Camille´s Tagebuch

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Was er über die Medizin wusste, waren gestrige, veraltete Lehren, die vom Fortschritt längst eingeholt waren. So besuchte er an der Universität schon vom ersten Tag an Vorlesungen über Chirurgie und Anatomie bei einem bedeutenden Arzt namens Antoine Petit. Beeindruckt von dem Wissen, welches Petit besaß, entschloss sich Marcel Giffrey so viel wie möglich über diese Themengebiete zu lesen. In der Nacht verdiente er sich sein Geld als Leichenbestatter und später grub er die Toten für angesetzte Obduktionen wieder aus. Das war ein gutes Geschäft für jemanden, der vom Status her nur Student war. Außerdem lernte er dadurch viel über die Anatomie des Menschen. Ein gewisses Problem gab es dennoch, nämlich dass Marcel im wahrsten Sinne des Wortes kein Blut sehen konnte. Da er sich bei Operationen am menschlichen Körper regelmäßig übergab, wurde ihm abgeraten Chirurg zu werden. Doch der junge Mann machte aus der Not eine Tugend, indem er in die Forschung wechselte. Es gab zu viele Krankheiten, die kaum erforscht waren, und medizinische Gegenmittel waren noch nicht erfunden. Er hörte davon, dass jemand herausgefunden habe, dass nach der Verabreichung von einer geringfügigen Menge an Pockenviren das Immunsystem des Menschen gestärkt wurde, und es erste Heilungserfolge gab. Dadurch angespornt wälzte er Bücher über Biologie und Heilkunde. Er lernte den menschlichen Körper ganzheitlich zu sehen und begann dadurch immer mehr die Zusammenhänge von Geist und Körper zu verstehen. 1785 trat er der Academie des sciences bei, um mit den besten Gelehrten zusammenzuarbeiten. Doch schon vier Jahre später kam die Revolution und das Ende der Monarchie, woraufhin das Institut vorrübergehend geschlossen wurde. Marcel selbst kam unter Verdacht ein Royaler zu sein und floh bei Nacht und Nebel aus der Stadt zu seinem Bruder in Orleans. Seine Familie musste er in Paris zurücklassen, was ihn noch mehr schmerzte als die Tatsache, dass er nun ohne berufliche Perspektive war. Doch der nicht mehr ganz junge Arzt gab die Hoffnung niemals auf. So ergab es sich, dass er wie einige andere Wissenschaftler Anfang des 19. Jahrhunderts von allen Vorwürfen freigesprochen wurde und unter Auflagen wieder seinem Beruf nachgehen durfte. 1815 erschien Napoleon Bonaparte ein zweites Mal auf der Weltbühne und hub ein Heer von 125000 Soldaten aus. Marcel, der eigentlich ein Pazifist war, entschied sich als Militärarzt unter dem General zu dienen, auch wenn er zum wiederholten Male seine Familie damit im Stich ließ. In der Schlacht bei Waterloo, die Bonaparte bekanntlich verlor, wurde Marcel gefangen genommen und verbrachte danach ein Jahr in einem preußischen Gefangenenlager, bevor er nach seiner Freilassung nach Frankreich zurückkehren durfte.

Er war inzwischen über fünfzig Jahre alt, als eine Naturkatastrophe die östliche Welt erschütterte. Der Vulkan Tambora in Indonesien war 1816 ausgebrochen, forderte in Asien direkt oder indirekt über siebzig tausend Tote und brachte die Finsternis 1816 auch nach Europa. Der Aschestaub verdunkelte die Sonne und es folgten Hungersnöte in der ganzen Welt. Es war auch das Jahr, in dem die Cholera Europa erreichte und aufgrund dieser Epidemie wiederholt viele Menschen sterben mussten. Marcel Giffrey entschied sich bei der Bekämpfung der Krankheit seinen Beitrag zu leisten und gab den Fachleuten Recht, welche als Grund für die Ausbreitung der Seuche die Verunreinigung des Grundwassers sahen. So strebte er von diesem Zeitpunkt an, die hygienischen Verhältnisse in den Großstädten Frankreichs zu verbessern und an innovativen Arznei-produkten zu forschen. Seine Söhne halfen ihm bei der Erforschung von Heilmitteln, doch Marcel selbst hätte noch hundert Jahre länger leben müssen, bis es einen Durchbruch auf bessere Heilungschancen gab. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1835 hatte er ein Erlebnis der besonderen Art, das ihn an die Prophezeiungen seines Großvaters denken ließ. In einem Traum auf dem Sterbebett erschienen ihm die drei Fremden, von deren Existenz er ja längst gehört, aber nie an sie geglaubt hatte, und sie reichten ihr Vermächtnis an ihn weiter.

„Da Du bald von dieser Welt scheiden wirst, hast Du noch die Aufgabe, an Deine Söhne unsere Botschaft weiterzugeben. Da Du es vermieden hast, einer Loge oder einer Vereinigung mit ähnlichen Zielen beizutreten, hast Du im Gegensatz zu vielen Deiner Vorfahren zu keiner Zeit zur Verbreitung der Wahrheit beigetragen. Und diese Wahrheit besagt, dass es weiterhin viele Kriege geben wird, in denen Millionen, egal welchem Glauben sie anhängen, sterben werden. Auch Seuchen wird es geben, manche menschengemacht, andere basierend auf Strafen, welche der Geist des Planeten Euch auferlegt. Beginne an diese Erkenntnis zu glauben.“ Als Marcel Giffrey am folgenden Morgen aufwachte, glaubte er zunächst zu phantasieren, bis er auf dem Stuhl neben seinem Bett einen Fetzen Papier entdeckte. Auf diesem stand geschrieben: „Vergiss nicht, was der Menschheit bevorsteht, solltest Du die Wahrheit ignorieren.“ Dann begann er sich an seinen Traum zurück zu erinnern und berief seine Söhne zu sich. Charles, Jacques und Maurice hatten ungefähr das gleiche Alter und waren alle drei mindestens dreißig Jahre alt, wobei Maurice mit exakt dreißig Lenzen der Jüngste war. „Ich muss Euch in der letzten Phase meines Lebens noch etwas Wichtiges mit auf den Weg geben. Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich hatte gestern Nacht eine Begegnung mit drei Boten, die mir wohl Gott selbst gesandt hat. Sie malten mir eine schreckliche Vision der Zukunft aus und baten mich Euch zu instruieren, welchen Beitrag Ihr bei der Verhinderung des grausigen Schicksals der Menschheit leisten könnt.“ Seine Söhne hielten ihn für verrückt, bis zu dem Augenblick, als er als Beweis ihnen den Zettel mit der Botschaft von seinen Traumgestalten zeigte. „Das ist nicht Deine Handschrift Vater, soweit können wir Dir beipflichten. Aber wir denken, und da bin ich mit meinen Brüdern einer Meinung, dass Du einen Albtraum hattest und im Delirium diese Worte irgendwie selbst verfasst hast“, sagte der mittlere seiner Söhne, Jacques zu ihm. „Auch wenn Ihr mir nicht glauben wollt, ich spreche die Wahrheit, und Euer Auftrag ist es diese zukünftig zu verbreiten.“ Wenigstens Maurice, der selber den Arztberuf anstrebte, schien den Worten seines Vaters etwas abzugewinnen und versprach ihm, die Botschaft zu verbreiten. „Vielleicht wird man mich einen Ketzer nennen oder einen Blasphemisten, aber ich glaube Dir, Du hattest als mein Vater immer eine Vorbildfunktion für mich, und ich werde Deinem Ideal so lange wie möglich nacheifern.“ Marcel wusste, dass ihm nur noch wenige Wochen blieben, bevor er das Zeitliche segnete.

IV. Das erste Tagebuch

Aus dem Schuldgefühl heraus, dass er sich im Gegensatz zu seinen Vorfahren nicht weiter um das Schicksal der Menschheit verdient gemacht hatte, flehte er in der Nacht höhere Mächte an, dass man ihm verzeihe und die Zukunft diktiere, welche er dann niederschreiben werde, um diese Botschaft letztlich seinem Sohn vererben zu können. Und so dauerte es nicht lange, bis Marcel die drei Traumgestalten nachts erschienen und ihn mit verstörenden Zukunftsaussichten fütterten. Morgens, kurz nach dem Aufstehen schrieb er die Albträume auf und schaffte es so in wenigen Wochen ein ganzes Tagebuch zu füllen. Dann rief er Maurice zu sich und präsentierte ihm den apokalyptischen Roman. „Versprich mir, dass Du diese Schrift nur an Deine Kinder weitergibst. Niemand anderer darf von dem Buch erfahren.“ Daraufhin überreichte Marcel das Tagebuch seinem Sohn. Kurz nachdem sein Sohn ihn verlassen hatte, starb Marcel, ohne dass er zu viel leiden musste. Schon am nächsten Tag fand sie Beerdigung statt, da es ein sehr heißer Sommer war, und die Leiche wegen der Hitze sonst schnell verwest wäre. Charles und Jacques verließen anschließend Paris und suchten ihr Glück in der Fremde. Der gehbehinderte Charles kandidierte für ein öffentliches Amt, während Jacques auf Abwege geriet und eine Karriere als Schmuggler machte. Maurice dagegen begann genau wie sein Vater ein Medizinstudium und zog dafür nach Montpellier. Bevor sich die Wege der Brüder trennten, schworen sich die unterschiedlichen Charaktere, sich stets beizustehen wenn der andere Hilfe benötigte und immer füreinander da zu sein. Maurice hielt an den Traditionen seines Vaters fest, und trat genau wie er einer Freimaurer-Loge bei.

Der Ritus der Initiation hatte sich kaum geändert, doch die Weltanschauungen der einzelnen Mitglieder waren weit fortgeschrittener als zu Zeiten der Renaissance. Neben mystischen und spirituellen Einflüssen spielten auch Humanismus und andere moderne Ideale eine Rolle. Zwar waren nur besonders ehrenwerte Männer für die Loge zugelassen, doch wirkte ihr Handeln über die Vereinigung hinaus. Berühmte Freimaurer wie Mozart und Goethe waren Vorbilder und hatten das 18. Jahrhundert durch ihre Kreativität und durch ihr Streben nach künstlerischer Freiheit mitgeprägt. So fühlte sich Maurice Giffrey in einer Reihe mit weltbekannten europäischen Berühmtheiten. Er war besonders wegen seiner demütigen und vertrauensvollen Art sehr beliebt. Obwohl er in der Loge nur den Rang eines Gesellen bekleidete, konnte er mit jedem aus der Gemeinschaft auf Augenhöhe debattieren. Eine strenge Hierarchie gab es nicht. Der Großmeister verschaffte ihm letztendlich eine Anstellung in einer renommierten Arztpraxis, wo Maurice als Chirurg tätig wurde. 1845 heiratete er eine schöne vermögende Witwe, welche ihm drei Kinder gebar, und die ihm bis an sein Lebensende treu sein sollte. Am Hochzeitstag erschienen auch seine Brüder und es gab vieles an Erfahrungen auszutauschen. Jacques hatte inzwischen sein kriminelles Gewerbe für eine kaufmännische Tätigkeit aufgegeben und Charles war Berater des damaligen Bürgerkönigs Luis-Phillipe von Orleans. Doch drei Jahre später, als die Regierung aufgrund der zweiten französischen Revolution gestürzt wurde, kam Charles zu Tode. Maurice war ein Anhänger der Bürgerbewegung und fürchtete als Freimaurer unter der Regentschaft von Napoleon III., als dieser 1852 als Kaiser inthronisiert wurde, wie viele seiner Freunde um sein Leben. So zog es ihn von Montpellier wieder in den Süden nach Marseille, der heimlichen Hauptstadt der Revolution. Er fand schnell wieder Kontakt zu einer Loge und eine Anstellung in der städtischen Klinik. Fünf Jahre lebte er von seiner Familie getrennt, bis diese nachzog. Seine Tochter Camille wuchs zu einer wahrhaften Schönheit heran, während seine beiden Söhne zum Militärdienst einberufen wurden. Maurice, wie seine Ahnen bekennender Pazifist, war mit dieser Situation mehr als unzufrieden, so hatte er seinen Kindern doch immer wahre Werte zu vermitteln versucht.

 

Eines Abends auf dem Rückweg von seiner Arbeitsstelle wurde er von drei merkwürdig gekleideten Personen aufgehalten. „Wir sind im Auftrag Deines Vaters hier, um Dich darauf hinzuweisen, dass Du eine Mission hast. Dein Vater hatte Dich über die Wichtigkeit dieser Aufgabe informiert. Jetzt ist es an der Zeit, dass Du auch von uns in Deine Bestimmung eingeweiht wirst. In spätestens zweihundert Jahren steht die Welt wie Du sie kennst am Abgrund. Hungersnöte und grausame Kriege werden die Menschheit dezimieren und die Armen immer ärmer werden lassen. Die Reichen werden dagegen aufgrund ihrer Habgier, Machtgelüsten und Korruption immer wohlhabender werden. Du alleine wirst dem nicht Einhalt gebieten können, aber Deine Kinder sind genau wie Du angehalten unsere Prophezeiungen unter die Menschen zu tragen.“ „Mein Vater ist tot, wie solltet Ihr von ihm eine Botschaft überbringen können“, erwiderte Maurice. „Egal ob tot oder lebendig, Du trägst sein Vermächtnis in Dir und musst die Wahrheit weitergeben. Inzwischen haben sich die Zukunftsaussichten verändert, und das nicht gerade zum Guten. Das heißt, dass das Buch, welches Du von Deinem Vater geerbt hast, nicht mehr brandaktuell ist. Du bist von uns angehalten die neuen Prophezeiungen zu notieren und eine Fortsetzung zu verfassen. Die genauen Informationen erfährst Du in Deinen Träumen.“ Als Maurice sich zum Gehen umdrehte, waren die Fremden verschwunden. Das glaubt mir doch keiner, dachte er sich, und als er seinen Söhnen von seiner Begegnung berichtete, hielten sie ihn für verrückt. Also begann er die Weissagungen in einem zweiten Tagebuchband aufzuschreiben, in der Hoffnung, dass es jemand lesen werde, der diese Visionen für glaubhaft halten wird.

Exkurs II

Bachiel: „Sollten wir nicht die gesamte Menschheit warnen? Immerhin steht die Existenz von Milliarden auf dem Spiel.“ Aariel: „Willst Du, dass wieder ein Märtyrer auf der Erde den Glauben der Menschheit durch sein Opfer stärkt? Das ist vor 1800 Jahren schiefgegangen und diejenigen, die heute noch am Glauben an eine höhere Gewalt festhalten, sind zum Teil ebenso verdorben wie der Rest der Gesellschaft. Wir sollten an unserem bisherigen Plan festhalten und weiterhin den Giffreys als Überbringern der unangenehmen Botschaften vertrauen.“ Dariel: „Was auch immer geschehen wird, der Mensch an sich ist das Problem. Er nimmt auf die Natur keine Rücksicht und die wenigen, welche für eine gute Sache eintreten, werden von der Geschichte geschluckt. Wo habt Ihr im Verlauf der Reise durch das Universum Vergleichbares gesehen? Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten niemanden auf die kommende Apokalypse hingewiesen.“ Bachiel: „Wenn wir den Einen in das Schicksal der Menschheit einweihen, so gehen wir nicht das Risiko ein, dass schon früh eine Panik ausbricht. Lasst die Menschen ihre verbleibende Zeit noch genießen. Sollten die Giffreys scheitern, hättet Ihr recht gehabt. Sollten sie Eins und Eins zusammenzählen, dann erkennen sie den Wahrheitsgehalt unserer Prophezeiungen.“ Aariel: „Also gut, geben wir der Menschheit noch eine Chance und verlassen uns auf den Einfluss dieser einen Familie. Auch wenn sie keine Prediger sind, könnten sie den großen Plan verändern und den Planeten retten.“

Maurice war von der Begegnung mit den eigenartigen Fremden überfordert und konnte deren Warnung lange Zeit nicht glauben. Das Tagebuch ließ er von niemandem lesen, auch nicht von seinem Bruder. Camille und ihren Brüdern kam die Geheimnistuerei ihres Vaters merkwürdig vor, aber er weihte keines seiner Kinder in sein Geheimnis ein. Im Jahr 1875 wurde Maurice im Alter von siebzig Jahren schwer krank. Er bestellte seine Kinder ein letztes Mal zu sich ein und bat sie, ihm zu vertrauen, auch wenn sie sich damit schwertun könnten. Er kam gleich zur Sache, indem er sprach: „Ich habe Euch damals von meiner Erfahrung mit den drei Fremden berichtet, und das war nicht die einzige Begegnung mit ihnen. Sie sind mir dutzende Male im Traum erschienen, mit dem Ziel, dass ihr Vermächtnis an Euch weitergeleitet wird. Denn in zweihundert Jahren droht die Menschheit auszusterben, und sie haben mich und meine Kinder, also Euch dafür auserkoren, diese Visionen zu verbreiten. Dazu war ich aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage.“ Maurice griff unter seine Matratze und holte die beiden Bücher hervor. „Dies sind zwei Tagebücher, eines von mir, das andere von Eurem Großvater, und da steht alles drin, was Ihr für diese Mission wissen müsst.“ Er reichte das Buch zunächst seiner Tochter, da sie ihm immer die Liebste war. Camille schwor am Bett ihres Vaters, dass Sie die Niederschrift lesen und verinnerlichen werde. Sein ältester Sohn Rene dagegen hielt seine gesamte Familie danach für unzurechnungsfähig und interessierte sich kein bisschen für die Niederschriften seines Vaters. Auch nicht, als Maurice am folgenden Morgen tot in seinem Bett lag.

V. Die Letzte im Stammbaum

Ausgerechnet Camille, die hübsche aber prüde Tochter wurde nun die Ehre zuteil, die spirituellen Weissagungen von Maurice anderen Menschen zu vermitteln. Da sie keiner Loge beitreten konnte, schloss sie sich der frühen Frauenbewegung an, um sich dort Gehör zu verschaffen. Doch die anderen Frauen interessierten sich nur für die Durchsetzung ihrer Rechte und sahen in den mysteriösen Prophezeiungen von Camille eher verrückte Tendenzen, welche den wahren Zielen der Frauen in keiner Weise förderlich erschienen. Camille gab sich aus Gram und Kummer dem Absinth hin und ruinierte damit ihre sowieso schon schlechte Gesundheit. So stand die inzwischen schon gealterte Jungfrau einsam und alleine da, bis auch sie ihre Erfahrung mit den drei merkwürdigen Gestalten machte. Im Traum sprachen sie zu ihr. „Da Du keine Kinder hast und der Stammbaum der Giffreys mit Deinem Tod enden wird, ist es wichtig, dass Du die Aufzeichnungen Deines Vaters versteckst, und zwar so, dass es von einem Menschen mit der nötigen Demut und einem reinen Gewissen entdeckt werden kann. Bald beginnt ein neues Jahrhundert, und die Erde wird von zwei fürchterlichen Kriegen heimgesucht werden. Armut und Tod werden sich über den ganzen Kontinent legen, und das ist nur der Anfang von einer ständigen Abfolge von menschgemachten Katastrophen.“ Am folgenden Morgen konnte sich Camille zunächst nicht an den Traum erinnern, doch am Abend kehrte die Erinnerung zurück. Sie fasste die Aufzeichnungen Ihres Großvaters und ihres Vaters in einer Lektüre zusammen und beschloss, zum Tagebuch ihres Vaters eine Fortsetzung zu verfassen, die auch das letzte Erscheinen der drei Fremden und deren Visionen beinhalten sollte. Außerdem nahm sie sich vor, Teile der Schilderungen zu verschlüsseln und die Tagebücher mit irreführenden Siegeln zu versehen, damit es der Leser nicht zu einfach hätte, die geheimen Visionen zuzuordnen. Nur ein wahrhaft berufener Mensch sollte Zugang zu den Büchern erhalten. Sie saß ganze vierundzwanzig Stunden an diesem Projekt, und war nach der Fertigstellung so erschöpft, dass sie zwei Tage durchschlief. Damit nicht irgendjemand X-Beliebiger die einzelnen Tagebücher finden konnte, entschied sie sich, die Aufzeichnungen ihres Vaters an einem sicheren Ort zu verstecken. Drei Tage später begab sich Camille in die Katakomben von Paris. Hinter einer Reihe von Totenschädeln, unter einem Symbol des Templerordens, legte sie das Tagebuch ab. Sie hoffte, dass später der Richtige das Versteck finden und die Aufzeichnungen öffentlich machen würde. Ihre eigenen Aufzeichnungen bewahrte sie bis zu ihrem Tod in einem Seitenfach ihrer Lieblingskommode auf.

VI. Jacob, Julie und das geheime Buch

Doch es dauerte bis zum Ende des zweiten Weltkriegs, als ein aus Deutschland geflüchteter Jude durch Zufall das Tagebuch von Camilles Vater Maurice entdeckte. Jacob Silberstein war nur mit Glück dem Konzentrationslager Buchenwald entkommen, und lebte nun als Übersetzer in der von den Alliierten befreiten französischen Hauptstadt. Aus Interesse an der Geschichte der Stadt besuchte er die Katakomben. Als er sich in dem Tunnellabyrinth beinahe verlaufen hatte, stieß er versehentlich mit seinem Ellenbogen genau gegen die Totenschädel unter dem Symbol der Templer. Dadurch wurde die Sicht frei auf ein Buch. Mit einer Fackel in der einen und dem Tagebuch in der anderen Hand fand er nach längerer Suche den Ausgang aus den Katakomben. Er ging sofort auf sein Zimmer in der kleinen Pension, in welcher er sich eingemietet hatte, legte sich auf sein Bett und begann in dem Tagebuch zu lesen. Obwohl die meisten Seiten chiffriert waren und nur aus Kauderwelsch zu bestehen schienen, waren Teile der Niederschrift so spannend wie ein Abenteuerroman, und so legte er das Buch die gesamte Nacht nicht aus der Hand. Besonders der Abschnitt über die drei Fremden und deren Absichten faszinierte Jacob. Die Aufzeichnungen endeten mit: „Im Gedenken an meinen Vater Maurice, Camille Giffrey.“ Am folgenden Morgen besuchte Jacob sein Stamm Café, wo er auf seine beiden Freunde Luc und Frederic traf. Er erzählte ihnen von seiner Entdeckung und den faszinierenden Schilderungen in dem Tagebuch. „Es ist eine Familiengeschichte und eine Mahnung an alle Menschen, sich für den Erhalt des Planeten einzusetzen, da dessen Untergang in der Zukunft bevorstehe. Besonders interessant ist die Episode, wo drei Fremde Maurice Giffrey erscheinen und ihn über die bevorstehende Bedrohung informieren.“ „Lieber Jacob, Du glaubst doch nicht an diesen Irrsinn, auch wenn wir unterschiedlicher Konfession sind, so ist unser gemeinsamer Glaube doch der an Gott, nicht der an irgendwelche merkwürdigen Propheten. Ich denke, diese Camille hat etwas zu viel Phantasie gehabt, oder sie verfasste das Ganze in geistiger Umnachtung“, erwiderte Luc.“ Wenn das Ganze auch nach einem Märchen klang, so nahm sich Jacob vor, mehr über die Familie Giffrey zu erfahren. Er besuchte am folgenden Tag die Bibliotheque nationale de France und recherchierte in alten Schriften zur Abstammungslinie dieser Familie“.

Er hatte fast den gesamten Vormittag zwischen den Bücherregalen zugebracht, da stieß er auf ein Papier, wo der Name Giffrey zum ersten Mal erwähnt wurde. Fasziniert von der Vorstellung, dass deren Ahnen um Jerusalem gekämpft hatten, und dem Templerorden angehörten, nahm er sich vor, alles über ihren Stammbaum und ihre Lebensgeschichte zu erfahren. Am nächsten Tag begab sich Jacob zum alten Friedhof Pere Lachaise und suchte die Grabstätten der Giffreys. Er fand ein Familiengrab, in welchem neben Camilles Vater Maurice auch ihre früh verstorbenen Brüder und Camille selbst beigesetzt waren. Als Jacob vor dem Grabstein stand, kam ein alter Mann mit Baskenmütze auf ihn zu. „Sie interessieren sich für die Familie Giffrey? Ich kenne da jemanden, der Ihnen weiterhelfen kann. Kommen Sie mit zum Geräteschuppen. Dort habe ich Adressen und Telefonnummern über alle möglichen Angehörigen und Freunde der hier beigesetzten Personen.“ Der Mann, der sich als der Friedhofsgärtner entpuppte, führte Jacob zu einem Holzverschlag, in dem außer vielen Gartengeräten auch ein kleiner Schreibtisch stand. „Vor ein paar Jahren erschien hier einmal ein Nachkomme des Notars, welcher sich um den Nachlass der Giffreys gekümmert hatte. Er heißt Claude Bouvais und er sagte, wenn je jemand über die Familie nachforschen sollte, so sollte diese Person mit ihm in Kontakt treten. Jacob bekam von Luis, das war der Name des Gärtners, einen Notizzettel mit den Kontaktdaten in die Hand gedrückt, worauf er sich von ihm verabschiedete. Noch am frühen Abend rief Jacob Silberstein die betreffende Nummer an, doch es stellte sich heraus, dass Bouvais umgezogen war. Die Frau am anderen Ende der Leitung konnte ihm allerdings seine neue Adresse durchgeben. Es war zu spät am Abend, als dass er Bouvais hätte noch einen Besuch abstatten können, also verlegte er dieses Unterfangen auf den folgenden Tag. Er stand am nächsten Morgen besonders früh auf, da er für den Besuch bei Claude Bouvais bis zum anderen Ende der Stadt fahren musste. Jacob fuhr mit der Metro, musste letztendlich aber noch drei Kilometer laufen, bevor er beim Haus von Bouvais angekommen war. Einst musste die Villa ein schmuckes Juwel gewesen sein, doch die Fassade hatte im Laufe der Zeit sehr gelitten. Es waren Risse und Beschädigungen zu sehen, die den Wert des Bauwerkes stark minderten. Die Wohnung lag im Hochparterre, und als er auf dem oberen Absatz angekommen war, musste er das Fehlen einer Klingel bemerken, so dass er an der Haustür klopfen musste.

 

Nach mehreren Versuchen, es dauerte gute drei Minuten, wurde ihm endlich geöffnet. Ein älterer Herr im Bademantel mit einem Backenbart und einer Zigarre zwischen den Lippen stand im Eingangsbereich und fragte sofort nach Jacobs Anliegen. Als dieser sein Ansinnen vortrug, wirkte der Notar plötzlich sehr interessiert. „Haben Sie das Buch dabei? Ich würde es mir liebend gern einmal ansehen. Es gab viele Gerüchte um ein Tagebuch, doch es wurde nie gefunden. Mein Großvater beriet die Giffreys und hat einige Akten zu der Familie gesammelt. Ich führe Sie in mein Arbeitszimmer, da ist es gemütlicher als hier im Flur. Möchten Sie einen Cafe au Lait?“ Sein Arbeitszimmer war vollgestellt mit Bücherregalen, was den Eindruck unterstrich, dass Bouvais sehr gebildet war und vielfältige Interessen hatte. Nachdem Jacob auf dem Sofa Platz genommen hatte, wühlte Bouvais in einer Kiste herum, welche er aus seinem Keller geholt hatte und präsentierte kurze Zeit später ein Bündel von Briefen und Akten. „Entschuldigen Sie, dass es hier so unordentlich aussieht. Ich bin kein Ordnungsfanatiker“, entschuldigte sich der Anwalt für das sichtbare Chaos in dem Raum. Überall auf den Tischen und auch auf dem Teppich lagen Schriftstücke, noch mehr Bücher und allerlei Büromaterial herum. „Ich hab´s“, sagte Bouvais plötzlich und zog eine dicke Mappe hervor. „Hier hat mein Großvater alles dokumentiert, was mit Der Familie Giffrey, im neunzehnten Jahrhundert zu tun hatte. Wichtig zu wissen ist, dass der Stammbaum mit dem Tod von Maurice Tochter Camille endete. Zuvor waren es immer die männlichen Sprosse gewesen, welche die Familie in allen öffentlichen Bereichen repräsentierten.“ Er reichte Jacob den Stapel und stellte ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch bereit. „Hier können Sie forschen, so viel Sie wollen. Um vierzehn Uhr mache ich Siesta. Dann spätestens muss ich Sie bitten zu gehen.“ Während Bouvais sich in andere Bereiche der Wohnung zurückzog, begann Jacob die Akten durchzusehen. Vieles war Korrespondenz, einiges bezog sich auf Finanzielles und Geschäftsbeziehungen, das andere waren private Briefwechsel. Nach einer guten Stunde stieß er dann auf ein altes Schreiben, das ein Nachfahre von Maurice Giffrey lange nach seinem Tod verfasst haben musste. Doch beim Durchlesen musste Jacob feststellen, dass der Text überhaupt keinen Sinn ergab. Er bestand aus einzelnen Buchstaben und Zahlen. Anscheinend war er verschlüsselt und daher von besonderer Wichtigkeit. Jacob war so dreist, das Schreiben in der Innentasche seiner Jacke zu verstecken, als Bouvais plötzlich auftauchte. „Darf ich einmal einen Blick auf das Tagebuch von Maurice Giffrey werfen?“, fragte der Anwalt. „Es könnte vielleicht einige Fragen zu Gerüchten über die Familie beantworten.“ Jacob griff in seine Manteltasche und holte das Buch hervor. In diesem Augenblick zog Bouvais die Schreibtischschublade auf und zog eine Pistole hervor. „Ich muss Sie nun bitten, das Buch hierzulassen und schleunigst zu gehen, sonst kann ich für Ihre Gesundheit nicht mehr garantieren.“ Jacob war zunächst sehr erschrocken, doch dann überlegte er sich einen Plan, wie er unbeschadet zusammen mit dem Tagebuchaus aus dieser bedrohlichen Situation entkommen könnte. Bouvais schob ihn die Treppe hinunter bis zur Haustür. Jacob spürte die ganze Zeit über die Waffe in seinem Rücken. Als der Anwalt die Tür öffnen wollte, sah Jacob seine Chance zur Flucht gekommen. Nur einen kurzen Augenblick lang war Bouvais unaufmerksam, als er Jacob für einen Moment den Rücken zudrehte. Dieser entriss dem Anwalt mit der rechten Hand das Buch und schlug ihm mit der linken die Waffe gekonnt aus dessen Hand. Selbst überrascht von seiner mutigen Tat, rannte Jacob anschließend sprichwörtlich um sein Leben.

Als er zehn Minuten später bei der Metrostation ankam, wendete er sich um, doch es schien ihm niemand gefolgt zu sein. Von welcher Wichtigkeit war dieses Buch, dass jemand bereit war dafür im Notfall zu töten, dachte sich der junge Mann. Noch in der U-Bahn zog er das Schreiben hervor, und es fiel ihm gleich das Siegel am Ende des Papiers auf. Er hatte es schon einmal gesehen, wusste aber nicht mehr in welchem Zusammenhang. Es war ein Kreis mit einem Zirkel, einem Winkelmaß darunter und einem Auge in der Mitte. Dann fiel es ihm wieder ein. Es war ein Symbol der Freimaurer. Er griff nach dem Tagebuch, blätterte durch die Seiten und suchte, ob dieses Symbol auch dort vorkam. Und tatsächlich, ganz am Ende des Tagebuchs war dieses Zeichen ebenfalls abgebildet. Es war sogar exakt der gleiche Stempelabdruck wie auf dem Zettel. „War auf dem Stück Papier vielleicht auch der Schlüssel zu finden, um die codierten Seiten im Tagebuch aufzulösen?“, fragte sich Jacob. Als er wieder in seinem Zimmer angekommen war, erschrak er erneut. Seine Regale waren umgestoßen, und all seine Sachen waren durchwühlt worden. Anscheinend hatte Bouvais schnell herausgefunden, wo er wohnte und keine Zeit verstreichen lassen, um seine Wohnung auseinanderzunehmen. Jacob war nun gewarnt, doch gleichzeitig wurde ihm klar, dass er seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort verlassen musste. Er packte einen Koffer mit dem Notwendigsten und rief anschließend eine Kollegin von sich an, zu der er ein vertrauensvolles Verhältnis hatte. „Hallo Julie, ich bin in Schwierigkeiten, können wir uns heute Abend noch treffen?“ Nach ihrer Zusage machten sie einen Termin in einem Café nahe dem Eifelturm aus. Als er kurze Zeit später bei dem verabredeten Treffpunkt erschienen war, saß Julie schon an einem Tisch im Außenbereich. Nachdem Jacob ihr gegenüber Platz genommen hatte, begann er sofort seine Geschichte zu erzählen, wie er bei Bouvais aufgetaucht war, und seine Wohnung anschließend aufgebrochen und durchsucht wurde. „Ich weiß nicht was sie gesucht haben, das Tagebuch hatte ich die ganze Zeit bei mir, und das wusste der Anwalt auch. Obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, ob er wirklich ein Notar oder Anwalt ist. Vielleicht ist das alles nur Tarnung und es verbirgt hinter seiner so akademischen Fassade ein finsteres Geheimnis. Ich hätte zwei Bitten an Dich. Zum einen bräuchte ich einen Schlafplatz, zum anderen müsstest Du für mich nachforschen, wer Bouvais in Wahrheit ist.“

Julie war eine sehr attraktive Erscheinung, ihr Körper war makellos, ihr Gesicht feingeschnitten und geradezu sinnlich. Jacob fragte sich in diesem Augenblick, warum ihm das vorher nie so direkt aufgefallen war. Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Brille abgenommen hatte und ihre Haare ganz offen trug. „Meine Wohnung hat genug Platz, um Dich für eine gewisse Zeit unterzubringen. Ich besitze ein Gästezimmer, das häufig von meiner Schwester benutzt wird, wenn sie nach Paris kommt. Sie weilt aber zurzeit in Bordeaux bei ihrem Freund und wird mich nicht so schnell besuchen kommen. Doch im zweiten Punkt bin ich mir nicht sicher, ob ich Dir eine Hilfe wäre. Anscheinend müsste ich mich einer gewissen Gefahr aussetzen und dafür bräuchtest Du eine sehr mutige Person, das bin ich nicht. Aber ich kenne jemanden, der in der investigativen Branche zuhause ist. Du müsstest ihn allerdings gut bezahlen, sonst übernimmt er den Fall mit großer Sicherheit nicht.“ Jacob überlegte kurz, dann willigte er ein, dass Julie den Kontakt zu dem Detektiv herstellte. „Lieber zahle ich ein paar hundert Franc, als dass ich mich zur Zielscheibe für irgendeinen obskuren Attentäter mache.“ Anschließend verließen beide das Café und Julie hakte sich bei Jacob unter, was sein Herz ein wenig höher schlagen ließ. Als beide Julies Wohnung erreicht hatten, legte Jacob das Tagebuch und das Schreiben, das er bei Bouvais mitgehen ließ, auf seinen Nachttisch. Noch einmal verglich er die Siegel vom Buch und dem Notizzettel. Er kannte sich mit der Freimaurerei nicht gut aus und fragte sich, welche Verbindungen die Giffreys zur Freimaurerei hatten. Danach blätterte er in dem Buch, ob es irgendeinen Hinweis zu dem Schlüssel gab, mit dem dieses Kryptosystem gelöst werden könnte. Zwischen einzelnen Worten tauchte immer wieder eine Abfolge von Zahlen auf, manchmal waren es zwei, häufig auch drei. Sind das Buchstaben oder vielleicht auch Seitenzahlen, fragte sich der junge Mann. Doch dann war die Frage, in welchem Buch er suchen müsste. Vielleicht lag die Lösung ja in dem Tagebuch selbst, und so verglich er die Seitenzahlen mit den Zahlen in dem Kryptogramm. Auf den einzelnen Seiten fand er keinerlei Hinweise auf irgendein System, mit dem er das Rätsel hätte lösen können. Da das Tagebuch nur einseitig beschriftet war, kam ihm eine Idee. Er sah sich die einzelnen Rückseiten genauer an und roch am Papier. Und tatsächlich, seine Vermutung war richtig. Jemand, vielleicht dieser Maurice oder ein anderes Familienmitglied hatte die Rückseiten mit Zitronensaft beschriftet. Jacob hatte über diese Art der Geheimschrift schon einmal gelesen und wusste, dass wenn man die Schrift erhitzt, dass sie dann zum Vorschein kommt. Also bat er Julie um ein Bügeleisen, um die unsichtbare Zitronentinte sichtbar zu machen.

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