Camille´s Tagebuch

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„Ich habe kein Geld und sonst auch nichts, was ich Euch geben könnte“, flehte er die Herren an. „Wir wollen Dein Geld nicht William“, antwortete einer der Männer, die weiße Masken mit langen Nasen trugen. „Aber wir möchten, dass Du unsere Botschaft in die Welt hinaus trägst. Wir wissen, dass Du ein ehrlicher und intelligenter junger Mann bist und Du wurdest von uns für diese Mission ausgewählt. Als Gegenleistung garantieren wir Dir und Deiner hübschen Frau Anette, dass Ihr und Eure Kinder von der Seuche verschont bleibt und ein Leben in Frieden führen werdet. Es wird Euch an nichts mangeln und Du wirst im Beruf und auch privat bis an Dein Lebensende Erfolg haben.“ William reagierte völlig überrascht und antwortete dann: „Woher kennt Ihr meinen Namen und den meiner Frau, und von welcher Botschaft sprecht Ihr?“ „Wir wissen alles über Dich und Deine Familie. Und wir wissen auch, dass fast überall auf dem Kontinent ein Drittel der Bewohner diese Seuche nicht überleben wird und das zurecht. Der Mensch hat sich zum alleinigen Herrscher über die Erde erhoben und es gibt einfach zu viele Menschen auf diesem Planeten. Daher wird es irgendwann sehr eng werden für die gesamte Bevölkerung. In naher Zukunft wird es alle Hundert Jahre eine entscheidende Epidemie geben, welche die Bevölkerung ausdünnt, und wenn der Mensch sich nicht ändert wird es spätestens in siebenhundert Jahren keine Menschen mehr auf der Erde geben. Es gibt höhere Mächte im Universum, wie Du sie Dir nie vorstellen könntest, und niemand kann Einfluss auf sie ausüben. Wir bitten Dich, diese Prophezeiungen unter die Menschen zu tragen und andere einzuweihen, welche unsere Botschaft mittragen sollen. Nun reite weiter zu Deiner Familie.“ William stieg angstvoll wieder auf sein Pferd und als er hundert Meter geritten war und sich umdrehte, waren die drei Gestalten verschwunden. Nachdem er zuhause angekommen war, teilte er Anette als erstes seine Begegnung mit den Fremden mit, worauf sie ihn wie erwartet für verrückt hielt. „Du hast wohl beim Ritt nach Hause geträumt und Dir irgendetwas zusammengereimt.“ In der Nacht wachte William an der Seite von Anette auf und meinte dunkle Gestalten vor seinem Bett wahrzunehmen. „Was macht Ihr in meinem Haus?“, war das einzige was er herausbrachte. „Wir wollen Dich nur noch einmal an deinen Auftrag erinnern.“ Sofort weckte er seine Frau und flüsterte: „Sie sind wieder da, siehe nur hin.“ Doch als Anette aufwachte, waren die Gestalten wie vom Erdboden verschwunden. „Du solltest einen Schamanen aufsuchen, der Dich von solchen Eingebungen heilt“, war die einzige Antwort, die er von seiner Frau erhielt.

Am folgenden Morgen ritt er zu seiner Arbeitsstätte und erfuhr, dass der Baumeister in der Nacht verstorben war, und William selbst nun diese Aufgabe ausfüllen musste. Er hatte plötzlich viel Verantwortung, zeigte aber durch Fleiß und genaueste Berechnungen, dass man auf ihn zählen konnte. Nach einer Woche harter Arbeit überkam ihn plötzlich die Idee, den anderen Meistern von seiner kürzlich gemachten Begegnung mit den mysteriösen Gestalten zu erzählen. Während zwei Meister sagten, dass er wohl verrückt oder von Dämonen heimgesucht worden sei, hielt der Älteste namens Theobald zu William. „Er ist eine ehrliche Haut, warum sollte er lügen?“ Nach der Arbeit, bei einem Becher Wein, unterhielten sich die beiden über Williams gemachte Erfahrung. „Du sollst also wie ein Prophet die Menschen zu einer anderen Lebensweise bekehren, habe ich das richtig verstanden?“ „Ich glaube schon, aber ich soll es nicht alleine tun.“ Theobald trank seinen Becher aus und fügte hinzu: „Du bist doch gar nicht gläubig und schon gar nicht der Messias. Wieso glaubst Du, dass Du auserwählt seiest, den Menschen obskure Botschaften zu unterbreiten?“ „Ich glaube an das, was ich gehört und gesehen habe, und Du solltest das Gleiche tun, denn auch vor Dir macht das Schicksal nicht Halt.“ „Von welchem Schicksal sprichst Du? Dass mich der schwarze Tod besiegt. Wenn das geschehen sollte, dann wäre es unabwendbar, und ich würde mich in mein Schicksal fügen.“ William überlegte lange, bevor er antwortete. „Wenn Du allen weltlichen Ballast über Bord wirfst, Demut und Disziplin zu Deinen Tugenden machst, kannst Du Dein Schicksal verändern, das hat mich die Begegnung mit den weisen Männer gelehrt. Ich habe vor, die Gesellen nicht nur im Handwerk, sondern auch im Umgang mit sich selbst und dem Streben nach Vollkommenheit zu unterrichten. Es wäre schön, wenn Du dabei an meiner Seite stehen würdest Theobald. Am besten treffen wir uns morgen früh in der Bauhütte und diskutieren diese Themen, denn alle sind eingeladen etwas dazu beizutragen.“ Am nächsten Morgen begegneten sich William, Theobald und fünf Gesellen am verabredeten Ort und William stellte sofort seine Thesen dar. „Wir sind Maurer oder Steinmetze, um besser zu werden, müssen wir ständig an uns arbeiten. Aber gleichzeitig sollten wir das Wort Gottes berücksichtigen und einen Ausgleich zwischen der persönlichen Entwicklung und den Geboten des Herrn finden. Ich für meinen Teil habe die Bekanntschaft mit drei Reisenden gemacht, welche mir aufgezeigt haben, dass die Pest ein menschengemachtes Problem ist und hauptsächlich mit dem Streben nach irdischer Macht und Maßlosigkeit zusammenhängt.“ „Ihr seid unser Meister und wir achten Euch vor allem wegen Eures Talents und Eures Fleißes“, sagte einer der Gesellen. „Aber sollen wir aufgrund Eurer angeblichen Erscheinungen unser bisheriges Leben auf den Prüfstand stellen?“ Dieser Handwerker und ein weiterer Steinmetz verließen daraufhin die Bauhütte. Doch Theobald und die anderen drei Gesellen harrten aus. „Ich schlage vor, dass wir uns täglich treffen und über weitreichende Themen diskutieren. Mehr verlange ich gar nicht“, äußerte sich William. „Wir bilden eine verschworene Gemeinschaft und das sollte sich auch nicht ändern, daher seid vorsichtig, wem Ihr von unserer Debattierrunde erzählt.“ Mit Ausnahme vom Sonntag trafen sich William und seine Zunftkameraden jeden Tag an ihrem vereinbarten Treffpunkt und diskutierten über weltliche und geistliche Themen oder tauschten Ideen für den weiteren Ausbau der Kathedrale aus.

Inzwischen hatten auch andere Männer aus unterschiedlichen Berufsgruppen von Williams Debattierrunde gehört und so nahm die Zahl der Interessenten stetig zu. Außerhalb der Baustelle ging jedoch das große Sterben weiter. William und die inzwischen schwangere Anette allerdings blieben von der Pest verschont, so wie die drei Fremden es dem jungen Zunftmeister prophezeit hatten. Zwei Jahre später brachte Anette ihr erstes Kind auf die Welt. Es war ein Sohn und er bekam den Namen seines Großvaters Johan. In den folgenden drei Jahren kamen vier Geschwister hinzu, wobei Anette die Geburt ihrer Tochter Marie nicht überlebte. Die Geschwister von Johan und Marie waren Isabelle, Olivier sowie Ferdinand. Da die kleine Waldhütte nicht für sechs Personen ausgelegt war, beschloss William mit seinen Kindern in die Stadt zu ziehen. Er verdiente genug, sodass er eine Amme für die Kinder anstellen konnte, während er weiter für den Bau der Kathedrale verantwortlich war. Seine Schar an Anhängern seiner Lehren indessen wuchs, während die Ausbreitung der Pest nahezu gestoppt war. Im Jahr 1356 wurde William wegen seiner Verdienste als Baumeister an den französischen Hof beordert und unterstand einzig und alleine dem König. Während seine Kinder in einer feudalen Welt aufwuchsen, hielt William an seiner demütigen und friedvollen Weltanschauung fest. Er war nun der Meister aller Baumeister in Frankreich und bereiste die verschiedensten Orte. Fünf Jahre später waren seine drei Söhne Pagen am Hof des Königs und seine Töchter erhielten eine exklusive Erziehung. Im Sommer des Jahres 1368 fand in der Bauhütte wie schon viele Male geschehen eine Versammlung statt, bei welcher William den Zuhörern seine Thesen erklärte. Dummerweise befand sich ein Judas unter den Anwesenden, der die Ideen von William für ketzerisch hielt und ihn beim König anschwärzte. Dieser wollte die Anschuldigungen zunächst nicht glauben, bestellte William zu sich ein, worauf der Baumeister die Wahrheit erzählte, seine Freunde aber nicht verriet. William selbst wurde zum Tode verurteilt und fristete seine letzten Tage im Kerker. In dem feuchten und muffigen Gewölbe, das nur ein kleines vergittertes Fenster besaß rief er Gott an, doch seine Gebete blieben ungehört. Nach wenigen Wochen wurde er schwer krank, und es war ihm egal, ob er an einer Krankheit oder auf dem Scheiterhaufen sterben sollte. Eines Nachts meinte er eine Erscheinung wahrzunehmen. Drei Gestalten, deren Köpfe von Kapuzen verdeckt waren, standen vor ihm. Als er ihre Stimmen hörte, wusste er sofort, dass es nur die drei Weisen sein konnten, die ihm damals am Wegesrand begegnet waren. Eine der drei Gestalten begann sofort zu reden. „Du wirst bald sterben, daran können wir nichts mehr ändern. Doch Du hast Dir Deinen Glauben bewahrt und bist immer ehrlich zu Dir selber wie auch zu anderen gewesen. Dabei hast Du unser Credo verbreitet, so garantieren wir Dir, dass Deine Seele nach Deinem Tod aufsteigen wird, während viele Ungläubige weiterhin durch Seuchen dahin gerafft werden.“ So plötzlich wie die drei Gestalten erschienen waren, so schnell hatten sie sich im Dunkeln wieder aufgelöst. William glaubte zunächst geträumt zu haben, doch er fand anschließend auf dem Steinboden den Teil einer leuchtenden Feder. Wenige Tage später brannte William lichterloh auf dem Scheiterhaufen. Wie durch ein Wunder spürte er bis zum Eintritt des Todes keine Schmerzen. Er nahm einzig wahr, wie der Glaube ihn durchströmte und sein bisheriges Leben an ihm vorbeizog.

Seine Kinder mussten den grausamen Tod ihres Vaters nicht mit ansehen. Alle fünf wurden von Agnes Eltern, die in der Normandie wohnten, aufgenommen. So verschlug es sie wieder aufs Land, worunter besonders die Jungen litten, da sie ihre Ausbildung bei Hofe abbrechen mussten und ihren ehrenvollen Stand einbüßten. Johan, der Älteste, versuchte in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, indem er als Lehrling bei einem Steinmetz anfing. Ferdinand und Olivier beschäftigten sich beim Landhaus ihrer Großeltern mit der Aufzucht von Pferden und Schafen. Da dieses Gewerbe nicht viel einbrachte, beschloss Ferdinand seine Dienste der königlichen Armee anzubieten. So kämpfte er an der Seite der Franzosen gegen die Invasoren aus England. 1374 trat er der französischen Marine bei und wurde ein Jahr später bei der Schlacht von La Rochelle getötet. Indessen wurden Marie und Isabelle mit Händlern aus der Provinz verheiratet. Johan hatte von allen Geschwistern den größten Ehrgeiz und eines Tages sprach ihn ein Geselle auf einer Baustelle an, um zu erfahren, welche Ziele er verfolge. Als er sagte, wer sein Vater war, zeigte sich der Geselle sehr ehrfürchtig. „Ich habe von den Lehren Deines Vaters gehört, von den Zusammenhängen zwischen ehrlicher Arbeit, Glauben und tiefster Demut. Es ist eine Schande, dass er wegen seiner fortschrittlichen Ideen verbrannt wurde. Es wäre schön, wenn wir uns ab und an über seine Ideen austauschen könnten.“ So ging die Verantwortung für das geistige Erbe seines Vaters plötzlich an Johan über. Doch es war eine Verantwortung, der er sich zunächst nicht gewachsen sah. So hatte er von seinem Vater einst erfahren, dass dieser eine merkwürdige Begegnung mit drei Fremden gehabt habe, aber genaue Umstände dieses Zusammentreffens kannte er nicht. Außerdem war er nicht religiös, sondern mehr der weltlichen Lebensweise zugetan. Er baute Kirchen, besuchte sie allerdings nur höchst selten. Daher diskutierte er mit seinen Kameraden lieber über die Architektur als über Gott und dessen Botschaften. Doch eines Tages, Johan war inzwischen Geselle, begab es sich, dass er in einer Spelunke einen alten Mann traf, der dem Alkohol sehr zugeneigt war. Als der Greis Johan sah, ging er direkt auf den jungen Steinmetz zu und sagte: „Du musst der Sohn von William sein. Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, nur viel jünger.“ Johan wurde neugierig und als er erfuhr dass der Name des Alten Theobald war, erwiderte er: „Ich habe durch meinen Vater von Dir gehört, auch dass ihr sehr enge Freunde wart.“ Theobald berichtete daraufhin seinem Gegenüber, dass er die Lehren von Johans Vater verinnerlicht hätte, doch ein Leben nach dieser Doktrin aufgrund des Widerstands durch die Adelshäuser nicht möglich sei. „Du würdest der Ketzerei beschuldigt, genau wie dein Vater. Ich werde Dir etwas über William erzählen, was Du wahrscheinlich noch nicht gehört hast. Es ist wichtig, dass wenn Du Dich an gewisse Regeln nicht hältst, dies Deinen Untergang und vielleicht den der ganzen Menschheit bedeuten würde; nicht heute, wahrscheinlich auch nicht morgen, aber spätestens in sechshundertfünfzig Jahren. „Gab es die Begegnung mit diesen Fremden wirklich, oder war das nur ein Hirngespinst meines Vaters?“, wollte Johan von Theobald wissen. „Ich habe ihm geglaubt und einige mehr auch. Dein Vater ging davon aus, dass die Vernichtung der Menschheit nicht aufzuhalten sei. Vorher werde es allerdings noch mehrere Seuchen geben, welche die Menschen zu überstehen hätten.“ „Das klingt nach den sieben Plagen, mit welchen Gott einst die Ägypter bestrafte. Doch ich kann daran nicht glauben“, erwiderte Johan. „Ich müsste diesen drei Gestalten selbst begegnen, damit ich dieser Geschichte Vertrauen schenken könnte.“ „Vielleicht machst Du irgendwann die gleiche Erfahrung wie Dein Vater und es erscheinen Dir diese mysteriösen Fremden, ob in der Realität oder im Traum.“

 

Die Jahre gingen dahin, doch Johan blieb eine Begegnung mit den mystischen Gestalten erspart. Er kümmerte sich auch nicht weiter um dieses Thema. Was meinem Vater zugestoßen war, das muss ja nicht unbedingt mein Schicksal beeinflussen, sagte er sich. Er stieg ebenso wie William zum Meister auf und heiratete Adele, die Tochter eines Kollegen. Sie gebar ihm zwei Söhne, die zwanzig Jahre später in ihres Vaters Fußstapfen treten sollten. Theobald war inzwischen gestorben, und die Diskussionsrunden waren vorläufig beendet. Niemand auf der Baustelle interessierte sich weiter für die Vergangenheit oder das ideologische Erbe von Johans Vater. So verstrichen weitere Jahre und Jahrzehnte, ohne dass Schicksalhaftes im Leben der Giffreys geschah. Es dauerte bis zum Jahr 1710, als ein Nachkomme von Johan, namens Matthieu als Handwerksgeselle bei der Errichtung eines kleinen Schlosses in Südfrankreich mithalf.

III. Ein neues Zeitalter

Er war glücklich verheiratet mit der schönen Beatrice, der jüngsten von vier Töchtern des obersten Baumeisters. Doch er war im Grunde für harte Arbeit nicht geschaffen. Stattdessen las er viel und besaß viele unterschiedliche Interessen. Er besuchte im Gegensatz zu den meisten seiner Vorfahren regelmäßig Messen und hatte einen festen und unverrückbaren Glauben an Gott. Da er sich im Handwerk eher nicht zuhause fühlte, begann er zu schreiben, besonders über Zusammenhänge von theologischen und weltlichen Themen. Er war als ehrlicher Calvinist gegen den Ablasshandel und vermied es daher öffentlich über seine Einstellung zur katholischen Kirche zu reden. Seit der finalen Verfolgung der Hugenotten zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts, lebten Protestanten wie er sehr gefährlich, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich mit seiner Familie entschied auf das Land zu ziehen, wo er sich den nötigen Schutz vor den Schergen des Königs erhoffte. Als Ludwig der IV. 1715 starb, sah Matthieu für sich und seine Familie wieder eine Perspektive, doch der Hass zwischen den verfeindeten Lagern hatte sich noch nicht gelegt. So begab es sich, dass er eines Tages auf dem Weg nach Hause drei merkwürdig gekleideten Männern begegnete, die ihn anhielten und sogleich beim Namen nannten. „Woher wisst Ihr, wie ich heiße?“, wollte Matthieu wissen, und eine der Gestalten, deren lange schwarze Mäntel aufgrund des auffrischenden Windes klatschende Geräusche machten, begann intensiv auf den Gesellen einzureden. „Wir verfolgen Deinen Stammbaum schon seit über dreihundertfünfzig Jahren und haben Deine Ahnen immer beobachtet. Das liegt vor allem daran, dass Du genau wie Deine Vorfahren immer edle und ehrliche Absichten hattest. So mahnen wir Dich und Deine Familie, in den Norden zu ziehen, da in spätestens fünf Jahren die nächste schreckliche Pestwelle den Süden Frankreichs überziehen wird, und dass dafür höhere Mächte verantwortlich sind, denen die Menschen auf Erden nicht Einhalt gebieten können. Gleichzeitig ist die Seuche eine Strafe für all jene, die den Glauben verloren haben und falschen Tugenden frönen. Verkündige denen, welche Dir zuhören, dass es auch in Zukunft in regelmäßigen Abständen zu schlimmen Seuchen kommen wird, die vor allem diejenigen befallen werden, welche Maßlosigkeit der Demut vorziehen. Natürlich wird es auch Opfer geben unter den Armen und den Gläubigen, es muss immer wieder eine natürliche Auslese stattfinden, da der Mensch ansonsten die Erde zerstören wird. Das wird zwangsläufig in einer Zukunft, welche Du nicht mehr erleben wirst zum Untergang der gesamten Menschheit führen. Gestalte Dein Leben im Glauben an die Existenz höherer Mächte, ehrfurchtsvoll und gütig, so wird es Dir und Deiner Familie viele Jahre lang an nichts mangeln.“ Matthieu glaubte an für sich nicht an Geister, doch diese Begegnung ließ ihn an seinen bisherigen Überzeugungen zweifeln. Als er nach Hause kam, teilte er Beatrice sofort seine überirdische Erfahrung mit, wagte es aber nicht, seinen Kollegen auf der Baustelle von dem besonderen und mysteriösen Vorkommnis zu berichten.

Exkurs I

Bachiel: „Wenn wir den Menschen die Wahrheit über das Ende ihrer Art und ihrer Welt erzählen, wird es eine Panik unter ihnen geben, und unsere Mission wird noch schwieriger, da Kriege um Macht und die letzten Ressourcen folgen werden. Wir dürfen in keinem Fall weitere Märtyrer schaffen, welche für unsere Sache sterben.“ Aariel: „Wenn niemand von dem großen Plan erfährt, wird auch in der Zukunft große Ungerechtigkeit zwischen den Menschen vorherrschen. Die Reichen werden versuchen sich als erste in Sicherheit zu bringen und die Ärmsten werden leiden und auf die übelste Art krepieren.“ Dariel: „Es wird neue Strömungen unter den Menschen geben und Giffrey könnte einer von ihnen sein, der sein Wissen und seine Spiritualität weitergibt. Ich habe die Hoffnung, dass letzten Endes die Menschheit zur Vernunft kommt und die Prophezeiung abgewendet werden kann. Da das Ende der Menschheit erst in etwa vierhundertfünfzig Jahren angekündigt ist, kann noch vieles passieren.“ Bachiel: „Wir werden seine Familie und seine Nachkommen weiter beobachten und dafür sorgen, dass unsere Prophezeiungen weitergegeben werden. Mehr können wir für den Augenblick nicht tun. Die nächste Epidemie steht bevor, und er muss beweisen, dass er seine Mitmenschen erreichen kann und seiner Verantwortung bewusst werden.“ Aariel: „Er wird einer Gruppierung beitreten, welche sich, für Humanität, Hilfsbereitschaft und Toleranz einsetzt, und er wird die Prüfungen, die er ableisten muss, letztendlich erfolgreich bestehen.“

Matthieu indessen war sich seiner Aufgabe nicht sicher. Sollte ausgerechnet er, ein relativ unbedeutender Handwerker für Frieden und Demut unter den Menschen sorgen? Wieso wurde gerade er ausgewählt, oder wussten noch andere von der bevorstehenden Apokalypse?“ Sein Plan war, wie von den drei Männern empfohlen, mit seiner Familie in die Normandie zu ziehen, um der nächsten Epidemie zu entkommen. Als er Marseille verließ, waren die Menschen in seiner Umgebung von Armut betroffen, die meisten waren aber noch von guter Gesundheit. Es war das Jahr 1720, als Matthieu erfuhr, dass der ganze Süden des Landes von einer neuerlichen Pestwelle erfasst wurde. Zehntausende wurden dahingerafft, aber dank einer Mauer, 1721 als Schutzwall gegen die Pest errichtet, erreichte die Seuche den Norden Frankreichs nicht. Matthieu begann in der Bauhütte seinen Arbeitskollegen während der Mittagspausen die Thesen, welche ihm von den drei Gestalten gepredigt wurden, weiterzugeben und zu diskutieren. Doch stießen die Prophezeiungen bezüglich des Weltuntergangs auf wenig Begeisterung bei den Handwerkern, und so gab er es irgendwann auf, seine Mitmenschen bekehren zu wollen. Nach acht weiteren Jahren, Matthieu war inzwischen zum Meister berufen worden, es war das Jahr 1730, erfuhr er durch einen Freund, dass es in Paris eine Bauhütte gebe, wo Menschen in Gemeinschaft spirituelle und mystische Gedanken austauschten, welche seinen nicht unähnlich wären. Erfreut, dass es anscheinend mehr aufgeklärte Leute wie ihn gebe, beschloss er in die Großstadt zu reisen und diese Menschen kennenzulernen. Nach drei Tagesritten erreichte er Paris und suchte das besagte Gasthaus in der Rue des Boucheries auf, in der diese Loge, wie diese Gemeinschaft sich nannte, tagte. Als er in den von der Schänke separierten Gastraum eintrat, wurde er ermahnt wieder zu gehen, da dies eine geschlossene Veranstaltung nur für Mitglieder sei. Doch Matthieu blieb hartnäckig, erklärte, wer er sei, und dass er die große Entfernung nur zurückgelegt habe, damit er mit dem Gedankengut dieser Gemeinschaft vertraut gemacht werde. Da erhob sich plötzlich der Mann an der Stirnseite der Tafel und sprach zu Matthieu: „Ich bin Andre-Lebreton, der Vorsitzende dieser Runde aus ehrenwerten Mitgliedern. Ihr seht nicht so aus, als stammt ihr aus einer angesehen Familie, was für Euch automatisch eine mögliche Eintrittskarte in unseren Kreis hätte bedeuten können. „Ich stamme aus dem Norden Frankreichs“, antwortete Matthieu, „und bin in meiner Innung ein angesehener Handwerksmeister. Ich würde mich gerne mit Euch austauschen, und wäre bereit alle dafür maßgeblichen Regeln zu beachten. Ich habe nämlich gehört, dass es in einer Loge wie Eurer klare Bestimmungen gibt, die eingehalten werden müssen.“ „Wenn Du wahrhaftig ein Baumeister bist, so stehen Deine Chancen nicht schlecht, in unseren Kreis aufgenommen zu werden. Maitre Laverne und Maitre Bonsaque sind ebenfalls Handwerksmeister. Die ersten Freimaurer wurden so genannt, weil sie Baumeister und Maurergesellen waren. Sie bilden den Ursprung unserer Vereinigung. Du musst allerdings zunächst eine Initiation durchlaufen“, erklärt Lebreton. „Und davor musst Du Dich mit unseren Werten und Riten auseinandersetzen. Wenn Du alle Prüfungen bestehen solltest, wären wir bereit Dich in unseren illustren Zirkel aufzunehmen. Am besten stimmen wir kurz ab, wer dafür oder dagegen ist.“ Die Abstimmung verlief günstig für Matthieu, und so mietete er sich ein Zimmer in der Stadt, um am folgenden Tag wieder das Gasthaus aufzusuchen.

 

Dort wurde er schon erwartet. Lebreton und die anderen Logenmitglieder baten Matthieu nach draußen, wo drei Kutschen auf sie warteten. „Deine Einweihung findet auf dem Landgut meiner Familie statt“, sagte Lebreton, als sie schon unterwegs waren. Nach circa eineinhalb Stunden erreichten sie das Ziel, eine hochherrschaftliche Villa in spät-barocker Bauart. Im Foyer stellten sich alle in einem Kreis auf und hielten sich an den Händen. Danach erklärte Lebreton die Werte, welche die spezielle Magie der Freimaurerei beinhalteten. So machten ihn die anderen Meister und ehrenwerten Bürger mit den besonderen Aspekten der Geometrie und der Zahlenlehre vertraut, auch wenn Matthieu die meisten der Weisheiten bereits kannte. Doch das wichtigste Ziel des Einzelnen sei das Streben nach Transzendenz, in Verbindung mit der Aufgabe von unnötigem materiellem Besitz. „Du musst Deine Wertgegenstände vor der eigentlichen Initiation ablegen, denn wir streben nach spiritueller Wahrheit. Du brauchst aber nicht in Armut leben. Es ist eher ein Symbol unseres Verzichts auf unnötigen Ballast. Solange die Vorbereitung auf Deine Einweihung dauert, kannst Du im Gästezimmer des Landhauses übernachten.“ Jeden Tag ging Mathieu in einen gesonderten Raum und übte die Meditation, mit dem Ziel den Geist zu reinigen. Am Tag der Initiation wurden ihm bestimmte Symbole vorgelegt, welche er verinnerlichen sollte. Das waren zum einen ein Dreieck mit einem Auge darin, darüber ein Zirkel und darunter ein Winkelmaß. Ein anderes Symbol zeigte ein Pentagramm, in welchem ein Mensch abgebildet war. Das dritte Symbol war ein Totenkopf. Lebreton klärte ihn daraufhin auf, was es mit den einzelnen Symbolen auf sich hatte. Das Pentagramm zum Beispiel wurde ganz im Sinne des Pythagoras ausgelegt, als Symbol für die Vereinigung der Elemente Erde, Feuer, Licht und Wasser. Der fünfte Zacken des Sterns war das Zeichen für den allumfassenden Geist. Lebreton wies ihn weiter daraufhin, dass er auch nach bestandener Einweihung zunächst nur den Stand eines Lehrlings habe. Erst mit fortschreitender Entwicklung werde er den Meistergrad auch in der Loge erhalten. Nachdem Matthieu dieser scheinbaren Herabsetzung mit etwas Unbehagen zugestimmt hatte, wurde er in das sogenannte Vorbereitungszimmer geführt, in welchem er eine Art Wiederauferstehung erleben sollte. Sein altes Ich sei nun gestorben und dafür etwas Neues entstanden. In dem dunklen Raum, der von nur einer Kerze erhellt wurde, befanden sich ein Totenschädel, ein Skelett und ein Tisch, auf dem Salz, Brot, Schwefel und ein Krug Wasser zu entdecken waren. An den Wänden waren noch weitere Symbole zu entdecken. All diese Gegenstände verwiesen darauf, dass nach seinem symbolischen Tod eine innere Reinigung folgen sollte, welche ihn zur absoluten Erleuchtung führen würde. Das alles folgte einem hermetischen Plan, den Matthieu verinnerlichen musste. Nach stundenlangem Aufenthalt in dem dunklen Zimmer, wurde er wieder herausgeführt und als Lehrling der Maurer von seinen neuen Weggenossen begrüßt. „Hole Deine Familie nach Paris“, sagte Lebreton zu ihm. Hier ist Deine neue Heimat, und es soll Euch an nichts mangeln. Wir sorgen füreinander.“

Und tatsächlich setzte sich ein Mitglied der Loge für ihn ein und verschaffte ihm eine Arbeitsstelle für die Renovierung der Kathedrale de Notre Dame. Da er sich mit der schnörkellosen gotischen Baukunst gut auskannte, erntete er von Beginn an großen Respekt bei seinen Handwerkskollegen. Auch in der Loge wurde seine Karriere wohlwollend beobachtet, und da er ständig an seiner selbstlosen Persönlichkeit arbeitete, wurde er schon bald nach der Beförderung zum Gesellen in den Status eines Meisters erhoben. Spätestens jetzt war er mit allen Logenmitgliedern auf Augenhöhe. Auch wenn seine Ansichten bezüglich der Ordnung des Universums und der philosophischen Lehren der Freimaurerei bei einigen Mitgliedern Kritik hervorriefen, galt er nun als geachteter Meister. Er durfte selber Lehrlinge für die Loge ausbilden, und ging in seiner neuen Berufung auf. Dabei hatte er auch nicht vergessen, was die drei Gestalten ihm einst vorausgesagt hatten, es bestärkte ihn nur in seiner Arbeit. Er hoffte, dass sie ihn noch einmal besuchen kämen, damit er den Glauben an ihre Voraussagungen nicht verlor. Doch es ging viel Zeit vorüber, Matthieu hatte inzwischen das stolze Alter von siebzig Jahren erreicht und war Urgroßvater, als zwei seiner Enkel ebenfalls einen Sitz in einer Loge anstrebten. Der alte Mann war glücklich über diese Entwicklung und unterwies sie in die eigentlichen Ziele der Freimaurerei. „Es gilt vor allem, den Unterprivilegierten zur Seite zu stehen, und ehrenvolle Absichten zu haben, dann werdet Ihr einer guten Zukunft entgegen sehen.“

Die beiden Enkel hießen Marcel und Frederic. Matthieu hatte ihnen schon mehrfach von seiner mystischen Begegnung mit den drei Fremden erzählt, doch sie wollten es erst glauben, wenn ihnen das gleiche Schicksal widerfahren sollte. Marcel war der weniger begabte Handwerker und sah seinem Bruder häufig neidisch bei der Arbeit zu, dennoch verfolgte er die gleichen Ziele wie sein Großvater, um irgendwann einmal Großmeister einer Loge zu werden. Als Mathieu starb, standen beide Enkel an seinem Sterbebett und schworen sein Vermächtnis in Ehren zu halten. Die letzten Worte vor seinem Tod, galten Marcel: „Du bist nicht als Steinmetz geeignet, suche stattdessen Deine Zukunft in der Medizin. So wirst Du erfolgreicher sein, als dein Bruder es jemals werden wird, ich bin mir sicher, dass dies Deine Berufung ist.“ Marcel war zunächst erschüttert, hatte er seine Zukunft doch immer im Handwerk gesehen. Als er seinem Bruder von der Botschaft seines Großvaters an ihn erzählte, machte dieser ihm Mut und bestärkte ihn in dieser Absicht. „Ich sah Dich nie als Konkurrenten, da Dir die Ausübung des Steine Bearbeitens nicht mit in die Wiege gelegt wurde. Aber ich weiß auch, dass Du erfolgreich sein kannst, indem Du Deinen eigenen Weg beschreitest, zum Beispiel als Mediziner. Du kannst Dich noch in dieser Woche an der Universität in Paris einschreiben. Ich werde Dich finanziell unterstützen, soviel ist mir Deine Karriere wert.“ Marcel fühlte sich von seinem Bruder unter Druck gesetzt und forderte Bedenkzeit. „Ich werde Dir innerhalb einer Woche meinen Entschluss mitteilen. Bitte gewähre mir diesen Aufschub, ich müsste mich von früheren Zielen verabschieden, dafür benötige ich einige Tage Zeit.“ Marcels Problem bestand nicht darin, dass er dem Arztberuf abgeneigt war, sondern in der Tatsache, dass er immer seinen Vorfahren nacheifern wollte. Und die waren nun mal fast immer Handwerker gewesen. Er glaubte aus der Reihe zu tanzen und Schande über seine Familie zu bringen, wenn er dem Rat seines Großvaters nachkommen würde. Doch schon am nächsten Tag erfuhr er, dass es im Stammbaum der Giffreys schon immer Ärzte gegeben hatte. Ein früher Vorfahre, William Giffrey, soll auch sehr erfolgreich im Kampf gegen die Pest gewesen sein, obwohl dies zu seiner Zeit nicht gebührend genug gewürdigt wurde. Besonders dieser Umstand ließ Marcel zu der Überzeugung kommen, dass er diesem Beruf vielleicht doch etwas abgewinnen könne. Als er seinem Bruder wenige Tage später entgegen trat, teilte er ihm seinen Entschluss mit. „Ich schließe mich Deinem Willen an, möchte aber nicht, dass Du mich während der Ausbildung zum Arzt finanziell unterstützt. Mein Stolz gebietet mir, dass ich für die Kosten alleine aufkomme.“ Die Brüder umarmten sich innig, und schon am darauffolgenden Tag brach Marcel Giffrey nach Paris auf.