Iria - Blut wie Regen

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Iria - Blut wie Regen
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Iria - Blut wie Regen

1  Titel Seite

2  Quellen

3  Widmung

4  Fernweh

5  Eine falsche Bestellung

6  Dicke Luft

7  Eine erschreckende Entdeckung

8  Konzert mit Folgen

9  Ein gefährlicher Plan

10  Nächtlicher Überfall

11  Eingeschlossen

12  Brennende Bücher

13  Ein hinterhältiger Auftrag

14  Der dunkle Wald

15  Fantastische Gesellschaft

16  Das stille Dorf

17  Ein unerwartetes Wiedersehen

18  Die Druckpresse

19  Einsame Hochzeitsreise

20  Endstation Tierkäfig

21  Marsch für den Frieden

22  Happy End?

23  Die Verbündeten

24  Zickenkrieg

25  Von Fabelwesen und nicht ganz verlassenen Hallen

26  Goldrausch

27  Ende der Scharade

28  Ein grauenvolles Geheimnis

29  Abwartendes Weihnachten

30  Mission erfüllt!

31  Der geheime Raum

32  Abschied und Neuanfang

Iria
Blut wie Regen
Lea Loseries

Quellen
Quellen und Autor

Texte: Copyright by Lea Loseries Umschlaggestaltung: Copyright by Lea Loseries Coverbild: Copyright by pixabay.com

Bibelverse: Copyright by Neues Leben Übersetzung Verlag:

Lea Loseries Kleinenwieden 35

31840 Hess.Oldendorf

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Widmung

Für Josia

Fernweh

Das Rauschen des Meeres hörte sich in seinen Ohren an wie Donnergrollen. Vor

seinem geistigen Auge sah er die riesigen Wassermassen, die sich an den Felsen

brachen und wieder neu sammelten. Unter seinen Füßen spürte er den körnigen Sand.

Kleine Steinchen, über Jahrtausende oder gar Jahrmillionen hinweg zu kleinstem

Staub verarbeitete Partikelchen. Und das alles sollte mithilfe des Meeres vor ihm

geschaffen worden sein. Er spürte, wie seine Füße an Halt verloren und er nach

hinten taumelte. Nur ein ganz kleines bisschen. Dann hatte er sein Gleichgewicht

wiedergefunden. Vielleicht war es auch nur Einbildung gewesen. Doch da kam auch

schon die nächste Welle und spülte einen Teil des Sandes unter seine Füßen hinfort,

sodass er tiefer und tiefer sackte und sich seine Füße allmählich im Sand vergruben.

Bis zu den Knien war ihm das klare, blaue Meerwasser gespritzt, dessen Salz er

schon beim bloßen Einatmen der Luft schmecken konnte. Er wartete. Er atmete tief

ein und aus. Zu früh, um die Augen zu öffnen. Er wollte das hier genießen, er wollte

einfach da sein, ohne sich über das Gedanken zu machen, was er gehört hatte. Was

die Leute schon alles reden… Sein Hirn hatte er mittlerweile so gut wie

ausgeschaltet. Es war, als würde er im Stehen schlafen. Durch diesen

tiefenentspannten Zustand, in den er gefallen war, hatte er jegliches Zeitgefühl

verloren. Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon mit geschlossen Augen an dem

kleinen Badestrand an der Westküste von Sousiz gestanden und dem Atem der

Wellen gelauscht hatte. Wenn da überhaupt etwas war, um das er sich gerade

Gedanken machte, dann war das seine Sorge um die Möwen, die hoch über seinem

Kopf kreisten. Bei meinem Glück, dachte er sich, kriege ich am Ende noch einen auf

den Kopf gekackt. Nach und nach schien es Jonas, als würde das Donnern der Wellen

in unregelmäßigen Abständen immer lauter und lauter werden, bis er schließlich

bemerkte, dass er nicht nur unten, bis zu seinen Knien, sondern am ganzen Körper

nass war. Seine Beine waren durchweicht vom salzigen Meerwasser, sein Oberkörper

von dem Regen, der urplötzlich in Sturzbächen auf ihn herab prasselte. Es war schon

den ganzen Tag lang verdächtig schwül gewesen und so war es eigentlich nur eine

Frage der Zeit gewesen, bis das nächste Sommergewitter hereinbrach. Jonas öffnete

die Augen. Die ehemals ruhige See lag jetzt vor ihm wie ein sich gegen den Himmel

aufbäumendes Tier. Dort oben zuckten grellweiße Blitze und fanden in den

gewaltigen Wassermassen ihren Tod. Die Wolken waren dunkellila verfärbt und alles

in allem sah es aus, als wäre diese Landschaft einzig und allein dazu kreiert worden,

sich an ihr zu erfreuen und über sie zu staunen. Allerdings hatte dieses Schauspiel

seinen Preis. Langsam wurde es ungemütlich. Der Regen war nun nicht mehr

lauwarm, sondern kalt. Und Jonas wurde auch kalt. Kurzentschlossen wandte er den

Wellen den Rücken zu und rannte über den Strand auf ein kleines, mit Holzbalken

erhöhtes und an der Westseite mit einer Eiche gesäumtes Ferienhaus zu. Seine

Schwester sah ihn schon von Weitem. Lisa stand auf der überdachten Terrasse, die

Haare offen und in ihrem Sommerkleid, das nun vom Wind aufgeblasen wurde,

sodass sie aussah wie ein lila Luftballon. Mit ihrem Kopfschütteln kommentierte sie

Jonas Wiederkehr, der auf dem Weg zum Haus noch einmal ausgerutscht und mit

dem Gesicht voran in den nassen Sand gefallen war und sich jetzt mühsam die paar

Stufen zu ihr hoch quälte. „Du stehst da jetzt schon seit einer Stunde. Das Gewitter

wütet aber schon seit fünfzehn Minuten. Hast du das denn nicht gemerkt?“, fragte sie

statt einer Begrüßung. Jonas zuckte mit den Schultern. Es war ihm ziemlich egal.

Sollte sie doch denken, was sie wollte. Ihm für seinen Teil tat es gut, seinen Körper

endlich einmal wieder zu spüren. Die Kälte, die langsam in seinen Gliedmaßen hoch

kroch, die durch den Sand aufgescheuerten Knöchel und die pitschnasse Kleidung,

die an seiner nackten Haut klebte. Es war die willkommene Abwechslung zu den

endlosen Shoppingtouren, Museumsbesuchen oder heißen, faulen Strandtagen, die

hinter ihm lagen. Endlich mal wieder Natur erleben, dachte er. Es erinnerte ihn an

früher. Genauer gesagt an das letzte Schuljahr, als er mit seinen Freunden Hedwig,

Leo und Marie von einer brenzligen Situation in die andere gestolpert war und etliche

Nächte unter freiem Himmel, fernab der Zivilisation, verbracht hatte. Da war das hier

etwas ganz anderes. Seine Tante, Professor Tyra Ferono, Schulleiterin eines

berühmten Internats namens Firaday, hatte ihm und seiner Schwester versprochen,

mit ihnen in den Urlaub zu fahren. Und zwar wie richtige Touristen. Vorbei mit

Abenteuern und Aufregung. Entspannung wir kommen. Mittlerweile war Jonas in das

Wohnzimmer des kleinen Häuschens getreten, das an einer Seite riesige Fenster hatte,

durch die er das Naturschauspiel draußen weiter beobachten konnte. Er schnappte

sich ein auf dem Sessel liegendes Handtuch und rubbelte sich damit ab, ohne sich

vorher auszuziehen. Dann öffnete er den Küchenschrank und schnappte sich ein paar

große, einzeln verpackte Schokoladenkekse. Er wollte sich gerade mit seinen immer

noch triefend nassen Klamotten auf das Sofa fallen lassen, als Lisa ihn missbilligend

musterte. „Du wirst fett, wenn du weiter so viel futterst.“, sagte sie mit einem

unwilligen Stirnrunzeln. „Bin ich eh schon.“ Jonas legte die Kekse jetzt beiseite und

ging Richtung Bad, um sich nun doch noch neue Kleidung anzuziehen. „Geht´s dir

eigentlich gut?“, rief Lisa ihm noch hinterher. Sie machte sich Sorgen um ihren

 

kleinen Bruder. Zwar hatte die Erholung der letzten Wochen ihm gutgetan, aber da

war etwas, das ihm schwer zu schaffen machte. Es nagte an seiner sonst so

fröhlichen, offenen Art und hatte ihn nun schon so manches Mal dazu getrieben, sich

stundenlang zu verkriechen ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Früher wäre

das undenkbar gewesen. Damals war er ein richtiges kleines Plappermaul gewesen.

Das war er auch noch immer, aber irgendwie schien er sich zu verändern. Er nahm

nicht mehr mit der gleichen Begeisterung an Familienausflügen teil wie noch vor ein

paar Jahren. Manchmal hatte sie den Eindruck, er würde am liebsten alleine irgendwo

hingehen, ohne sie und seine Tante noch weiter ertragen zu müssen. Auf ihre Frage

erhielt Lisa auch nach einigen Sekunden der Stille wie selbstverständlich keine

Antwort. Noch so eine Macke, deren Entwicklung sie ihm nie zugetraut hätte. Jonas

hatte sich da in irgendetwas verfangen…

Ein paar Stunden später, als das Gewitter längst vorüber war und auch die nassen

Fußabdrücke, die er überall in der Wohnung verteilt hatte, nicht mehr zu sehen

waren, saß Jonas mit seiner Tante und Lisa am Tisch und öffnete einen an ihn

adressierten Umschlag. Die beiden Frauen aßen Mittagessen, aber er hatte keinen

Hunger. Zumindest nicht auf Salat. Der Brief, den er in den Händen hielt, stammte

von Leo, seinem besten Freund. Staunend strich Jonas über die Anschrift des

Absenders und die fremd aussehende Briefmarke, mit der er den Brief versehen hatte.

Das waren also Dinge aus der anderen Welt. Leo lebte in einem Land namens

Deutschland, von dem Jonas vorher noch nie etwas gehört hatte. Sein Heimatland Iria

war zusammen mit ein paar anderen Länder schon seit hunderten von Jahren vom

Rest der Welt abgeschnitten und er hatte keine Ahnung, wie die Piloten der

Flugzeuge, die die Schüler immer zu Ferienbeginn und -ende zwischen Iria und der

anderen Welt hin- und herflogen, das bewerkstelligen konnten. Aber er hatte sich

vorgenommen, irgendwann hinter dieses Rätsel zu kommen. Kurz darauf hielt er ein

liniertes Blatt Papier in den Händen, das aussah, als sei es aus einem Schulblock

gerissen worden. Der linke Rand war unsauber abgetrennt und an einigen Stellen

hing noch der Papierstreifen mit den kleinen Löchern, die eigentlich dazu bestimmt

waren, die einzelnen Blätter an einen Ringhefter zu binden. Er erkannte Leos

Handschrift sofort wieder und fing gespannt an zu lesen.

Hallo Jonas,

ich dachte, ich sollte mich mal wieder bei dir melden. Ich hoffe, du

hast schöne Ferien und deine Familie treibt dich nicht zu sehr in den

Wahnsinn. Meine nervt mich nach wie vor, aber seit letztem Jahr ist

die Situation bei uns zu Hause viel besser geworden. Du kannst dir gar

nicht vorstellen, was für Augen meine Brüder gemacht haben, als ich

angefangen habe, ihnen von all unseren Erlebnissen zu erzählen. Ich

glaube, sie waren sogar ein ganz kleines bisschen neidisch. Jedenfalls bin

ich jetzt dank dessen, was passiert ist, hier zu Hause eine Art Held.

Und als diesen respektiert mich sogar meine kleine, aufmüpfige

Schwester! Außerdem habe ich langsam kapiert, dass ich mich nicht von

ihr beeinflussen lassen muss. Es ist unglaublich, aber es gelingt mir

mittlerweile immer besser sie zu ignorieren, auch wenn sie mir von früh

bis spät mit glitzernden Plastikponys und Nagellack vor meiner Nase

herumwedelt. Ich sehe keinen Grund mehr, mich darüber aufzuregen.

Wenn mich aber jemand in den Wahnsinn treibt, dann ist das Marie.

Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erzählt sie mir, wie sehr sie Firaday

vermisst. Und natürlich dich und Hedwig. Diese Verrückte kann es kaum

abwarten, endlich wieder die Schulbank zu drücken! Aber das ist ja

nichts Neues. Wie geht es dir? Wie geht es Hedwig? Ist ihr Haar

immer noch so dunkelrot wie früher? Meins hat nämlich ein wenig an

Farbe verloren. Das versuche ich mir zumindest einzureden, denn hier

nennt mich jeder zweite „Karottenkopf“ und das kann man irgendwann

nicht mehr hören. Was machst du so? Es wäre cool, wenn du mir

zurückschreibst.

Leo

Schmunzelnd sah Jonas von seiner Lektüre auf. Das war wieder mal typisch für Leo.

Er ging wegen alles und jedem an die Decke. Und dann war da natürlich noch Marie,

die immer die besten Noten hatte und manchmal Gefahr lief, ihre Nase etwas zu tief

in ihre Schulbücher zu stecken. Und Hedwig. Es war schon eine Ewigkeit her, dass er

mit ihr gesprochen hatte. Sie war die Ferien über zu Hause und bis jetzt hatte er

einfach noch nicht daran gedacht, sie anzurufen. Wortlos stand er auf und griff nach

dem Telefon. „Jonas!“, die vorwurfsvolle Stimme seiner Tante ließ ihn innehalten.

„Du musst etwas essen! Was ist denn mit dir? Bist du krank?“, besorgt musterten ihn

die sonst immer so fröhlich funkelnden Augen seiner Tante. Jonas schüttelte den

Kopf. „Ich will nur Hedwig anrufen.“, sagte er schnell. Seine Tante nickte. „Okay.“,

meinte sie, „Aber danach isst du mit uns!“ Ohne weiter darauf einzugehen, wählte

Jonas Hedwigs Nummer. Dann ging er raus auf die Terrasse und schloss die Tür

hinter sich, um zu verhindern, dass der gesamte Hofstaat mithörte. „Hallo?“, nach ein

paar Sekunden meldete sich eine tiefe Männerstimme am Apparat. Hedwigs Vater.

„Hallo Emil. Kann ich mit Hedwig sprechen?“ „Ach, du bist es Jonas!“, die Stimme

am anderen Ende klang erfreut. Jonas kannte Hedwigs Eltern gut. Ihre Familien

waren befreundet gewesen, schon lange Zeit bevor seine Mutter an Krebs erkrankt

und vor fast genau einem Jahr gestorben war. Seitdem hatte Jonas ab und zu ein paar

Tage bei Hedwig und ihrer Familie übernachtet. „Wie geht es dir?“ Emil schien

ehrlich interessiert. Und Jonas wusste, dass er eine ehrliche Antwort erwartete. „Ganz

gut.“, meinte Jonas. „Der Strand ist schön. Aber mit der Zeit wird es echt langweilig,

immer nur das Gleiche zu sehen...“ „Du hast recht.“, Emil lachte, „Vielleicht ist es

doch ganz gut, dass die Schule bald wieder anfängt. Dann habt ihr wieder etwas zu

lachen. Ist sonst alles in Ordnung?“ Jonas zuckte innerlich zusammen. Er kannte

diesen bohrenden Unterton nur allzu gut. Jetzt holte er tief Luft. „Ja, alles bestens“,

sagte er und hoffte, Emil würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben. Das tat er

wohl oder übel auch. „Warte kurz.“, sagte er, „Ich hole Hedwig.“ „Hallo Jonas!“ Die

aufgeregte Stimme seiner Freundin war wie frisches Wasser auf ausgetrockneten

Lippen. „Hast du das in den Nachrichten gesehen?“, fragte sie mit bebender Stimme.

Jonas sog scharf Luft ein. Zwar hatte er schon seit einer Ewigkeit kein Fernsehen

mehr geguckt, weil seine Familie wie die meisten anderen Irianer gar keinen

Fernseher besaß, aber er konnte sich denken, wovon Hedwig sprach. Dennoch hatte

er nicht die geringste Lust, ihr es jetzt auch noch erläutern zu müssen. Deshalb fragte

er leichthin: „Was denn?“ „Die haben antike Schriften gefunden!“, Hedwigs Stimme

überschlug sich fast, „Irgendwo weiter im Norden. Das ist ungeheuerlich! Die

könnten aus der Zeit von Jesus stammen und berichten von seinem Wirken auf der

Erde.“ „Ach, echt?“, Jonas zog die Stirn in Falten. Es kam ihm seltsam vor, dass

gerade jetzt, wo in Iria ein Umbruch in alle Richtungen stattfand, ein neues

Evangelium gefunden worden sein sollte, von dem vorher nie ein Mensch gehört

hatte. „Ja!“ Hedwig war total begeistert. Er konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie sie

dastand; mit geröteten Wangen und weit offenen Augen. „Das ist doch noch ein

weiterer Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat. Und auf diese Weise

können wir noch mehr von ihm erfahren.“ „Meinst du?“, fragte Jonas etwas

zögerlich, „Ich habe gehört, dass der Inhalt dieser Schriften einige heftige Streits

ausgelöst hat. Selbst hier, in einer Touristengegend, kriegen sich die Leute darüber in

die Haare, weil der Stoff echt ganz schön provozierend ist. Außerdem, was meinst du

damit, „ein Beweis dafür, dass es Jesus tatsächlich gegeben hat“? Willst du mir weiß

machen, dass es ihn jetzt nicht mehr gibt?“ Hedwig verdrehte die Augen, was Jonas

natürlich nicht sehen konnte und wodurch eine kurze Pause entstand.

„Entschuldigung, das war dumm formuliert.“, lenkte sie ein, „Natürlich gibt es ihn

immer noch. Aber halt nicht als Mensch, hier, bei uns. Du weißt schon, was ich

meine.“ Jonas nickte ohne ein Wort zu sagen. Nach einer Weile des Schweigens

fragte er: „Wie geht’s dir?“ „Gut.“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.

„Ich spiele jeden Tag mit Erwin. Er kann jetzt schon ein paar super Tricks, die ich dir

unbedingt zeigen muss, wenn wir wieder in der Schule sind. Und wie geht’s dir? Du

bist irgendwie so ruhig.“ „Gut.“, antwortete Jonas sporadisch. Dann gab er sich einen

Ruck. „Weißt du“, fing er an, „mir macht die ganze Entwicklung hier im Land

einfach Sorgen. Schon nachdem wir den Schlüssel der Macht vernichtet haben und

sich dieser verbrecherische Geheimbund aufgelöst hat, gab es wieder neue

Spannungen zwischen Nord- und Südirianern. Und das nur, weil es vor vielen Jahren

mal einen heftigen Bürgerkrieg gab. Jetzt wird die ganze längst versunkene Schlacke

wieder hervorgeholt. Und nicht nur deshalb kriegen sich die Leute in die Wolle.

Wohin du auch blickst, überall in Iria siehst du nur Spaltungen, Spaltungen und

Spaltungen. Und außerdem kaputte Familien, so wie meine eine ist.“ Jonas spürte

einen Stich in seinem Brustkorb, als er das sagte. Der Geheimbund, von dem er

gerade gesprochen hatte, hatte aus Menschen bestanden, die einen Pakt mit dem

Teufel geschlossen hatten. In ganz Iria hatten sie unter der Oberfläche Verbrechen

begangen und niemand hatte sie aufhalten können. Sein Vater und seine beiden

Schwestern Chila und Lisa waren Mitglieder des Bundes gewesen. Chila war tot,

Lisa hatte sich zum Glück komplett davon losgesagt und sein Vater, Sigor Maschael,

der eine Zeit lang als Lehrer in Firaday gearbeitet hatte, hatte sich nach dem Zerfall

der Organisation in Luft aufgelöst. Jonas hatte keine Ahnung, wo er sich befinden

mochte. „Och Jonas.“, Hedwig stöhnte, „Nun werd nicht wieder gleich depressiv. Du

hast es doch sehr gut. Genieße die letzten Ferientage mit deiner Tante und deiner

Schwester und mach dir um unsere Politik keine Sorgen. Das wird sich schon wieder

einrenken. Die Politiker und die Presse machen doch sowieso immer einen Wirbel

um nichts.“ Jonas schien immer noch nicht überzeugt. Dennoch fiel ein Teil der

Anspannung der letzten Tage von ihm ab. Dann erzählte er Hedwig, wie er auf einer

Schifffahrt ganz in der Nähe einer Gruppe Delfinen begegnet war. „Delfine?“, wie zu

Anfang war Hedwigs Stimme laut und aufgeregt. Er konnte ihr die Begeisterung

anhören. „Das ist ja der Wahnsinn!“, rief sie, „Warum bin ich nicht mitgekommen,

ich hätte die mal so gerne aus der Nähe gesehen.“ Jonas versicherte ihr, dass sie dazu

in ihrem Leben noch genug Gelegenheit haben würde und legte dann schließlich auf.

Etwas zu spät fiel ihm ein, dass seine Tante ihn ja dazu nötigen wollte, etwas von

dem ekligen Salat zu essen, den seine Schwester zubereitet hatte. Aber jetzt war es

schon zu spät. Er stand wieder neben ihnen am Tisch und würde um eine Portion

Grünzeug wohl nicht herumkommen.

„Michelle!“ Der Ruf hallte durch die gesamte Wohnung. Doch nichts rührte sich.

Entnervt machte sich Marie auf den Weg zum Zimmer ihrer kleinen Schwester,

vorbei an Umzugskartons und halbfertig gepackten Taschen. Als sie eintrat, stach ihr

der Grund, warum ihre kleine Schwester nicht reagiert hatte, sofort ins Auge. Sie lag

auf ihrem Bett und hörte Musik, den Ton hatte sie voll aufgedreht. „Michelle!“,

verärgert riss ihr Marie die Kopfhörer aus den Ohren. Den darauf folgenden Protest

überhörte sie. „Räum dein Geschirr weg.“, sagte sie stattdessen in einem Ton, der

keinen Widerspruch duldete. „Wenn du so weiter machst, stapeln sich deine

schmutzigen Teller bald in der ganzen Küche!“ Murrend stand die Neunjährige auf

und durchquerte den kleinen Flur mit fünft großen Schritten. Doch ehe sie

 

verschwunden war, erschien auch noch Edmund auf der Bildfläche. Mit seinem

unwiderstehlichen Zahnlückenlächeln grinste ihr kleiner Bruder Marie an. „Kannst

du mir etwas vorlesen?“, fragte er seine Schwester in zuckersüßem Tonfall. Marie

nickte. Wer konnte da schon nein sagen? Dann sagte sie: „Wenn du nach den Ferien

in die Schule kommst, kannst du bald schon alleine lesen.“ Edmund verzog das

Gesicht. In leicht weinerlichem Tonfall gab er zu: „Ich will gar nicht in die Schule

kommen.“ „Warum nicht?“, fragte Marie überrascht, „Du hast dich doch schon die

ganze Zeit darauf gefreut.“ „Ja, aber...“, Edmund verstummte bekümmert. Dann

meinte er: „Aber wenn ich dann in die Schule komme, müssen wir umziehen. Und

ich will nicht umziehen.“ „Aber das ist doch gar nicht schlimm.“, versuchte Marie

ihn aufzumuntern, „Du bekommst ein eigenes Zimmer und wir haben viel mehr

Platz.“ „Trotzdem.“, beharrte der Kleine und verschränkte demonstrativ die Arme.

Marie schüttelte verständnislos den Kopf. Sie war froh, endlich aus dieser mickrigen,

viel zu kleinen Wohnung zu entkommen. Außerdem würden sie sowieso nur ein

Stockwerk tiefer, in eine der größeren Wohnungen ziehen, denn Frau Schneider, Leos

Mutter, hatte es doch tatsächlich geschafft, Maries Mutter einen Job als Sekretärin zu

besorgen. Zwar war ihre Familie nach wie vor von den Sozialleistungen abhängig, da

ihre Mutter nur halbtags arbeiten konnte, aber es war immerhin schon wesentlich

besser als früher, als sie noch jede Woche einem anderen Minijob nachgegangen war

und nie gewusst hatte, was als Nächstes kommen würde. Marie freute sich. Sowohl

auf den Tag des Umzugs als auch auf Edmunds Einschulung, denn danach würde sie

wieder gemeinsam mit Leo in ihre Schule nach Iria fliegen und ihre Freunde Jonas

und Hedwig wiedersehen.

Die letzte Ferienwoche verging schneller als erwartet. Es war immer dasselbe; noch

während man sich fragte, wie man die viele Zeit nutzen sollte, die sich einem nun

bot, verstrich Minute um Minute, bis man schließlich zu nichts mehr von dem kam,

was man sich vorgenommen hatte. In Maries Zimmer stapelten sich Bücher und

Hefte, die Hälfte davon war auf Englisch. Schon tausend mal hatte ihre Mutter sie

dazu gedrängt, diese Berge von bedruckten Seiten endlich in einem der

Umzugskartons verschwinden zu lassen, doch Marie hatte sich geweigert. Ihre freie

Zeit, die sie nicht mit Leo oder ihrer Familie verbrachte, hatte sie dazu aufgewendet,

zu lesen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Außerdem hatte sie sich gründlich

Gedanken darum gemacht, welche zweite Fremdsprache sie im kommenden

Schuljahr wählen würde. Zur Auswahl standen Hebräisch und Griechisch, beides

Sprachen, von denen sie immer noch nicht wusste, ob sie sie jemals in ihrem Leben

brauchen würde. Trotz sorgfältiger Überlegungen schwankte sie immer noch

zwischen beiden hin und her. Am Tag zuvor hatte sie sich mit Leo getroffen und mit

ihm darüber gesprochen.

„Wenn ich könnte, würde ich weder Hebräisch noch Griechisch wählen.“, murrte

Leo und zog sich geräuschvoll die Nase hoch, während er versuchte, in seine viel zu

engen Markenschuhe zu schlüpfen. „Bestimmt lernen wir die Sprachen nicht mal so,

wie sie heute gesprochen werden, sondern nur in den alten Dialekten, in denen die

Bibel geschrieben wurde. Und was soll man damit schon anfangen, wenn man kein

Theologiestudium absolvieren will? Kennst du irgendein Land in Iria, in dem

Griechisch gesprochen wird?“ Gerade wollte Marie ihren Freund unterbrechen und

ihn darauf hinweisen, dass sich ein Land niemals in einem anderen befinden könne

und dass Iria bestimmt noch irgendwelche Nachbarländer habe, in denen man

verschiedene Sprachen gebrauchen könne, als Leo schon fortfuhr. „Und kennst du

irgendeine Region außerhalb von Griechenland, in der sich die Leute auf Griechisch

grüßen? Oder willst du etwa Hebräisch wählen, nur um an jüdischen Gottesdiensten

teilnehmen zu können? Das ist doch total dämlich. Wozu müssen wir den Mist

überhaupt lernen?“ „Sei doch froh.“, konterte Marie, „Immerhin musst du so kein

Französisch wählen.“ Leo schnaubte. „Das wäre ja noch schöner.“ Währenddessen

folgte Marie ihrem Freund durch die luxuriöse Glastür hindurch in den großen

Garten, auf dessen penibel gepflegtem Rasen schon seine Freunde warteten, mit

denen er sich zum Fußballspielen verabredet hatte. Als Marie die Jungen sah,

verdüsterte sich augenblicklich ihr Gesichtsausdruck. Sie waren allesamt mindestens

genauso groß wie Leo, der im Sommer einen irren Wachstumsschub gemacht hatte

und wahrscheinlich alle älter als er. Jeder von ihnen trug Stollenschuhe und das

Trikot der Fußballmannschaft, in der sie spielten. Marie fühlte sich unwohl. Sie war

drei Köpfe kleiner als die anderen und dazu kam, dass sie, falls sie überhaupt

mitspielen würde, wozu ihr soeben alle Motivation schwand, Schwierigkeiten

bekommen würde, den Ball zu treffen. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie

Fußball gespielt und das war in Sinistro, einer Nachbarschule von Firaday gewesen

und zwar anlässlich eines großen Turniers. Jetzt raunte sie Leo leise zu: „Vielleicht

hätte ich gar nicht kommen sollen.“ „Ach Quatsch.“, Leo machte eine wegwerfende

Handbewegung. „Du bist hier doch sowieso schon halb zu Hause. Du kannst

kommen und gehen, wann du willst und wenn die Typen damit ein Problem haben,

werde ich ihnen meine Meinung sagen.“ Marie schmunzelte. Trotzdem musste sie

sich ein wenig später Mühe geben, Leos Freunde nicht allzu argwöhnisch zu

mustern. „Hey!“ Ein großer, braunhaariger Junge klopfte Leo auf die Schulter.

„Lange nicht gesehen. Gut, dass du wieder mal zu Hause vorbeischaust.“ „Wir

hatten ja keine Ahnung, wo du die ganze Zeit über warst, bis uns deine Mutter das

von so einer komischen Schule im Ausland gesteckt hat. Hat sie dich echt dahin

abgeschoben? Ist ja voll krass.“, meinte ein anderer. „Ich wäre froh, wenn ich auf

ein Internat gehen könnte.“, tönte ein blonder Junge mit großen, braunen Augen,

„Dann müsste ich meine Alten nicht mehr Tag für Tag ertragen.“ Von allen Seiten

Zustimmung. Nur Marie rümpfte die Nase. Der Junge neben ihr roch übelst nach

Schweiß, was bestimmt daran lag, dass er sich bereits aufgewärmt hatte. Die

durchsichtige Körperflüssigkeit rann ihm in Bächen übers Gesicht. Dann kam, was

kommen musste. „Und wer ist die da?“, einer der Jungen deutete auf Marie. Dann

verzog er das Gesicht. „Etwa deine Freundin? Also wirklich Leo, da hätte ich mehr

von dir erwartet. An der ist doch nichts Besonderes.“ Gelächter brandete auf. Marie

stand, von einem Fuß auf den anderen tretend, da und überlegte, was sie sagen

sollte. „Ich bin Marie.“, erklärte sie schließlich mit erhobener Stimme und fixierte

den Jungen, der so blöd gefragt hatte, mit einem vernichtenden Blick. Das schien den

Riesen zu verwirren, denn er senkte langsam seinen Blick. Davon angespornt setzte

Marie hinzu: „Und ja, ich bin Leos Freundin, aber nicht so, wie ihr denkt. Ich stehe

nicht wirklich darauf, mich vor sabbernden Jungs zu positionieren und mich von

ihnen knutschen zu lassen, wenn ihr das meint.“ Verächtlich starrte sie vom einem

zum anderen. Eine äußerst unangenehme Stille breitete sich über die Anwesenden

aus. Nur Leo schien belustigt. Grinsend schüttelte er den Kopf. „Sie meint das nicht

so.“, versuchte er Maries Verhalten vor seinen Freunden zu rechtfertigen, „Sie ist

nur ein bisschen...“, er suchte nach den richtigen Worten, fand aber keine. Also

umschrieb er das, was er meinte. „Sie hat einfach einen etwas anderen Sinn für

Humor. Also passt lieber auf, was ihr sagt, sonst wird es euch todernst genommen.“

Er grinste dümmlich. Für das, was er dann sagte, hätte Marie ihn am liebsten

kopfüber in eine der Mülltonnen gesteckt, die überall am Straßenrand verteilt

standen. „Sie hat übrigens schon alle Schullektüren gelesen, die für dieses Jahr auf

dem Lehrplan stehen. Und sie kennt den Duden auswendig!“ Marie spürte, wie die

Röte in ihren Wangen aufstieg. Nicht aus Scham. Nein, es war ihr total egal, was

Leos Freunde von ihr dachten, sondern einfach nur aus Wut. Unsanft stieß sie Leo in

die Seite und zischte: „Träum weiter!“ Fast hätte sie sich als Nächstes umgedreht

und wäre beleidigt nach Hause gegangen, aber da brach auf einmal schallendes

Gelächter los. Einer der Jungen, der große mit den braunen Haaren, hatte

angefangen zu lachen und nacheinander stimmten alle anderen mit ein. Marie hielt

verwirrt inne, bis der Braunhaarige sie grinsend und unter Lachtränen ansah und

sagte: „Cool, dann braucht Leo sich in der Schule ja nicht mehr anstrengen, wenn

du neben ihm sitzt. So eine Freundin hätte ich auch gerne.“ Er grinste. Dann fragte

er: „Lass mich raten, du kannst kein Fußball spielen, richtig?“ Marie schüttelte

genervt den Kopf. Dann sagte sie: „Wieso, muss man das können? Dem Ball

hinterherrennen kann ich schon, aber mit dem Treffen ist das so eine Sache. Ich geh

dann wohl lieber.“ Sie hatte sich schon umgedreht und ein paar Schritte gemacht, als

sie plötzlich spürte, wie sie jemand am Arm festhielt. „Wieso denn so eilig?“, wieder

war es der Braunhaarige, der sie ansprach. Insgeheim fragte Marie sich, warum er

sie nicht einfach in Ruhe lassen konnte. „Spiel doch mit.“, gab er schließlich den

Grund für sein Verhalten preis, woraufhin er einige entgeisterte Blicke von seinen

Kumpels erntete. Als er sie bemerkte, fragte er provozierend: „Was denn? Lasst sie

doch mitspielen, das wird bestimmt lustig.“ Sein kindisches Kichern verriet, dass er

es ernst meinte. Marie verzog das Gesicht und schaute zu Leo. Der sah sie bittend

an. „Also schön.“, gab sie schließlich nach, woraufhin ihr der Braunhaarige

grinsend auf die Schulter klopfte. „Gut.“, sagte er, „Ich bin übrigens Marco. Letztes

Jahr haben Leo und ich zusammen im Verein Fußball gespielt. Das war, als er noch

so groß war wie du.“

Wasser. Die kühle Flüssigkeit rann ihr in Sturzbächen die Kehle hinunter. Sie konnte

gar nicht genug davon bekommen. Ihr war schrecklich warm und ihre Knie waren

grün vor Pflanzensaft. Mehrmals war sie über ihre eigenen Füße gestolpert und hatte

den Rasen geküsst. Sehr zur Freude der Jungen. Doch mittlerweile war sie von allen

akzeptierte worden. Sie saßen jetzt schwitzend und keuchend neben ihr im Gras und

stürzten den Inhalt ihrer Wasserflaschen hinunter. Trotz der Erschöpfung war die

Stimmung ausgelassen. Vor allem Marco schien glänzende Laune zu haben. „Warum

kannst du eigentlich auf einmal so gut spielen?“, fragte er Leo, „Bei dem letzten

Spiel, an das ich mich erinnere, wurdest du schon nach einer Minute ausgewechselt,

weil du dich mit der Gegnermannschaft kein bisschen messen konntest. Habt ihr auf

eurem Internat auch ein Fußballteam?“ Leo schüttelte den Kopf. „Wir haben

Bibelkicker.“, erklärte er. Jetzt lagen von einem Moment auf den anderen vier

verdutzte Blicke auf ihm. „Bibelkicker?“, wiederholte der braunäugige Junge mit

den blonden Haaren, „Was soll das denn bitte sein? Kickt ihr da ein altes Buch vor