
es ihr Neffe war. „Was ist das?“ Interessiert kam Jonas auf sie zu. „Englischbücher.“,
antwortete Professor Ferono knapp und hoffte, ihn mit dieser Auskunft in die Flucht
zu schlagen. Doch weit gefehlt. Stattdessen gab Jonas ein langgezogenes „Aha“ Von
sich und fragte: „Kann ich dir helfen?“ Wenig später standen sie beide da und
versuchten das Paket zu öffnen, während Lisa Frau Igwanodow, der Reinigungskraft
der Schule, zur Hand ging, um alles für die Rückkehr der anderen Schüler
vorzubereiten. Nach zehn Minuten hatte Jonas Ungeduld gesiegt und verleitete ihn
dazu, so sehr an dem Deckel zu ziehen, dass er schließlich mit einem ekligen Ritsch
aufsprang. Dabei rief er triumphierend „Ha!“ Gerade wollte er nachschauen, ob die
Englischbücher der neuen fünften Klasse genauso hässlich waren wie seine eigenen,
als ihn ein Geräusch stutzig machte. In dem Karton knisterte und raschelte es. Es war
ein Geräusch, als würden abertausende Blätter aneinander gerieben werden. Dann sah
er verdutzt zu, wie aus dem offenen Karton plötzlich ein Schwarm kleiner, blauer
Terminkalender herausflog. Zuerst hielt er sie für Drohnen, doch dann musste er
schreckensbleich feststellen, dass es sich tatsächlich um kleine Papierheftchen mit
silbernen Flügelchen handelten, die sich innerhalb weniger Sekunden im ganzen
Raum ausgebreitet hatten und ihn mit ihrem unverwechselbarem Rascheln erfüllten.
„Tolle Englischbücher. Warum hatten wir so welche nicht?“ Kopfschüttelnd musterte
er seine Tante, die mit offenem Mund versuchte, die kleinen fliegenden Dinger
wieder einzufangen. „Aber… das hatte ich doch gar nicht bestellt!“ Doch für Reue
war es jetzt zu spät. Schon ließ sich ein kleiner Terminkalender auf ihrer Schulter
nieder. „Guten Tag.“, die Stimme war sanft und hoch, „Der Terminkalender ist stets
zu Ihren Diensten.“ „Können die sprechen?“ Jonas kam aus dem Staunen gar nicht
mehr heraus, während er die kleinen Flugkörper fasziniert anstarrte. „Was ist denn
hier los?“ Gerade war Lisa in die Halle gekommen und konnte über das Chaos, das
sich da vor ihr erstreckte, nur entgeistert den Kopf schütteln. „Wer hat hier gerade
geredet? Jonas, warst du das?“ „Nein… das war der Terminkalender!“ Und schon
ließ sich ein weiteres kleines Flugobjekt auch auf Lisas Schulter nieder und sprach
sie mit derselben Formel an wie zuvor Professor Ferono. Lisa konnte ihren Augen
nicht trauen. „Was soll denn das?“, fragte sie perplex, „Kommen wir so oft zu spät,
dass du eine Armee von Terminkalendern auf deine Schüler loslassen musst?“ „Das
muss ein Missverständnis sein!“ Verzweifelt warf Professor Ferono die Arme in die
Luft. „Die Lieferung ging bestimmt an jemand anderen!“ „Viel Spaß beim
Zurückschicken. Die fängst du nie mehr ein.“, sagte Lisa trocken und verließ
kopfschüttelnd den Raum.
Er hatte alles bestens vorbereitet. In seiner rechten Hand hielt er eine Taschenlampe
und in seiner linken ein Karte. Nur für den Fall, dass er sich entgegen seiner
Erwartungen verlaufen sollte. Aber das würde nicht passieren. Er kannte diesen Wald
in- und auswendig. Auch über seine Bewohner hatte er genug Informationen
gesammelt, um ihnen endlich einmal selbst begegnen zu können. Das würde die
Forschung in diesem Land immens vorantreiben. Und er wäre derjenige, dem man es
zu verdanken hätte. Selbstsicher strich Tilo sich eine lockere Haarsträhne aus der
Stirn. Einer seiner potenziellen Kunden hatte dafür gekämpft, ihn mit einem Team
erfahrener Jäger auf seiner Mission unterstützen zu dürfen. Als ob er das nicht selbst
schaffen würde. Und außerdem: die Gierungen hatten noch nie einen Menschen
angefallen. An sich waren sie harmlose Tiere, hatten aber Eigenschaften, die man
sich in manchen Bereichen würde zunutze machen können. Aber vorher musste man
sie gründlich beobachten und dann einen Plan ausarbeiten, wie man sie am besten
einfangen konnte. Jetzt war er am Waldrand angekommen. Bedrohlich ragten die
finsteren Wipfel der Bäume gen Himmel. Dieser Anblick machte ihm jedes Mal aufs
Neue zu schaffen, auch wenn er das nur ungern zugab. Doch jetzt blieb keine Zeit für
lächerliche Schauermärchen. Er knipste seine Taschenlampe an, deren Licht gegen
das der vom Himmel lachenden Sommersonne ein Witz war und machte einen
beherzten Schritt in den Wald hinein. Noch ehe er sich versah, wurde es vollkommen
dunkel. Trotz des Lichts der Taschenlampe brauchte er einen Moment, bis sich seine
Augen an die Finsternis gewöhnten. Die Luft war feucht und schwül. Schon nach
wenigen Sekunden klebten ihm seine Outdoorklamotten wie maßgeschneidertes
Leder an der Haut. Er atmete tief durch. Das war also sein Wald. Langsam und
bedächtig ließ er den Leuchtkegel der Taschenlampe durch die Umgebung wandern.
Überall standen Bäume mit schwarzen Stämmen und auf dem Boden lag kein
einziger abgebrochener Ast. Stattdessen war ihm, als ginge eine Art Wasserdampf
von dem Untergrund aus, der ihm die Sicht erschwerte und das Licht, das er durch
die Taschenlampe erhielt, beinahe nutzlos machte. Er stieß einen leisen Fluch aus.
Wie sollte er die Tiere bei diesen Lichtverhältnissen beobachten? Langsam tastete er
sich voran. Es war ein komisches Gefühl. Zum ersten mal in seinem Leben konnte er
sehen, wohin er in lief. Oder: viel eher meinte er, sehen zu können, wohin er lief. Bis
jetzt hatte er sich immer im Stockdustern durch den Wald getastet und war jedes Mal
an sein Ziel gekommen. Doch jetzt war es anders. Der Schein der Taschenlampe, so
nutzlos er auch sein mochte, verlieh ihm ungeahnte Sicherheit. Er ging schneller.
Bald würde er am Ziel sein. Er hoffte, dass er sie finden würde. Anderenfalls musste
er dem Wald noch weitere Besuche abstatten, bis er sie endlich fand. Er dachte an
Jemina. Sie würde ganz verrückt sein vor Stolz auf ihn, der zu ihrem Wohl die
schlimmsten Gefahren auf sich nahm und die Gierungen zähmen würde. Er ging
weiter. Immer weiter und weiter. Er wunderte sich. So schnell wie er ging, müsste er
den Wald eigentlich schon längst durchquert haben und am andern Ende wieder
herauskommen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass seine tiefe, schwere
Dunkelheit plötzlich vom Tageslicht durchflutet werden würde und den Blick auf das
steinerne Schloss am anderen Ende freigeben würde, in dem er zur Schule gegangen
war. Firaday. Die meisten Erinnerungen, die er mit seiner Zeit dort verband, waren
gut. Er lächelte innerlich. Was würde wohl der alte Professor Hermann sagen, wenn
er erfuhr, dass es einem seiner ehemaligen Schüler gelungen war, eine der wohl
seltsamsten Geschöpfe ganz Irias zu fangen, zu erforschen und für die Zwecke der
Menschen nutzbar zu machen? Ob er überhaupt noch unterrichtete? Tilo wollte, dass
es so war. Langsam, ganz langsam stieg ein Gefühl der Ungeduld in ihm auf.
Vermischt mit einer kleinen Prise Unbehagen. Um sich abzulenken, fing er leise an
zu pfeifen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, zu welchem Lied die Melodie
gehörte, aber er mochte sie. Da war es ihm plötzlich, als habe er in seiner Nähe einen
Schatten gesehen. Er hörte auf zu pfeifen, hielt inne und lauschte. Doch da war
nichts. Absolut nichts. Nur nach wie vor die charakteristische Stille. Wenn es doch
nur auch bei ihm zu Hause so ruhig wäre! Nichtsahnend ging er weiter. Bis er
plötzlich meinte, Geräusche zu hören. Er konnte sie beim besten Willen nicht genauer
definieren. Manchmal dachte er, es sei ein Schmatzen, dann wieder ein Schreien oder
ein Grunzen. Und jetzt ein langgezogener, wehklagender Laut. Wie der eines
verwundeten Tieres. Tilo hielt die Luft an. Langsam wurde es ihm hier zu
ungemütlich. In diesem Moment wünschte er sich, er hätte doch auf
den Kunden gehört und wäre nicht alleine hierher gekommen. Jetzt war ihm alles
egal. Er wollte hier nur noch raus. Die Mission konnte auch bis morgen warten. Er
fing an zu rennen. Verfolgt von den merkwürdigen Geräuschen und unheimlichen
Schatten. Er war schon eine geraume Zeit lang umhergeirrt, als er endlich erkannte,
dass es keinen Zweck hatte. Keuchend und schwitzend blieb er stehen und spitzte die
Ohren. Er hörte nichts mehr. Alles war ruhig und auch die Schatten waren
verschwunden. Ob er sich das vielleicht alles nur eingebildet hatte? Das wäre gut
möglich. Man sagt ja, dass das menschliche Gehirn sich nicht vorhandene Reize
einbildet, wenn es zu lange nichts wahrnehmen kann. Trotzdem. Er war jetzt viel zu
erschöpft, um seine Zielobjekte noch stundenlang zu beobachten. Mit einem leisen
Stöhnen faltete er die Karte auseinander und erhellte sie mit dem Strahl seiner
Taschenlampe. Er konnte alles genaustens sehen. Es war eine besondere Karte. Ein
kleiner grüner Punkt zeigte ihm immer an, wo er sich gerade befand. Tilo stutzte. Das
war unmöglich. Er war mitten im Wald. Kilometerweit entfernt von Firaday und
Miniklu, der kleinen Stadt, von der aus er gestartet war. Sein Herz setzte für einen
Moment aus. Er hatte sich wirklich verlaufen. Das hätte er sich niemals zugetraut.
Gott sei Dank hatte er die Karte mitgenommen! In Gedanken formulierte er ein
stummes Dankgebet und ging dann, die Augen auf die Karte gerichtet, weiter. Er war
zuversichtlich, sein Ziel bald zu erreichen. Doch seine Umgebung machte es ihm
nicht so leicht. Wieder fingen diese Geräusche an. Und dieses Mal wurden sie immer
lauter und lauter, bis er sie einfach nicht mehr ignorieren konnte. Sie waren wirklich
da! Panik erfasste ihn. Und Angst. Hektisch leuchtete er die Umgebung um sich
herum ab, konnte aber nichts weiter erkennen, als schwarze, undefinierbare Schatten,
die sich von allen Seiten auf ihn zu bewegten. Er wollte schreien. Aber aus seinem
Mund drang kein Ton. Tief und krampfhaft sog er Luft ein. Er wollte nicht sterben.
Da war doch Jemina, seine Verlobte. Was sollte sie ohne ihn machen? Wenige
Stunden zuvor war er doch noch dazu im Begriff gewesen, die Welt zu verändern.
Warum geschah jetzt so etwas? Von einem Moment auf den anderen, er konnte sich
nicht erklären, warum, löste sich seine Schockstarre und er fing wie ein Irrer an zu
rennen. Er wusste nicht, ob er wirklich davonrannte oder sich nur im Kreis drehte,
jedenfalls tat ihm die Bewegung gut. Und er schrie. Er schrie so laut er konnte. Zu
seinem größten Entsetzen erhielt er eine Antwort. Ein lauter, grässlicher,
quietschender Schrei. Diesem einen Schrei folgten weitere, bis sich das Ganze
schließlich zu einem einzigen Gebrüll verwandelt hatte. Es war zwecklos. Er saß in
der Falle. Tilo hörte auf zu laufen. Wenn das hier das Ende sein sollte, dann war es
gut. Er hatte keine andere Wahl, als es zu akzeptieren. Alles, was er tun konnte, war,
darauf zu vertrauen, dass dieses Leben nicht das Ende war. Er dachte an Jemina. Es
tat ihm weh, sie vor seinem inneren Auge zu sehen. Inständig betete er für sie. Dann
sah er sie. Sein Mageninhalt entleerte sich. Seine Hose war nass und durchweicht, der
Boden vor ihm von einer gelben, glibberigen Flüssigkeit bedeckt. Das Dunkle
bäumte sich vor ihm auf. Das Letzte, was er sah, war eine messerscharfe Kralle, die
im Licht seiner Taschenlampe aufblitzte, um daraufhin einen starken, kurzen
Schmerz in seiner Brust zu erzeugen. Dann sackte er in sich zusammen. Der kleine,
grüne Punkt auf seiner Karte löste sich in Luft auf.
Ein Geruch nach frischem Gebäck und Süßwaren lag in der Luft. Es wäre schon fast
angenehm gewesen, wenn nicht überall Leute umher gehastet wären, die Leo und
Marie entweder fast umrannten oder ihnen ihre Ellenbogen beim Vorbeigehen
unsanft in die Rippen stießen. Die große Halle war erfüllt von Stimmen, aber vor
allem von dem Rollen der tausenden von Koffern, die über den gefliesten Boden
fuhren. Die beiden Freunde mussten sich den ein oder anderen Fluch von
ungeduldigen Passanten anhören und wurden von einer Art hilflosen Mitleids
überrannt, sobald sie die Bettler in ihren vor Schmutz starrenden Klamotten am Rand
des Geschehens sitzen sahen. Sie waren spät dran. Der Flieger würde in
fünfundvierzig Minuten den Flughafen verlassen. Nur hatten sie keine Ahnung, wie
sie ihn finden sollten. „Hat Jonas dir geschrieben, wo wir hin müssen?“, erfolglos
versuchte Marie, gegen den Lärm anzukämpfen. „Was?“, brüllte Leo, „Ich verstehe
dich nicht!“ „WOHIN MÜSSEN WIR?“ Marie gab sich alle Mühe, so laut wie
möglich zu schreien und endlich schien Leo zu verstehen. Er zuckte mit den
Schultern. „Keine Ahnung.“ In der nächsten Minute ließen sie sich einfach von dem
Strom aus Passanten mitreißen. Schließlich kamen sie sogar an einer altbekannten
Stelle vorbei. Marie erinnerte sich, wie sie hier im letzten Jahr zum ersten Mal auf
Carenszura, Jonas Schwester, gestoßen waren. Ihr echter Name war Chila gewesen.
Doch ihr würden sie zum Glück nie wieder begegnen. Sie war tot. Nach einer Weile
konnte Marie nicht mehr an sich halten. Es machte sie wahnsinnig, dass Leo einfach
so die Führung übernommen hatte, ohne zu wissen, wohin sie überhaupt mussten.
Noch dazu kam, dass sie sich Vorwürfe machte, erst so spät losgekommen zu sein.
Unsanft zerrte sie ihren Freund am Ärmel und bedeutete ihm energisch, ihr zu folgen.
Dieser schüttelte zwar den Kopf, ließ sich dann aber widerwillig mitreißen. Marie
führte ihn durch den nicht enden wollenden Strudel aus Menschen zu einem etwas
ruhigeren Bereich des Flughafens. Dort gab es einen Auskunftsschalter.
„Entschuldigung?“, sprach Marie die Dame an, die dahinter stand, „Wissen sie, wann
der Flieger nach Iria geht?“ Die Augen in dem Gesicht mit den sympathischen Zügen
weiteten sich. „Wohin?“, fragte die junge Frau, „Iria?“ Marie wurde etwas
unbehaglich zumute. Warum hatte Jonas sie nicht einfach abholen können, so wie