Camille´s Tagebuch

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Camille´s Tagebuch
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J. - H. Trummer

Camille´s Tagebuch

Roman

Impressum:

Erstausgabe

©: 2020 J. H. Trummer

Knoevenagelweg 10, 30165 Hannover

Illustration: Francesco Bertram

Lektorat: J. H. Trummer

Druck: J. H. Trummer, Hannover

ISBN: e-Book: 978-3-XXXX-XXXX-X

Alle Rechte sind vorbehalten

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Genau wie die Handlung sind auch die meisten Personennamen frei erfunden und Bezüge zu realen und aktuellen Vorkommnissen rein fiktiv

Kapitelübersicht

I. Mit dem Kreuz auf der Brust

II. William Giffrey

III. Ein neues Zeitalter

IV. Das erste Tagebuch

V. Die Letzte im Stammbaum

VI. Jacob, Julie und das geheime Buch

VII. Die Flucht aus Paris

VIII. Ausflug in den Harz

IX. Das geheime Grab

X. Kein Ende rechter Gewalt

XI. Benjamin Silberstein

XII. Das nächste Attentat

XIII. Die besondere Uhr

XIV. Erneute Bedrohung

XV. Video des Grauens

XVI. Benjamin for President

XVII. Das zweite Glück

XVIII. Amtsenthebung

XIX. Die wilde Flucht

XX. Agent Decker

XXI. Der Kurztrip nach Vancouver

XXII. Der Verrat

XXIII. Finale

XXIV. Coda

I. Mit dem Kreuz auf der Brust

1314 Schottland, nach der Schlacht von Bannockburn. „De Bruce ist uns weit vorausgeeilt. Es kann sein, dass wir ihn heute nicht mehr einholen.“ Johan de Giffrey rammte sein Schwert am Ufer des Bannocks in den Boden und füllte seinen Helm mit Wasser. „Immerhin haben wir die Engländer über den Fluss getrieben und einen großen Sieg davongetragen“, erwiderte Alphonse de Martin. „Es wäre an der Zeit, nach Frankreich zurückzukehren.“ „Damit es uns so ergeht wie Jaques de Molay? Ich werde nach Edinburgh gehen und eine Familie gründen. Einzig Schottland kann uns in diesen für Templer unsicheren Zeiten den nötigen Schutz bieten. Ich werde Dich nicht aufhalten, aber sei gewiss Bruder, dass uns, solange wir dieses Kreuz auf der Brust tragen, König Philipp und Edward von England jagen werden. In den Augen dieser Könige sind wir Freiwild. Ich werde Rüstung und Gewand ablegen.“ Giffrey nahm einen großen Schluck aus seinem Helm und setzte sich auf einen Uferstein. „Du hast Recht, Frankreich ist keine Option, aber vielleicht kommt ein neuer Kreuzzug, und wir werden erneut gebraucht.“ „Du bist ein Narr Johan. Niemand braucht uns heute noch. Außerdem sind wir für den Krieg inzwischen zu alt. Tue es mir gleich und begleite mich nach Edinburgh.“ Während die Schotten auf dem Schlachtfeld die Verletzten versorgten und die Toten zählten, bestiegen Johan und Alphonse ihre Pferde und ritten gen Osten. Als die beiden Tempelritter vor den geschleiften Mauern von Edinburgh Castle standen, kam De Giffrey eine Idee. „Wir könnten Randolph helfen, das Schloss wieder aufzubauen. Es ist harte Arbeit, aber wenn wir von den Maurermeistern lernen, könnte das sehr lukrativ für uns werden. Was hältst Du davon?“ „Immerhin besser, als auf dem Schlachtfeld zu sterben“, antwortete De Martin. „Jetzt brauchen wir zunächst eine Unterkunft für heute Nacht. Wir befassen uns mit Deinem Vorschlag morgen in der Frühe.“ Am nächsten Morgen wachten die beiden Ritter neben dem Pferdestall auf. Die Luft war feucht und auf den Straßen roch es nach Fäkalien. Als eine Bedienstete aus dem ersten Stockwerk einen Eimer mit Abfällen auf die Gasse kippte, verfehlte sie De Martin nur knapp. Als dieser fluchend sein Schwert in die Höhe reckte, ließ die Frau eine zweite Ladung folgen. „Komm, wir sollten uns jetzt nicht mit dem gemeinen Volk anlegen, sondern schnellstens den Earl of Moray aufsuchen“, riet ihm sein Freund. Nur etwa zehn Minuten später standen die Templer vor dem Thronsaal des Edinburgh Castles und baten um Einlass. „Wie ist Euer Name und welches Anliegen habt Ihr vorzubringen?“, fragte einer der beiden Wachsoldaten. „Wir haben ein Begehren, das wir alleine dem Earl unterbreiten können, und so bitten wir Euch uns vorzulassen.“ Einer der Wachen bat Giffrey und Martin kurz zu warten und verschwand daraufhin im Thronsaal. Kurze Zeit später kehrte er zurück und erlaubte den Rittern einzutreten.

Thomas Randolph saß auf seinem Thron und verspeiste eine Gänsekeule, als die Templer sich vor ihm aufstellten. Zwei Hellebardenträger flankierten seinen eichenen Thronsessel. Als sie vor dem Neffen des Königs standen, ließen sie sich auf die Knie fallen und legten die Schwerter ab. „Ah, meine Lieblingsritter, die mir in der Schlacht so vorbildlich gedient haben. Bitte verratet mir Euer Anliegen. Ich werde alles daran setzen Eure Wünsche zu erfüllen.“ Giffrey trat vor und begann zu reden. „Sire, wir sind froh bei Bannockburn unsere Pflicht erfüllt zu haben, wollen nun aber den Militärdienst quittieren. Immer noch werden unsere Ordensbrüder überall auf dem Kontinent, besonders in Frankreich, verfolgt und mit dem Tode bestraft. Wir haben beide vor dem Eintritt in den Templerorden ein Handwerk erlernt und mein Freund sogar den Meistergrad als Steinmetz erworben. Lasst uns vorerst beim Wiederaufbau Eurer Burg helfen. Wir erwarten als Lohn nur eine Unterkunft und regelmäßige Mahlzeiten.“ Der Earl of Moray erhob sich, sodass er noch größer wirkte und antwortete ohne Umschweife: „Da ich tief in Eurer Schuld stehe, besonders bei Euch Johan de Giffrey – ohne Euch wäre ich nicht mehr am Leben - entspreche ich Eurem Wunsch. Wenn ihr mit der Kelle und dem Spitzmeißel genauso gut umgehen könnt wie mit dem Schwert und der Lanze, werdet Ihr für den Wiederaufbau der Burg sicherlich eine große Hilfe sein.“ Nachdem die Tempelritter den Thronsaal verlassen hatten, rief Thomas Randolph seinen obersten Zunftmeister herbei, um ihn zu bitten Johan und Alphonse unter seine Fittiche zu nehmen. Währenddessen besuchten die Ritter einen Pub und beschlossen, das Ale bis in die Morgenstunden in vollen Zügen fließen zu lassen. Johan fiel eine Bedienung mit knabenhafter Figur, blassem Teint und kleinen festen Brüsten auf, die alle Männer mied und dennoch ständig von ihnen begrabscht wurde. Als einer der betrunkenen Schotten sie zu sich auf den Schoss zog und ihr an die Brüste fasste, schritt Johan ein und zog sein Schwert. „Lasst die Lady in Ruhe, sonst lernt ihr meinen Stahl kennen. Er hat schon hunderte von Eurer Sorte niedergemäht.“ Der Schotte schüttete daraufhin Johan ein Glas Bier ins Gesicht, griff nach seinem Messer und erwiderte: „Vor Euch Franzosen haben wir keine Angst. Wenn Ihr Streit wollt, so könnt Ihr diesen haben.“ Alphonse bat seinen Freund Ruhe zu bewahren, doch dieser holte mit seiner Faust aus und brach dem Prahlhans die Nase. Daraufhin erhoben sich fast alle Schotten von ihren Plätzen und zogen ihre Waffen. Johan und Alphonse griffen sich zwei Stühle und wehrten damit die erste Attacke ab, doch angelockt von dem Lärm traten immer mehr Besucher in den Pub ein und beteiligten sich an der Schlägerei. Am Ende kämpfte jeder gegen jeden und die beiden Templer befanden sich inmitten des Getümmels. Die hübsche Bedienung sah, dass die beiden sich in einer mehr als brenzligen Situation befanden und wies ihnen den Ausgang durch die Küche. Sie nahm Johan an der Hand und führte ihn zusammen mit seinem Freund auf die Gasse. „Ihr habt Euch ja gleich Freunde gemacht“, sagte die junge Frau, danach führte sie beide Ritter in ein Fachwerkaus mit schiefem Giebel. „Ich kann Euch hier unterbringen, eine Kammer ist nicht belegt, ich selbst wohne gleich hier unten im Erdgeschoss.“ Im Schein der Fackel fiel Johan erst jetzt auf, von welch anmutender Schönhaut seine Retterin war. Doch da er galant war, zeigte er ihr in keiner Weise seine Begierde.

Alphonse dagegen schien mit anderen Gedanken beschäftigt zu sein. Er freute sich auf ein warmes Zimmer und eine kleine Mahlzeit. Als sie ihre Unterkunft erreicht hatten, verabschiedete sich die Frau. „Wenn Ihr noch etwas essen wollt, dann gebt mir jetzt Bescheid. Ich heiße übrigens Agnes, meine Schwester ist Köchin und kann Euch noch eine Kleinigkeit zubereiten.“ Am nächsten Morgen klopfte Agnes an ihre Tür und bot ihnen Speck und Brot an. „Der Zunftmeister wartet vor dem Haus und möchte Euch sprechen.“ Johan erhob sich von seiner Bettstatt, schob die Strohschütte beiseite und stand halbnackt vor der hübschen Frau. Er maß über einen Meter Achtzig und war fast eineinhalb Köpfe größer als sein gegenüber. „Die Rüstung und die Waffen legt Ihr wohl besser ab, angesichts dessen, was gestern passiert ist. Sonst droht Euch vermutlich weiteres Ungemach.“ Höflich verabschiedete sich Agnes, woraufhin Alphonse und Johan vor das Haus traten. Dort erwartete sie schon der Meister zusammen mit zwei Maurergesellen. Die Luft roch frisch und am wolkenlosen Himmel kreiste ein Schwarm Krähen „Einen schönen Morgen wünsche ich Euch. Der Earl of Moray hat mich gebeten Euch unter meine Fittiche zu nehmen. Dazu müsste ich aber zuerst wissen, welche Fähigkeiten Ihr mitbringt. Die Arbeit ist hart und gefährlich, wird allerdings auch gut bezahlt. Da Ihr von gutem Körperbau seid und kräftige Hände habt, scheint Ihr mir für die nötigen Arbeiten gut geeignet.“ Alphonse trat vor und protestierte vorsichtig. „Ich bin ebenfalls ein Meister, habe schon als junger Mensch Gesellen ausgebildet und bei der Planung von Kirchen und Kathedralen mitgewirkt. Weshalb sollte ich nun solche profane Frondienste ableisten.“ Der Zunftmeister schien wenig beeindruckt und erwiderte: „Meister haben wir zur Genüge, aber Leute die richtig anpacken können fehlen uns, da viele der Arbeiter im Krieg gegen England getötet wurden. Also, wollt Ihr mir dienen, so schlagt ein. Ist das nicht der Fall, solltet Ihr aus Edinburgh schleunigst verschwinden. Nach der gestrigen Wirtshausschlägerei sind eine Menge Bürger über Euch aufgebracht. Zudem ist, da Ihr Templer seid, eine Belohnung auf Eure Köpfe ausgesetzt. Ich rate Euch also mein Angebot anzunehmen.“ Alphonse nahm Johan zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich bin dafür, das Angebot anzunehmen. In London wären wir unerwünscht und nach Frankreich können wir auch nicht zurückkehren. Wenn wir dem Meister beweisen wie tüchtig wir sind, werden wir vielleicht bald schon zu höheren Aufgaben berufen.“ Johan schaute noch etwas skeptisch, gab dann aber nach und reichte Meister Ralph die Hand. „Wann sollen wir beginnen?“ „Am besten heute noch. König Edward von England wird die Schmach von der Niederlage bei Bannockburn nicht so schnell verdaut haben und auf Rache sinnen. So ist die Gefahr groß, dass die Engländer vorhaben, die Burg ein weiteres Mal zu schleifen. Bei meinem Stellvertreter erhaltet Ihr Eure Werkzeuge. “

 

Sechs Jahre später, wir schreiben das Jahr 1320 verweilten Alphons und Johan immer noch in Edinburgh. Johan hatte inzwischen Agnes geheiratet und Alphonse das Burgfräulein Rebecca. Agnes hatte Johan inzwischen zwei Töchter und zwei Söhne geschenkt. Die Söhne nannten sich Thomas und William. Thomas war drei Jahre alt und hatte feuerrotes Haar, während der zweijährige William das strohblonde Haar seiner Mutter geerbt hatte. Die Töchter hießen Marie und Louise und waren ein, beziehungsweise zwei Jahre alt. Alfons Meistergrad war inzwischen anerkannt, und er hatte sich um den Wiederaufbau des Edinburgh Castle genauso wie um die Restaurierung der Abtei Melrose Abbey verdient gemacht. Johan dagegen verdingte sich weiter als Tagelöhner und 1317 trat er ein letztes Mal in den Militärdienst ein und half Thomas Randolph bei der Rückeroberung der Isle of Man. Allerdings wurde er dabei schwer verwundet und konnte seiner Arbeit als Maurer anschließend nicht mehr nachkommen. Agnes war ab jetzt alleine für den Lebensunterhalt und die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich. Als Alphonse, der sich inzwischen Alfons nannte, vom Schicksal seines ehemaligen Kampfgefährten hörte, bat er Agnes ihre Kinder seiner und Magaretes Obhut zu überlassen. Das hatte unter anderem den Grund, dass Alfons unfruchtbar war, und Rebecca deswegen keine Kinder zeugen konnte. Agnes zögerte nur kurz, um dann in die Adoption ihrer Kinder einzuwilligen. Von nun an lebten Louise, Marie, Thomas und William in einem feudalen Haus in der Nähe der Burg, während Agnes sich um ihren inzwischen schwerkranken Mann kümmern konnte. 1324 starb Johan völlig verarmt nach langer Krankheit. Bei seiner Beerdigung waren neben Alfons und Rebecca auch ihre adoptierten Kinder zugegen, nur Agnes fehlte. Wie sich später noch herausstellen sollte, war sie inzwischen mit einem stadtbekannten Säufer nach London durchgebrannt.

II. William Giffrey

Thomas und William wuchsen in einem gut behüteten Umfeld auf. Während Thomas den Mut und die Unbekümmertheit seines Vaters geerbt hatte, war William eher von sensiblem und zurückhaltendem Charakter. Doch trotz ihrer Unterschiede verstanden sie sich gut, und sollte William von anderen Kindern angefeindet werden, so sprang Thomas dazwischen und stand seinem schmächtigen Bruder bei. Mit dem siebten Lebensjahr wurde Thomas als Page an den königlichen Hof berufen, während William sich hauptsächlich mit Büchern beschäftigte. Alfons verstand seinen Adoptivsohn nicht und versuchte ihn immer wieder zu beeinflussen. „Du willst ein Gelehrter werden, dann lerne zunächst Deinen Mann zu stehen. Orientiere Dich an Thomas, er hat im Gegensatz zu Dir den richtigen Weg eingeschlagen.“ Thomas wurde mit vierzehn Jahren zum Knappen ausgebildet. William dagegen ließ sich nicht umstimmen. Ihn interessierten Themen wie die Astronomie, die Medizin und die Architektur. Zumindest bei diesem Handwerk kam er den Interessen seines Vaters nahe, und so sagte Alfons zu seinem Adoptivsohn: „Wenn Du nicht die Kampfkunst erlernen möchtest, dann werde Kathedralen Bauer. Das hat noch Zukunft. William, der glaubte alles werden zu können, gab schließlich dem Wunsch seines Vaters nach und beschäftigte sich ab jetzt mit der Geometrie und dem Zeichnen. Er begann seinem Adoptivvater sogar bei dessen Arbeit zur Hand zu gehen. Unterdessen hatte die Regentschaft in Schottland wiederholt gewechselt. Der Earl of Moray war im Jahr 1332 gestorben und Eward Balliol strebte die Königswürde in Schottland an. Viele Schotten unterstützten allerdings den rechtmäßigen minderjährigen Thronerben David II., den Sohn vom inzwischen verstorbenen Robert Bruce. Für Alfons und seine Familie änderte sich dadurch allerdings nichts. Die Jahre vergingen und die Brüder wuchsen zu jungen Männern heran.

Thomas erhielt wegen seiner treuen Dienste und seiner Tapferkeit, obgleich er nicht von Adel war, schon mit zweiundzwanzig Jahren den Ritterschlag, und der ein Jahr jüngere William wurde in den Stand eines Zunftmeisters erhoben. Obwohl beide so verschieden waren, ähnelten sie sich in den Punkten Ausdauer und Pflichterfüllung. Während Thomas auf Turnieren seine Kampfkünste bewies, interessierte sich der kreative William inzwischen auch für die Medizin. Das ging so weit, dass er aufgrund seines Wissens von Ärzten herangezogen wurde, um seine Meinung bezüglich der Diagnosen und der Behandlung von Patienten beizusteuern. Ein Jahr später im Jahr 1340, inzwischen war der hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich ausgebrochen, folgte Thomas weiter loyal seinem jungen König David II. 1346 kam es zur Schlacht von Neville´s Cross, wo die Schotten eine schwere Niederlage hinnehmen mussten. Thomas geriet genauso wie sein König in Gefangenschaft, konnte ein Jahr später aus London fliehen und kehrte nach Edinburgh zurück. Zwei Jahre später brach auf dem britischen Festland die Pest aus. Besonders in Großstädten wie London, wurde fast die Hälfte der Bevölkerung von der Seuche dahingerafft. Und die tödliche Krankheit machte auch vor Schottland nicht halt. Ärzte hatten Angst sich zu infizieren, doch William sah in der Seuche eine Herausforderung. Er wollte sein medizinisches Wissen einsetzen, um die Pest aufzuhalten. Er sah Aderlass, Einläufe und Brechmittel als die falschen Behandlungsmethoden an und suchte verzweifelt nach alternativen Heilmitteln. Doch musste er schnell feststellen, dass Naturheilmittel keine Lösung gegen die Ausbreitung der Epidemie darstellten. So kam er auf die Idee, nicht die Symptome, sondern die Auslöser zu bekämpfen. Die meisten seiner Kollegen gingen davon aus, dass die Pest durch faulige Dämpfe oder ungünstige Sternenkonstellationen hervorgerufen wurde.

William dagegen war ein guter Beobachter und war der Überzeugung, dass es einen Zusammenhang zwischen dem vermehrten Auftreten von Ratten und der Krankheit geben musste. Als er den anderen Medizinern von seiner Beobachtung berichtete und seine Vermutungen zur Ausbreitung der Krankheit darlegte, wurde er für verrückt gehalten und von der Gilde der Mediziner ausgeschlossen. Einzig zwei Meister des Handwerks vertrauten seinen Schlussfolgerungen, rieten ihm aber sich wieder dem Kathedralen-Bau zu widmen, da sie befürchteten, dass seine Karriere als Arzt in Schottland wohl beendet war. In seinem Stolz wehrte sich William lange gegen seine Verleumder, musste aber angesichts des massiven Drucks von außen dem Protest der Ärzteschaft nachgeben. Thomas erkannte schnell die Probleme seines Bruders und beschloss ihm in jeder Form zu helfen. Ihre Eltern waren zudem an der unheilvollen Seuche erkrankt und so war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie sterben sollten. „Unsere Eltern werden bald das Zeitliche segnen, wir sind dann ohne Familie und uns hält ab da nichts mehr in Schottland. Ich würde Dir sogar an das Ende der Welt folgen lieber Bruder.“ William war gerührt von der Ansprache seines Bruders, gleichzeitig aber unentschlossen in Bezug auf die Option Schottland zu verlassen. „Was ist mit Marie und Louise, meinst Du, sie würden unsere Entscheidung mittragen und uns folgen?“ „Wir reden beide mit ihnen und dann werden wir sehen, ob sie unsere Idee unterstützen.“ „Wohin willst Du überhaupt auswandern?“, fragt darauf William, „die Pest gibt es überall.“ Thomas überlegte kurz. „Wie wäre es, wenn wir in die Heimat von Johan und Alfons aufbrechen würden, also nach Frankreich. Wir sind keine Templer wie Johan einer gewesen ist, ergo werden wir dort nicht steckbrieflich gesucht. Ich denke, die Franzosen hätten für uns beide Verwendung. Als Schotten und als Feinde von England gebe es vielleicht sogar die Chance am Hofe von Philipp VI. angenommen zu werden. Du als Arzt und ich als Ritter.“ William erbat sich Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen, dann würde er eine Entscheidung treffen. Am folgenden Tag trafen sich die Brüder mit ihren beiden Schwestern und erklärten Ihnen ihren Plan. „Wir werden in Schottland bleiben“, sagte Marie. „Ich habe eine gute Stellung am Hofe und Louise wird bald heiraten.“

Nach der Verabschiedung von ihren Schwestern standen Thomas und William zwei Stunden später am Hafenufer von Leith und suchten eine Möglichkeit, um nach Frankreich überzusetzen. Als sie gegenüber einem Kapitän ihren Wunsch äußerten, erfuhren sie, dass Calais erst vor kurzem von den Engländern erobert wurde. Die ganze Nordküste von Frankreich sei inzwischen gefährlich. Es gebe nur eine Möglichkeit und die wäre, Spanien und Portugal zu umrunden und Marseilles anzusteuern. „Allerdings hört man, dass gerade in Marseille und der Provence die Pest besonders schlimm wüte“, sagte der Kapitän. „Wann würde denn ein Schiff nach Marseille auslaufen“, wollte William wissen. „Morgen früh legt die Konrad in Leith an. Sie fährt die Route nach Südfrankreich, und wenn Ihr genügend bezahlt, bekommt Ihr sicherlich einen Platz auf der Kogge.“ Am folgenden Tag standen Thomas und William an dem Pier, und nach weniger als zwei Stunden konnte William den Einmaster auf See ausmachen. Als das Schiff anlegte, stürmten die Brüder los und unterbreiteten dem deutschen Kapitän ihr Anliegen. „Wir laufen allerdings erst morgen aus“, sagte dieser und fügte hinzu: „Für die Überfahrt berechne ich Euch vier Goldmünzen, und Ihr müsst auf Deck schlafen, da die Kojen alle belegt sind.“ „Wir haben für heute Nacht keine Übernachtungsmöglichkeit, können wir schon heute an Deck schlafen?“, fragte Thomas. „Das kostet zehn Pennys extra“, erwiderte der Kapitän. „Wir haben Getreidesäcke an Bord, damit könnt Ihr Euch einen Schlafplatz einrichten.“ Die Nacht war kalt, und die Brüder wärmten sich gegenseitig, wobei William immer wieder aufwachte und nie richtig in den Schlaf fand. So begann er in der Nacht zu grübeln. Würden die Franzosen seine Meinung als Mediziner akzeptieren, obwohl er keine Ausbildung zum Arzt genossen hatte. Immer noch fühlte er sich mehr zum Mediziner berufen als zum Baumeister, obgleich er so viele Anfeindungen über sich ergehen lassen musste. Kranken zu helfen und nach neuen Heilungsmethoden zu forschen, das sah er als seine eigentliche Berufung an. Am nächsten Tag lief die Konrad aus, an Bord etwa zwanzig Matrosen, ein Duzend Soldaten und fünf weitere Personen, anscheinend Edelleute, darunter drei junge und anmutige Frauen.

 

Thomas fiel besonders die von ihrer Statur größte der jungen Frauen auf. Sie hieß Isolde und sollte in Frankreich mit einem französischen Grafen verheiratet werden. Ihre Eltern, ein reicher Händler aus Lübeck und seine adlige Frau hatten dem französischen Bräutigam angeblich eine enorme Mitgift versprochen, nur damit Isolde in eine adlige Familie einheiraten konnte. „Lass Dich nur nicht erwischen“, ermahnte William seinen Bruder. „Wenn das herauskommen sollte, dass Du dermaßen mit ihr flirtest, werfen sie uns wahrscheinlich über Bord. Sie ist jemandem anderen versprochen, und das solltest Du akzeptieren.“ Doch Thomas ließ sich nicht abhalten, und traf sich jeden Abend, wenn die Mannschaft schlief, auf dem Kapitell mit seiner Angebeteten, wobei er nicht nur Worte mit ihr austauschte. Die Wochen vergingen und die Kogge war schon auf der Höhe von Gibraltar, da fasste Thomas den Entschluss, nach der Ankunft in Marseille mit Isolde durchzubrennen. Der ahnungslose Vater der jungen Edelfrau erhoffte sich indessen durch die Vermählung seiner Tochter mit dem französischen Grafen besondere Anerkennung in seiner Gilde und in der Zukunft gute Handelsbeziehungen mit französischen Kaufleuten. Erst als die Konrad Wochen später in Marseille einlief, erklärte sich Thomas gegenüber seinem Bruder, der dessen Entscheidung nicht fassen konnte. „Wenn wir in Sicherheit sind, dann lasse ich Dir eine Nachricht über unseren Aufenthaltsort zukommen“, sagte Thomas zu William. „Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.“ „Wir wollten uns nie aus den Augen lassen, erinnerst Du Dich, wir haben es uns versprochen“, entgegnete William. „Was soll ich denn in diesem Land alleine. Ohne Dich ist mein Leben nur die Hälfte wert.“ Thomas umarmte seinen Bruder ganz herzlich. „Du hast hier eine Aufgabe. Ich weiß, dass Du ein wunderbarer Arzt bist, auch wenn Du keine allgemeine Zulassung besitzt. Die Menschen hier brauchen Dich. Sieh Dich nur um. Überall liegen Leichensäcke und dann der Gestank von fauligem Fleisch. Du bist geschaffen für diese Herausforderung, ich sehe für mich hier keine Zukunft, aber ich liebe Isolde, und noch heute Nachmittag werden wir zusammen durchbrennen.“ William wurde bewusst, dass sein Bruder es todernst meinte und sich nie eines Besseren belehren lassen würde. Daher gab er nach und ließ Thomas ziehen. Nachdem dieser ein Pferd organisiert und Isolde am vereinbarten Platz getroffen hatte, suchten beide das Weite.

William hatte kaum noch Geld und hoffte auf eine preiswerte Unterkunft, doch die meisten Betten waren belegt. Als er am Hafen von Marseille entlang spazierte, musste er mit ansehen, wie allerorts die Toten auf allen möglichen Pferdekarren meist ohne Leichensäcke übereinander gestapelt wurden. In einer ehemaligen Schmiedewerkstatt sah er, wie Mediziner Kranke behandelten, indem sie diese zur Ader ließen oder sie mit Salben aus Krötenlaich und Hühnerkot einrieben. William war über diese Behandlung entsetzt und sprach einen der französischen Ärzte an. „Das wurde auch schon in Schottland und England versucht und brachte keinerlei Heilung.“ „Wenn Sie meinen es besser machen zu können, so treten Sie ruhig nach vorne und versuchen Sie Ihr Glück.“ „Zunächst sollten Sie wissen, dass die Krankheit hochansteckend ist, und da Sie keine Schutzmasken tragen, werden Sie genauso krank werden wie Ihre Patienten. Zudem weiß ich, dass der Überträger ein Tier ist, höchstwahrscheinlich sind es Ratten. Das habe ich bei meinen Forschungen in Bezug auf den schwarzen Tod beobachten können.“ Der Franzose hielt das Gebaren von William für höchst impertinent und wies ihn zurecht. „Wer sind Sie denn, dass Sie es wagen, uns mit dieser Dreistigkeit Versagen vorzuwerfen. Wir Mediziner sind uns alle einig, dass die Krankheit von giftigen Dämpfen, von ungünstig stehenden Winden und manchmal auch von schlechten Planetenkonstellationen herrührt. Und dann kommen Sie vom englischen Festland daher und behaupten, alles besser zu wissen.“ William blieb unterdessen ganz ruhig und gelassen. „Wenn Sie mich mithelfen lassen, werde ich Ihnen bald beweisen, dass ich Recht habe.“ Obwohl der französische Mediziner William für hochnäsig hielt, erlaubte er ihm, eine Patientin zu behandeln. „Wenn die Krankheit nicht so weit fortgeschritten ist, dann können Sie statt einen Schnitt in die Vene zu setzen, die Lymphknoten aufschneiden“, sagte William. Er begab sich zu einer jungen Frau, die bisher nur wenige Pestbeulen aufwies und verfuhr so, wie er es gerade beschrieben hatte. Doch der Franzose war nicht überzeugt, sondern sagte: „Der Frau geht es keinen Deut besser, das soll also Ihre Wundermedizin sein.“ „Warten Sie eine Woche ab, und lassen Sie sie in ein Umfeld bringen, wo keine Ansteckungsgefahr mehr besteht.“ „Sie können die Frau gerne zu ihrer Unterkunft bringen, wir brauchen hier wegen der Überfüllung ohnehin mehr Platz.“ William bat zwei Helfer, die Patientin nach Hause zu bringen und begleitete sie. Bevor er nach draußen trat, wendete er sich nochmals an den französischen Arzt. „Wenn ich Erfolg haben sollte, dürfte ich sie dann anschließend im Kampf gegen die Seuche unterstützen?“ Sollten Sie, was ich nicht glaube, wirklich einen positiven Effekt erzielen, dann sind Sie hier wieder gern gesehen.“ Als William mit der jungen Frau auf der Bahre deren Behausung erreichte, fühlte er ihr die Stirn und sagte sofort zu ihrer Mitbewohnerin: „Sie hat sehr hohes Fieber, wir müssen sie runterkühlen.“ Neben ihrem Zimmer befindet sich eine Kammer mit einem Waschzuber. „Befüllt den Zuber mit kaltem Wasser und legt die Frau anschließend hinein.“ Dreißig Minuten später war die Temperatur gesunken und die junge Frau namens Anette lag in ihrem Bett und schlief. William verwendete ein altes Laken als Unterlage für die Schlafende, setzt ein Skalpell an ihren geschwollenen Lymphknoten an und schnitt diese vorsichtig ein. Ein Gemisch aus Blut und übelriechender eitriger Flüssigkeit lief aus der Wunde. „Jetzt hilft nur noch abwarten“, dachte sich William und ließ sich auf einem Hocker neben Anettes Bett nieder.

Als er am nächsten Morgen auf dem Boden liegend erwachte, war die junge Frau ebenfalls wach. Trotz der hässlichen Beulen an ihrem Körper, war sie von beeindruckender Anmut. Doch das entging William zunächst. Er war für den Augenblick nur darauf bedacht, dass Anette wieder gesund wurde. Als sie ihren Retter erblickte, schoss ihr die Schamesröte ins Gesicht. „Wer zum Teufel seid Ihr und was macht Ihr neben meinem Bett?“ „Ihr seid sehr krank und ich bin hier, um Euch das Leben zu retten.“ William schaffte es das Fieber seiner Patientin weiterhin zu senken und nach einer Woche konnte Anette sogar wieder aufstehen. „Machen Sie alles ganz langsam“, empfahl ihr der junge Mediziner und stützte sie bei ihren ersten Gehversuchen. Als Anette sich im Spiegel betrachten wollte, warnte William sie, dass dies noch zu früh sei, und ihr nicht gefallen würde, was sie sehen würde. Als sie ihren vernarbten Körper im Spiegel sah, reagierte sie anders als von William erwartet. „Zwar missfällt mir der Anblick meines Körpers, aber Sie haben mir tatsächlich das Leben gerettet, und dafür werde ich Ihnen auf ewig dankbar sein. Darf ich Sie umarmen, und wie kann ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen, wo Sie doch so offensichtlich ein feiner Herr sind?“ Der junge Mann war gerührt von der Hilfsbereitschaft seiner Patientin und äußerte, dass er gerne bei ihr verweilen würde, da er sonst keine Unterkunft habe. „Das soll kein Problem darstellen, ich habe hier genug Platz. Da ich normalerweise abends im Wirtshaus arbeite, können Sie gerne auch mit meinem Bett Vorlieb nehmen, wenn es Ihnen genehm ist.“ „Danke für dieses Angebot, ich nehme es gerne an.“

Am folgenden Tag mischte sich William wieder unter die französischen Ärzte und teilte ihnen seinen Erfolg mit. Doch diese sagten nur, dass er mit der Heilung der Patientin Glück gehabt habe. Sie gestatteten ihm, dass er Ihnen für einen geringen Lohn zur Hand gehen durfte. William war enttäuscht, sah aber für den Augenblick keine Alternative, und so stimmte er dem Angebot zu. Er verrichtete nur niedere Arbeit, zum Beispiel die Toten zu den Scheiterhaufen zu eskortieren oder die Operationswerkzeuge der Ärzte zu reinigen. Abends fiel er dann todmüde ins Bett und war froh, wenn Anette noch im Haus weilte. So verging Woche um Woche, und ein Ende der Epidemie war nicht abzusehen. Eines Abends lag er im Bett, und Anette kam früher nach Hause. Als er von ihr wissen wollte, welchen Grund es dafür gab, erwiderte sie, dass man ihr die Arbeit gekündigt habe. Sie fragte, ob sie sich neben ihn legen dürfe, sie würde ihn auch nicht belästigen. William fuhr ihr mit einer Hand durchs Haar und sagte leise: „Ich möchte aber von Dir belästigt werden und das nicht nur heute Nacht.“ So kam es, dass sie ein Paar wurden. Und damit Anette nicht für eine Hure gehalten wurde, heirateten sie einen Monat später. William war verliebt, hatte aber genug von der Hilfstätigkeit in den Spitälern. Und so beschloss er zusammen mit seiner Frau Marseille zu verlassen. Von dem mühsam Ersparten leistete er sich ein Pferd, und eines Tages ritten beide los, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. In einer Wirtschaft erfuhr er, dass Arbeiter für den Kathedralen Bau in Aix-En-Provence gesucht würden und so reisten William und Anette am folgenden Tag in die Provence. Im Grunde kamen sie damit vom Regen in die Traufe, da die Pest auch nicht vor dieser Region Halt gemacht hatte. William jedoch bekam sofort eine Anstellung, und als er erklärte, dass er sich schon in seiner Heimat Schottland mit der Konstruktion von Kirchen beschäftigt habe, wurde er kurze Zeit später Assistent des hiesigen Baumeisters. Um eine weitere Ansteckung durch Lepra oder die Pest zu vermeiden zog das Ehepaar aufs Land. Sie erwarben ein kleines Bauernhaus und Anette begann mit der Aufzucht von Hühnern und Schafen. Als William eines Abends auf dem Heimweg war, kamen ihm drei merkwürdige schwarzbekleidete Männer entgegen. Er wollte an ihnen vorbeireiten, doch eine dieser Personen nahm sein Pferd am Zügel und nötigte William abzusteigen.