Iria - Blut wie Regen

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Gegend umher. „Oh, ist das Ihrer?“, fragte Hedwig peinlich berührt. Ihre Wangen

hatten sich hellrosa verfärbt. Professor Xynulaikaus nickte. „Hast du ihn mit deinem

verwechselt?“, fragte er, nicht ohne den skeptischen Unterton in seiner Stimme

verbergen zu können. Hedwig wusste, dass er ihr sowieso nicht glauben würde. Also

antwortete sie leichthin: „Tun wir einfach so, als ob.“ Professor Xynulaikaus verstand

und fragte nicht weiter. Nachdem er ihre blutende Wange mit einem Pflaster verklebt

und ihr etwas zum Kühlen für die aufgeplatzte Lippe gegeben hatte, fiel Hedwig

todmüde ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte Hedwig zu ihrer Verwunderung noch vor Marie auf. Sie

hatte miserabel geschlafen. Sobald sie einen Blick in den Spiegel warf, stöhnte sie

auf. Links und rechst an ihren Schläfen, sowie überall an ihren Armen hatte sie blaue

Flecken. Sie wirkte, als wäre sie in einen Fleischwolf geraten. Ihr Mund verzog sich

und ließ einen säuerlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht entstehen. Die Aktion letzte

Nacht war ja total erfolgreich gewesen. Nicht einmal den blöden Ernie hatte sie

einfangen können! Stattdessen war sie von einem Lehrer mit Albträumen vermöbelt

worden! Missmutig ging sie ins Bad und machte sich fertig. Als sie wieder zurück ins

Zimmer kam, war auch Marie schon wach. Bestürzt hauchte sie: „Wie siehst du denn

aus?“ „Ich hab schlecht geschlafen.“, antwortete Hedwig knapp. „Albträume.“ Das

stimmte ja auch. Kurz nach dem Frühstück hatte Hedwig endlich eine Minute, um

allein mit den beiden Jungen zu sprechen. Marie war schon zum Griechischraum

vorausgegangen und Hedwig wartete mit den Jungen im Flur darauf, dass der

Unterricht begann. „Was ist letzte Nacht wirklich passiert?“, nahm Leo das Thema

auf, über das sie während des Frühstücks die ganze Zeit geredet hatten. Doch statt zu

antworten, sagte Hedwig einfach: „Ich geb´s auf. So geht das nicht weiter. Wir

müssen uns irgendeine andere Methode suchen, wie wir die Terminkalender

einfangen können. So macht das alles keinen Sinn.“ Jonas machte große Augen. „Bist

du von ihnen verprügelt worden?“, fragte er überrascht und schaute Hedwig ernst an.

Diese grunzte verärgert. „Natürlich nicht. Aber ich kann einfach nicht Nacht für

Nacht diesen Dingern hinterherlaufen. Erstens sind die viel zu schnell, um sie mit

dem Kescher einzufangen und zweitens ist das alles zu auffällig.“ Leo sah sie

prüfend an. Dann nickte er. „Okay. Wir müssen uns also etwas Anderes ausdenken.“

In diesem Moment quietschte die Eingangstür des Nebenhauses, in dem sich die

Unterrichtsräume befanden. Herein kam Professor Xynulaikaus. Als sein Blick auf

Hedwig fiel, dachte sie, er würde gleich anfangen zu weinen. Es tat ihm wirklich leid.

Das sah sie ihm an. „Wie geht es dir?“, fragte er, als er vor ihr und ihren Freunden

stehen blieb. Hedwig lächelte schief. „Ganz gut.“, räumte sie dann ein, „Machen Sie

sich mal keine Sorgen, ich bin Schlimmeres gewohnt. Wissen Sie nicht, wie meine

Freunde und ich monatelang durch die Wildnis gelatscht sind, um dieses hässliche

Amulett kaputt zuhauen? Das war auch kein Spaziergang.“ Professor Xynulaikaus

lächelte gequält. Dann sagte er: „Kommst du dann zum Unterricht, wenn ihr euch

zuende unterhalten habt, Jonas?“ Erst guckte der Junge ihn verdutzt an, dann

antwortete er grinsend: „Na klar!“ Er wartete noch eine Weile, bis der Lehrer um die

nächste Ecke verschwunden war, dann kicherte er: „Ist ja voll cool. Seit wann dürfen

wir bei dem machen, was wir wollen?“ Hedwig antwortete nicht, sondern

verabschiedete sich von ihrem Freund. Leo und sie machten sich auf den Weg zur

Hebräischstunde.

Nero fluchte. Was wollte dieser Hornochse von Jäger eigentlich von ihm? Er war hier

der Leiter der Operation, nicht so ein dahergelaufener Einheimischer. Aber der Mann

hörte nicht auf zu reden. Mit jedem Atemzug, den er tat, hatte Nero das Gefühl, die

Luft um ihn herum würde dicker werden. In seinem Kopf kreiste nur ein Wort.

Langweiler. Er stellte sich breitbeinig vor den kleinen, untersetzten Mann und

durchbohrte ihn mit verächtlichen Blicken. „Das Wetter ist zu schlecht….“ Bla, bla,

bla. Nero verdrehte die Augen. Als ob ihn das Bisschen Nebel davon abhalten

könnte, seine Mission auszuführen. Der fette Jäger vor ihm war nicht der Einzige, der

ihn begleiten würde. Er hatte sich ein Team aus erfahrenen Leuten zusammengesucht,

ausgerüstet mit den besten Waffen der Welt. Hoffte er zumindest. Bis jetzt hatte er

alles getan, um nicht so zu enden wie Tilo. Und nun? Jetzt hielten ihn seine

notorischen Vorsichtsmaßnahmen doch tatsächlich davon ab, sein Vorhaben

durchzuführen. Jetzt stimmte auch noch jemand anderes dem kleinen Mann bei. Es

war eine Frau. Keine besonders weibliche, aber immerhin. Sie trug eine

Kurzhaarfrisur und war zwei Köpfe größer als der dicke Mann neben ihr. Eine

Bogenschützin. Während der kleine Mann noch weiter auf Nero einredete und

behauptete, es wäre zu gefährlich, bei diesem Nebel in den Wald zu gehen, machte

sie Neros festen Entschluss, es doch zu tun, mit einem einzigen Satz zunichte. „Ich

dachte, du wolltest nicht so enden wie Tilo?“ Ihr Blick war geradeheraus und ihre

Augen glitzerten hinterlistig. Nero malmte in kreisenden Bewegungen seine

Backenzähne aufeinander. Er hatte mal gehört, dass Kühe das so machten. Um ihr

Futter zu zerkleinern. „Na gut.“ Er gab nach, aber nicht bereitwillig. Stattdessen

würde er dafür sorgen, dass diese vorlaute Frau bei ihrem nächsten Versuch nicht mit

dabei war. Er wollte in diesen Wald gehen. Um jeden Preis.

„Och nö.“, Marie stöhnte, als sie einen Blick auf ihren Stundenplan warf, „Ich hasse

die Stationsarbeit in IPT.“ Hedwig pflichtete ihr stumm bei. Dann meinte sie:

„Immerhin ist danach Schulschluss.“ Leo grinste nur, als er registrierte, dass das

Maries Laune auch nicht aufbesserte. „So was kenne ich ja gar nicht von dir.“, foppte

er, „Seit wann hasst du irgendwelche Fächer?“ „Schon immer.“, gab Marie patzig

zurück, „Ich habe es vorher nur nie gesagt. Aber IPT ist das bescheuertste Fach

überhaupt. Und Professor Grünschnabel kann ich langsam auch nicht mehr sehen.“

„Wieso?“, fragte Jonas, „Die ist doch immer so nett zu dir.“ „Ja.“, stöhnte Marie,

„Jede Stunde erzählt sie, wie toll ich bin und wie gut ich alles kann. Dabei ist das

alles gar nicht so. Ich mache auch manchmal Fehler.“ „Echt?“ Die vier Freunde

drehten sich um. Es war Naomis Stimme. Das Mädchen kam auf sie zu und lehnte

sich neben ihnen an die Wand. „Dann habe ich ja doch noch eine Chance, die

Klassenbeste zu werden.“, sagte sie ruhig und kratzte sich am Arm. Jonas schnappte

nach Luft. „Marie überholst du nie.“, sagte er bestimmt und mit Bewunderung in der

Stimme, „Die kann das alles im Schlaf.“ „Ach ja?“, antwortete Naomi erstaunt und

kniff die Augen zusammen. „Aber in Sport bist du nicht so gut, was?“ Marie wand

sich unter ihrem Blick. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, immerhin war ihre

Unsportlichkeit bis jetzt noch für niemanden ein Problem gewesen. Außerdem

überraschte sie Naomis so offensichtlicher Angriff. „Was willst du denn jetzt?“,

konterte Hedwig, „Denkst du, du kriegst einen besseren Durchschnitt, weil du besser

in Sport bist?“ „Vielleicht.“, piepste Naomi nur, stieß sich flink von der Wand ab und

verschwand ohne einen Blick zurückzuwerfen im Klassenraum. „Ich habe doch

schon immer gesagt, dass die komisch ist!“, platzte es aus Marie heraus. Leo

schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das ist wirklich nicht böse gemeint, Marie, aber

manchmal denke ich, du bist auf dem besten Weg, genauso zu werden wie sie.“

Marie blieb die Luft im Hals stecken. „Was?“, krächzte sie. Dann spürte sie Trauer

und Enttäuschung wie bittere Galle in ihrer Magengegend aufsteigen. „Schön zu

erfahren, was die eigenen Freunde von einem denken.“, sagte sie nur. Dann folgte sie

Naomi, ohne auf die Anderen zu warten, in den Raum hinein. „Hallo?“, fragte Jonas

wütend, „Geht´s noch?“ Vorwurfsvoll sah er Leo an. Der hob beschwichtigend die

Hände. „So habe ich das doch gar nicht gemeint.“, stammelte er, „Ich meinte nur,

dass Naomi so ist wie Marie. Nur asozialer.“ „Super.“, Hedwig schüttelte genervt den

Kopf, „Das hättest du ihr nicht sagen müssen.“ Da unterbrachen resolute Schritte ihre

Unterhaltung. Professor Grünschnabel war auf dem Weg zu ihnen. Schnell liefen sie

zu ihren Plätzen und machten sich auf eine weitere Stunde gefasst, in der sie wieder

nur Arbeitsblätter bearbeiten würden. Doch zu ihrem großen Erstaunen stand heute

etwas ganz anderes auf dem Plan. Professor Grünschnabel trug ein kleines

Gewächshaus mit sich herum, das sie zu Anfang der Stunde auf dem Pult abstellte.

Als sie die fragenden Blicke der Schüler auffing, erklärte sie schmunzelnd: „Das ist

eine Irsis tidikus. Heute gönne ich euch ausnahmsweise mal eine Pause von der

Stationsarbeit.“ Sie lächelte. „Ich muss wirklich sagen, dass ihr bis jetzt gut

mitgearbeitet habt.“ Durch die Klasse ging ein erstauntes Luftholen. Marie tat es

augenblicklich leid, dass sie so schlecht über Professor Grünschnabel geredet hatte.

Wie es schien, war sie doch nicht so gemein, wie alle dachten. Nach ein paar

schnellen Handgriffen von Seiten der Lehrerin stand die Pflanze auf dem Tisch. Sie

schien relativ unscheinbar und hätte Hedwig sie in der freien Natur pflücken müssen,

 

hätte sie statt ihrer wahrscheinlich irgendein Unkraut mitgenommen. Während

Professor Grünschnabel ihnen mehr über die Pflanze erzählte, fing es in einer Ecke

des Raumes auf einmal an zu rascheln. Ein Terminkalender kam und setzte sich

neben der Pflanze auf den Tisch. Dann raschelte es wieder. Dieses Mal lauter. Immer

mehr und mehr blaue Heftchen kamen angeflogen und setzten sich neben die Pflanze.

Das ging so weit, bis sie das gesamte Pult für sich besetzt hatten und Professor

Grünschnabel Anna bat, die Tür zu schließen, durch die die Hälfte der Heftchen

hineingeströmt war. Als Jonas die Lehrerin fragte, was für die Terminkalender an

dieser Pflanze so anziehend war, gab diese zu, dass sie keine Ahnung hatte. Als die

Schulglocke das Ende des Unterrichts prophezeite, hatte Hedwig den besten Plan

ihres Lebens ausgeheckt. Sie blieb noch länger da als alle anderen und verwickelte

Professor Grünschnabel in ein mehr oder weniger interessantes Gespräch über die

Irsis tidikus. Da die Lehrerin wie selbstverständlich davon ausging, dass Hedwig sich

tatsächlich für die Pflanze interessierte, schenkte sie sie ihr. Hedwig strahlte

daraufhin bis über beide Ohren. Genau das hatte sie gehofft.

Er schnappte nach Luft. Augenblicklich bildeten sich kleine Tröpfchen auf seiner

Haut, die wenig später zu von seinem Körper herabströmenden Bächen wurden.

Noch einmal holte er Luft. Jetzt fiel es ihm leichter. Er lauschte. Nichts. Alles war

still. Dann heftete er seine Augen hilfesuchend auf einen Fixpunkt. Den einzigen, den

er hier überhaupt fand. Es war der Lichtkegel seiner Taschenlampe. Aber der

blendete nur. Er spürte, wie ihn jemand am Arm berührte. Einer seiner Begleiter. Wie

gut, dass die sich hier auskannten. Nero atmete tief durch und schloss die Augen.

Dann öffnete er sie wieder. Ja, es war ganz normal, dass er sich fürchtete. Hier, wo

ihm nicht einmal das Licht etwas nützte. Aber gerade das Bekämpfen dieser Furcht

würde ihn zu einem Helden machen. Als er sich umdrehte, entdeckte er hinter sich

sieben weitere Lichtkegel, die suchend die Umgebung ableuchteten. Nun konnte auch

Nero erkennen, wie es hier aussah. Überall schwarze Bäume und Nebel. Ein Schauer

lief ihm über den Rücken. Wesen, die hier lebten, konnten ja nur gefährlich sein. Mit

einer kurzen Geste bat er seinen Hintermann um eine Karte. Dieser verstand, trotz

des durch den Nebel getrübten Lichts seiner Lampe. Wenig später hielt Nero die

Karte in den Händen. Alle Gebiete, in denen Fachleute die Gierungen vermuteten,

waren rot umkreist. Nero spürte, wie der alte Stolz wieder in ihm hoch kam. Er

würde die Tiere finden. Und er würde sie einfangen und die Belohnung kassieren.

Das war Grund genug, um sich in dieses unbekannte Terrain zu begeben. Ein paar

Sekunden lang studierte er die Karte. Dann fing er an, schnurstracks in eine

bestimmte Richtung zu laufen. Die anderen mussten ihm folgen. Von allen Seiten

stellten sie sich neben ihn. Die Waffen im Anschlag. Das gefiel Nero. Er gab den Ton

an und wurde gleichzeitig beschützt. So musste sich ein König fühlen. Ohne sich

weiter von den um ihn herum schleichenden Schatten stören zu lassen, ging er seinen

Weg. Es dauerte. Mittlerweile war seine Kleidung vollkommen nass. Außerdem

schmerzten seine Kniegelenke. Zwischendurch hatte er immer wieder innegehalten,

um zu lauschen. Doch bis jetzt waren sie noch keinem einzigen Lebewesen begegnet.

Er fand, dass er sich eine Pause verdient hatte. Erschöpft lehnte er sich an einen

pechschwarzen Baumstamm, kramte seine Wasserflasche hervor und trank. „Sollten

wir die Mission nicht so schnell wie möglich zu ende führen?“ Es war der kleine,

dicke Mann vom Vortag, der ihn das fragte. Nero betrachtete ihn abschätzig. Sein

Gesicht war gerötet und von seinem Ansatz lief das Kondenswasser mit Schweiß

vermengt. In den schwieligen Händen hielt er seinen Bogen, den er krampfhaft

versuchte, zu fixieren, da er ihm immer wieder aus der Hand zu rutschen drohte. Der

Gute hätte sich eine Pause verdient. Aber Nero dachte nicht daran. Der sollte schön

seinen Job machen. Er lachte laut auf. Wie wohltuend es war, den Besserwisser nun

schwitzend und keuchend vor sich stehen zu sehen. Ursprünglich hatte er ihn, genau

wie die Frau, mithilfe einer faulen Ausrede zurück in die Gaststätte schicken wollen,

um ihn für sein respektloses Verhalten zu bestrafen. Aber jetzt erkannte Nero, dass

das hier Strafe genug war. Ein wohliges Gefühl der Genugtuung breitete sich in

seinem Bauch aus. Mitten in seinen Gedanken versunken spürte er, wie ihm jemand

die Karte aus der Hand nahm. Nero war überrascht, deshalb leistete er keinen

Widerstand. „Ich werde uns zu einer der Stellen führen. Damit wir heute noch fertig

werden.“, die tiefe Stimme versetzte Nero eine Schlag in die Magengrube. So etwas

durfte er sich nicht bieten lassen! Dummerweise konnte er nicht erkennen, wer

gesprochen hatte. Und da er sich seine Kräfte lieber für die Jagd, die ihm bevorstand,

aufheben wollte, tat er etwas, zu dem er niemals sonst imstande gewesen wäre.

Missmutig überließ er einem der Jäger die Führung und wanderte weiter durch die

Dunkelheit. Zwanzig Minuten später musste Nero sich eingestehen, dass der Mann

sich wahrscheinlich wirklich besser auskannte als er. Denn mit einem Mal waren sie

umgeben von dunklen Schatten. Nero konnte ihre Anwesenheit spüren. Und er hörte

die Geräusche, die sie hin und wieder verursachten. Es waren viele. Und sie lauerten

im Schatten auf sie. Adrenalin durchströmte seinen Körper. Jetzt war es Zeit für eine

Waffe. Noch ehe er sein langes Messer aus dem Gürtel ziehen konnte, waren sie da.

Sie preschten von allen Seiten auf die Gruppe Menschen ein. Es war ein heilloses

Chaos. Das Einzige, was Nero hin und wieder wahrnehmen konnte, waren

quietschende Schreie und im diffusen Licht der Taschenlampe aufblitzende,

messerscharfe Krallen. Noch ehe er eine Chance gehabt hatte, eines dieser Tiere zu

erlegen, legte sich der Tumult wieder. Seine Begleiter hatten sie wirklich betäubt.

Alle. Staunen steckte Nero sein Messer wieder ein. Und beugte sich gespannt über

einen der zusammengesunkenen Körper. Das Tier war groß. So viel konnte er sehen.

Und es war am ganzen Körper stark behaart. Der leicht nach vorn gebeugte

Oberkörper sagte einen ebensolchen Gang hervor. Also fast so wie ein Affe. Als Nero

sich wieder aufrichtete, brüllte er. Vor ihm stand eines dieser Biester. Zu voller Größe

aufgerichtet und angriffslustig stürzte es sich auf ihn. An das, was dann kam, konnte

Nero sich später nicht mehr erinnern. Die Anderen hatten ihm nur gesagt, es wäre

eine Glanzleistung gewesen. Absolut unschlagbar. Aber Nero wusste nicht, ob das

stimmte. Und solange das nicht klar war, nagte in ihm immer fort der quälende

Drang, sich vor sich selbst beweisen zu müssen. Jedenfalls lag das Ungetüm bald

erdolcht vor ihm. Mit einer klaffenden Bauchwunde und erschlafftem Kiefer. Neros

linker Arm blutete in Strömen. Von oben bis unten klaffte dort eine breite

Schnittwunde. Aber er spürte den Schmerz erst, als er helfen musste, zwei der

Gierungen auf schnellstem Wege aus dem Wald hinaus zu transportieren. Sie legten

die Tiere auf Netze und zerrten sie mit sich. Noch nie hatten Neros Muskeln so

gebrannt. Und noch nie hatte er solche Schmerzen empfunden. Ihm war, als würde er

in diesem Moment für alle Gemeinheiten, die er je in seinem Leben begangen hatte,

bestraft werden. Und das auf einen Schlag. Im Stillen bat er um Vergebung. Bei wem

auch immer. Er war zu erschöpft, um sich darüber Gedanken zu machen. In dem

Moment, als das Licht der Sonne ihn umflutete, war ihm, als sei er den Schritt ins

Paradies gegangen. Bis er wieder den furchtbaren Schmerz in seinem Arm

registrierte. Geschickt hoben seine Begleiter die beiden Tiere in zwei verschiedene

Metallkäfige, die sie auf einen Wagen gestellt hatten und sperrten sie gründlich zu.

Danach wurden die Gitterstäbe mit Planen abgedeckt. Schließlich sollte nicht alle

Welt wissen, dass zu dieser Stunde zwei ausgewachsene Gierungen, ein Männchen

und ein Weibchen, mit zwei Pferdekutschen durch eine kleine Stadt im Süden Irias

transportiert wurden. Sobald Nero sich auf eine der beiden Ladeflächen setzte, weit

genug entfernt von dem Käfig, brach er zusammen. Der Blutverlust machte ihm zu

schaffen.

Eingeschlossen

„So. Ich hoffe, das sind jetzt alle.“, stöhnend wischte sich Hedwig den imaginären

Schweiß aus dem Gesicht. Hier standen sie also, in dem muffigen Gang zum

geheimen Raum und zählten Terminkalender. Es waren tatsächlich 149. Nur Gundula

fehlte. Aber die war ja unten bei Finja und Pi Po. Mittlerweile war eine Woche

vergangen und Hedwig war zu jeder Gelegenheit durch die Schule spaziert, nicht

ohne ihre Irsis tidikus in die Höhe zu halten wie eine Trophäe. Professor

Grünschnabel hatte das gefallen. Alle anderen hatte es genervt. Doch niemand schien

bemerkt zu haben, dass danach immer ein Dutzend Terminkalender fehlte.

Ursprünglich hatte Hedwig sie alle in den geheimen Raum sperren wollen. Aber dann

hatte sie festgestellt, dass es ihr zu viel Aufwand machte, jedes mal mit der Pflanze in

der Hand die wild schwingende Strickleiter hinunter zu den beiden Halbelfen zu

steigen. „Perfekt.“, Jonas Strahlen ließ sie erfreut feststellen, dass sich ihre Mühe

gelohnt hatte. Er stand direkt neben ihr und betrachtete zufrieden die blauen

Heftchen, die überall im Gang umherschwirrten und ein irres Geraschel erzeugten.

„Dann kann es ja heute Nacht losgehen.“, stellte er fest und stützte die Hand in seine

Hüfte. Augenblicklich wurde Leo heiß und kalt zugleich. Gezwungenermaßen

erwiderte er Jonas Lächeln. Er hatte keine Lust, gemeinsam mit seinem Freund in das

Büro ihrer netten Direktorin einzubrechen. Aber es musste wohl sein. Stöhnend

richtete er sich auf, nachdem er seinen rechten Schuh zugebunden hatte. Dabei stieß

er gegen Ernie, der pikiert verkündete: „In einer halben Stunde gibt es Abendbrot.“

Es war nicht einfach gewesen, ihn hierher zu locken. Ernie war äußerst widerwillig.

Außerdem hatte er wohl befürchtet, wieder in einem Müllsack zu landen, wenn er mit

Hedwig mitging. Aber diese gähnte nur und machte sich wieder auf den Weg nach

oben. „Soll ich eigentlich bei eurer Besprechung heute Abend mit dabei sein?“, fragte

sie, während sie sich gemeinsam mit den beiden Jungen durch den vollgestopften

Wandschrank in das Zimmer der beiden kämpfte. „Wie du möchtest.“, meinte Jonas,

„Wir müssen den Plan einfach nur nochmal durchgehen.“ Hedwig und Leo warfen

sich bedeutsame Blicke zu. Sie wussten, dass man den Plan ihres Freundes nicht

gerade als idiotensicher bezeichnen konnte. Und das hieß, dass er für keinen von

ihnen geeignet war.

„Du willst Erwin wirklich mitnehmen?“ Leo schüttelte entgeistert den Kopf. Noch so

ein neuer Einfall von Jonas. Neue Einfälle von ihm waren nie gut. „Ja klar, warum

nicht?“ Jonas konnte wirklich nicht verstehen, was sein Freund an dieser Idee

auszusetzen hatte, „Wir setzen ihn einfach vor die Tür vor das Büro meiner Tante und

verklickern ihm, dass er zu uns laufen soll, sobald er etwas Verdächtiges hört. Dann

musst du nicht Schmiere stehen und kannst mir stattdessen helfen, die

fleischfressende Pflanze auszutricksen.“ „Na super.“, Leo stöhnte, „Und du meinst,

Erwin versteht das? Was ist zum Beispiel, wenn er Professor Ferono in der Nähe

wittert und dann einfach freudestrahlend auf sie zu rennt, statt uns zu warnen?“ Jetzt

mischte sich auch Hedwig ein. „Stopp!“, gebot sie mit lauter Stimme, „Bei diesem

Thema habe ich doch wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden, oder?“ Das

Schweigen der beiden Jungen gab ihr Recht. „Also“, fing sie ihre Ausführungen an,

„erstens ist Erwin hochintelligent. Wenn ihr ihm das, was ihr von ihm wollt,

vernünftig beibringt, werdet ihr ganz bestimmt nicht wegen ihm auffliegen. Und

zweitens:“, auf einmal war da eine Spur von Zweifel in ihrer Stimme, „Was passiert

 

eigentlich, falls man euch erwischt? Wird dann nicht sofort klar, dass ich auch

mitgemacht habe, wenn ihr meinen Hund mitnehmt?“ Sie hörte in diesem Moment

selbst, wie egoistisch das klang. Falls die beiden Jungen geschnappt würden, wäre sie

bereit, auch ihre Schuld einzugestehen. Aber sie wollte zumindest selbst darüber

entscheiden. „Wir sagen einfach, dass wir Erwin mitgenommen haben, ohne dich zu

fragen.“, entschied Jonas spontan. „Ja, das glaubt uns auch jeder, wenn herauskommt,

dass du den Schlüssel deiner Tante gestohlen hast!“, Leo schüttelte den Kopf. Er

wollte lieber gar nicht daran denken, was geschehen würde, wenn sie erwischt

würden. „Ach was.“, Jonas schüttelte den Kopf, „Uns passiert schon nichts. Und falls

doch, dann war es das wert.“ Das sahen seine beiden Freunde nicht so. Aber sie

schwiegen. „Also“, Leos Stimme zerbarst die undankbare Stille, die sich über die

drei Freunde gelegt hatte, „nur um das nochmal zusammenzufassen: Du gehst heute

Abend ins Badezimmer deiner Tante, nimmst dir ihren Schlüssel und kommst dann

zurück ins Zimmer.“ Jonas nickte. „Dann warten wir, bis alles ruhig ist und

schleichen uns gemeinsam zu ihrem Büro. Darin angekommen füttert einer von uns

die fleischfressende Pflanze mit toten Fliegen, während der andere sich den Schlüssel

für die Schublade schnappt, in der du glaubst, Informationen über deinen Vater zu

finden.“ „Genau so.“, Jonas strahlte. „Das wird auf jeden Fall funktionieren.“, freute

er sich. Hedwig und Leo warfen sich einen zweifelnden Blick zu. In diesem Moment

fiel Hedwig siedendheiß etwas ein. „Ihr müsst euch auf jeden Fall vor Professor

Xynulaikaus in Acht nehmen!“, platzte es aus ihr heraus. Jonas guckte verdutzt.

„Hä?“, fragte er, „Wieso?“ „Weil er nachts manchmal Albträume hat.“, Hedwig

stöhnte bei dem Gedanken an die nächtliche Begegnung mit ihm, „Und dann

schlafwandelt er ab und zu. Passt also auf.“ „So, so.“ Ihre Freunde konnten sich

schon denken, woher sie das wusste.

Leise öffnete er die Tür zur kleinen Wohnung. Er war schon oft hier gewesen, auch

während der Schulzeit, obwohl er zu Anfang geglaubt hatte, dass die anderen ihn

deshalb komisch finden würden. Aber meist hatte niemand mitbekommen, wie er

seine Tante besuchte. Und falls doch, war es egal. Schließlich hatte Professor Ferono

für jeden ein offenes Ohr und hätte, falls nötig, auch die gesamte Schule in ihren

eigenen vier Wänden beherbergt. Schon jetzt konnte Jonas sie singen hören. Ein

schrilles Gewirr aus Tönen bahnte sich seinen Weg durch die geschlossene

Badezimmertür hindurch in seine Ohren. Perfekt. Er kam genau richtig. Leise schlich

er auf die Geräusche zu. Sobald er die Tür vorsichtig aufzog, waberte ihm ein

warmer Dunst entgegen, der seine Sicht trübte. Er schüttelte sich. Wie kam seine

Tante bei diesem milden Wetter dazu, heiß zu duschen? Den roten Lehrerumhang

fand er trotz allem ohne Probleme. Sie hatte ihn doch tatsächlich achtlos auf den

Boden geworfen! Jonas grinste. Mit schnellen Handgriffen durchforstete er die

beiden Taschen. Und wurde in einer von ihnen fündig. Der große Schlüsselbund

klirrte vernehmlich, als Jonas ihn aufhob. Aber das konnte man über den Gesang

hinweg nicht hören. Zufrieden schob er ihn sich in seine Hosentasche. Er war froh,

jetzt endlich wieder in den Flur zu kommen, wo ihn kein Duschdunst am Atmen

hinderte. Schnell hatte er die Tür wieder hinter sich zugezogen. Als er wenige Meter

vor ihm eine Person stehen sah, zuckte er zusammen und hätte fast aufgeschrien.

Lisa! Sie nahm keine Notiz von ihm. Stattdessen schnäuzte sie vernehmlich in ein

Taschentuch und nahm auf einem Stuhl Platz, um darauf zu warten, dass ihre Tante

aus dem Badezimmer herauskam. Seine Schwester weinte. Jonas überlegte, ob er sie

fragen sollte, was los war, aber als sich ihre Blicke kreuzten, funkelte sie ihn nur

wütend an und wand sich ab. Auch gut. Mit einem Seufzer der Erleichterung verließ

Jonas die Wohnung. Das war knapp! Wenig später saß er wieder mit Leo zusammen

in ihrem Zimmer. Aber er erzählte ihm nicht, dass seine Schwester ihn beim

Hinausgehen aus dem Bad beobachtet hatte. Er fürchtete zurecht, dass Leo die Aktion

dann abbrechen würde. Er konnte seine Stimme jetzt schon hören: „Dann wissen die

ja sofort, dass wir es waren!“ Aber Jonas gab nichts darauf. Sollten sie ihn doch

erwischen.

Die friedliche Stille hatte sich über die Schule gelegt wie eine warme, flauschige

Decke und sie unter sich vergraben. In den Gängen leckten nur die Feuerzungen der

Fackeln ab und zu an den Wänden und gaben ein sanftes Knistern von sich. Alles war

ruhig. Der dicke Teppich schluckte jeden ihrer Schritte. Selbst Erwins Getrapse, das

seine Ankunft normalerweise schon aus hundert Metern Entfernung verriet, konnte

man nicht hören. Jonas Hände hielten den Schlüsselbund fest umklammert. Er wollte

nicht, dass er klirrte. Seinen Blick hatte er entschlossen nach vorn gerichtet. Doch in

seinem Herzen nagten Angst und Zweifel. Sein Freund Leo hingegen machte keinen

Hehl daraus, dass er sich unwohl fühlte. Am liebsten wäre er von Kopf bis Fuß in

dem schwarzen Kapuzenpulli verschwunden, den er trug. Alle zehn Meter schob er

sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Er kam sich vor wie ein richtiger Einbrecher.

Lange würde er das hier nicht durchhalten. Schon jetzt nagte das Gewissen an ihm.

Sie gingen immer weiter, vorbei an der Eingangshalle und bogen in einen Gang ab,

dessen Ende eine schwere Holztür war. Als Jonas den golden glänzenden Schlüssel

anhob, spürte er sein Gewicht kaum. Der Gegenstand lag fest in seiner ruhigen Hand.

Geschickt vermied er das Klicken, das sonst immer ertönte, wenn man den Schlüssel

umdrehte. Kurz danach bat er Leo und Erwin mit einem schelmischen Grinsen, in

den Gang einzutreten, der danach kam. Die Tür hinter sich schloss er wieder ab. Der

längliche Raum, in dem sie jetzt standen, war eingerichtet wie eine Art Wartezimmer.

An den Wänden standen ein paar Stühle, auf die man sich setzten konnte, während

man darauf wartete, von der Direktorin aufgerufen zu werden. Leo schluckte. Dann

ging es weiter. Dieses Mal fiel es Jonas schwerer, die einzige Tür, die ihn jetzt noch

von seinem Ziel trennte, aufzuschließen. Es klirrte, als er den riesigen Schlüsselbund

herausholte und einen Schlüssel nach dem anderen ins Loch steckte, nur, um kurz

darauf genervt festzustellen, dass er nicht passte. Nicht nur Jonas war ungeduldig.

Auch Leo trat die ganze Zeit nervös von einem Bein aufs andere. „Hast du´s bald?“,

zischte er und wollte seinem Freund den Schlüsselbund aus der Hand nehmen. „Ja,

ja.“, gab dieser genervt zurück, „Ich finde den richtigen schon. Mach doch nicht

gleich so einen Stress!“ Er fand ihn tatsächlich. Allerdings waren seine Hände auf

einmal so unruhig, dass er es nicht schaffte, ihn in das Loch zu führen. Leo stöhnte,

nahm Jonas den Schlüssel ab und öffnete an seiner Stelle. Sie waren am Ziel. Als Leo

die dunklen Umrisse im Innern des Raumes erblickte, fühlte er sich, als würde er

zurückgeworfen in die Vergangenheit. Es war alles so unwirklich! Kopfschüttelnd

beobachtete er, wie Jonas ohne sich weiter umzusehen, in den Raum hineinstapfte

und wenig später in der Dunkelheit verschwand. Erwin und Leo folgten ihm. Da fiel

Leo plötzlich ein, dass Erwin ja eigentlich Wache halten sollte. „Jonas!“, flüsterte er.

Seine Stimme kam ihm auf einmal unangenehm laut vor und ihm war, als wäre der

Raum um ihn voll mit unsichtbaren Augenpaaren, die ihn beobachteten. Es war ein

beklemmendes Gefühl. „Was?“, sein Freund gab sich nicht einmal Mühe, seine

Stimme zu dämpfen. Leo zuckte zusammen. „Was ist mit Erwin?“, fragte er. „Ich

kümmere mich darum.“ Leo hörte Jonas stampfende Schritte noch bevor er ihn sah.

Er beobachte, wie er gemeinsam mit dem Hund zurück zur Tür lief, sich bückte und

ihm ein Kommando gab. Dann zog er die Tür zu. Jetzt war es noch dunkler. „Ich

dachte, er soll uns warnen, falls er etwas hört.“, gab Leo zu bedenken. Seine Stimme

hallte in dem großen Raum wider. „Erwin kann die Tür selbst aufmachen.“, sagte

Jonas nur. Dann packte er seinen Freund am Arm und zerrte ihn in die Richtung, in

der der Schreibtisch der Direktorin stand. Verborgen hinter einem dichten Gestrüpp

aus Grünpflanzen. „Ahh!“ Der Schrei war so laut, dass Leo sich unwillkürlich die

Ohren zu hielt. „Bist du bescheuert?“, schnauzte er. „Hier ist irgendetwas!“,

jammerte Jonas, „Ich bin voll dagegen gelaufen. Es fühlt sich an wie ein

Spinnennetz!“ Die panische Tonlage machte Leo klar, dass er handeln musste. Jonas

hatte Angst vor Spinnen. Schnell richtete er den Strahl seiner Taschenlampe in die

Richtung, in der sein Freund stand. Und fing an zu lachen. Es war gut, die

angespannte Situation ein wenig aufzulockern. „Das ist eine Pflanze!“, prustete er,

„Der Schreibtisch ist dahinter!“ Wenig später standen sie davor. Und suchten nach

einer harmlos aussehenden Pflanze, in deren Topf der Schlüssel für eine der

Schubladen verborgen lag. „Hier ist sie.“ Jonas Stimme klang heiser. Er bedeutete

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