Silex

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Jade Tatnon

Silex

Buch 1

Die Garde

Weitere Bücher der Silex Reihe:

Silex – Prequel

Silex – Die Geächteten (Buch 2 – verfügbar ab Sommer 2016)

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Impressum

© 2016 Jade Tatnon

Umschlaggestaltung: Jade Tatnon unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN: 978-3-7375-9559-9

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Über die Autorin

Kapitel

Jemand rüttelt mich an der Schulter. Unsanft, hektisch und grob. Und als ich die Augen aufschlage, schaue ich in blaue Augen, die von schwarzen Haarsträhnen in mehrere Teile zerschnitten sind.

„Los. Komm.“

Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern, geht mir aber trotzdem durch Mark und Bein. Die Hand, die er immer noch an meiner Schulter hat, greift kurz gröber zu und im nächsten Augenblick hat er mich aus dem Bett geholt. Meine nackten Füße knallen auf den Holzfußboden und ich versuche mich von ihm loszumachen, aber sein Griff ist zu fest. Ich atme ein, um zu fragen, was er von mir will und wer er eigentlich ist, muss aber sofort husten und genau in dem Moment schießt alles auf mich ein, als würde die Realität mich bombardieren wollen.

„Runter!“ schreit er, seine Hand auf meinem Kopf.

Ich kann kaum was sehen, weil meine Augen so tränen. Mir ist heiß und der Rauch und die Flammen überall machen die Sache auch nicht besser. Er scheint zu wissen, wo es langgeht, wo einigermaßen sichere Wege sind, und zieht mich am Handgelenk hinter sich her. Geduckt laufen wir die Hintertreppe runter, die die früher mal für die Bediensteten gewesen ist.

Ich kann nicht klar denken. Ich weiß: Eigentlich müsste ich Angst haben. Wegen des Feuers. Aber alles, was mir durch den Kopf geht, ist: Was, zum Teufel, machst du da? Der schwarzhaarige Fremde zerrt mich die Treppe runter und ich vertraue ihm. Blindlings. Und ich weiß noch nicht mal, wie er heißt. Geschweige denn, wer er ist. Ich taufe ihn Zeus. Der wusste auch immer, was los war. Der war Göttervater. Der hat sich auch immer genommen, was er wollte. Ja, Emily, der hat die Mädchen und Frauen auch immer einfach entführt. Mir wird ganz anders und ich muss mich am Treppengeländer festhalten.

„Was machst du denn da?“ herrscht Zeus mich an und reißt mich grob am Arm. „Weiter!“

Ich stolpere die Treppe weiter runter und der dunkelhaarige Fremde zerrt mich durch den nächsten Flur. Vorbei an brennenden Türen und Zimmern. Rings um uns herum zerfressen die Flammen alles, was ihnen im Weg steht. Sie machen einfach vor nichts Halt. Teils sind sie so hell, dass ich – trotz dunklem Rauch – nicht in sie reinschauen kann. Hier und da höre ich das Knarzen und Ächzen von Holz. Ab und an höre ich das Krachen, wenn etwas von oben runterkommt. Meine Augen brennen und der Rauch tut mir im Hals und in der Lunge weh. Ich hätte nie gedacht, dass man seine Lunge spüren kann! Hinter uns kommt jetzt was runter. Als ich zurückschaue, sehe ich durch den Tränenschleier, dass der Weg nach oben abgeschnitten ist. Ein brennender Holzbalken ist auf die obersten Treppenstufen gefallen und blockiert den Weg. Warum ist die verdammte Schule aus so viel Holz gebaut? Steine gibt es auch, ja, massig, aber überall ist Holz. Mindestens doppelt so viel wie Stein. Ich muss husten, aber der Zeus-Typ zieht mich einfach weiter.

Als wir etwa die Hälfte der Treppe hinunter uns gelassen haben – immer geduckt an der Wand entlang laufend – da höre ich sie das erste Mal. Ich bleibe stehen und sofort geht ein kräftiger Ruck durch meinen Arm.

„Komm!“

In seinen Augen, die wahrscheinlich wegen dem wenigen Licht jetzt fast schwarz aussehen, spiegeln sich die Flammen und er wirkt alles andere als froh darüber, dass ich stehengeblieben bin. Warum muss er eigentlich nicht husten?, schießt es mir durch den Kopf. Seine Augen tränen auch, sehe ich, aber der Qualm und die Flammen scheinen ihm (fast) nichts anhaben zu können.

„Aber die anderen!“

„Die sind egal“, sagt er, zieht sein Shirt über Mund und Nase und setzt seinen Weg fort, mich nicht gerade sanft hinter sich herziehend. „Und. Jetzt. Komm. Endlich.“

„Nein! Nein, halt!“ brülle ich und versuche ihn in die andere Richtung zu zerren. Zurück zu den Schreien hinter uns. Aber er schleift mich weiter. „Die anderen! Wir müssen zurück!“

Er schaut sich noch nicht mal mehr zu mir um, sondern zieht mich einfach weiter. Immer weiter. Ich versuche seine Hand von meinem Handgelenk zu lösen, aber sein Griff ist wie aus Eisen. Weil das nicht geht und ich seine Finger einfach nicht von meinem Handgelenk lösen kann, versuche ich mich am Treppengeländer festzuhalten – die Schreie gellen panisch hinter uns her und trotz der Hitze läuft es mir eiskalt den Rücken runter – aber er reißt mich einfach weiter. Er ist so viel stärker als ich, es ist zwecklos. Und so zerrt er mich Etage für Etage weiter nach unten.

„Bitte“, flehe ich. „Wir könnten die doch hier nicht bei lebendigem Leibe verbrennen lassen!“

Aber er wirft mir nur einen Blick über die Schulter zu und macht keinerlei Anstalten sein Tempo zu verringern, geschweige denn stehen zu bleiben. Die Treppe haben wir schon hinter uns gelassen und ich versuche mich am nächsten Türrahmen festzuhalten – bei dem ob der Hitze die Farbe Blasen geschlagen hat und meine Hände verbrennt – aber es ist aussichtslos. Er zerrt mich weiter. Immer weiter und weiter. Der großen Eingangstür entgegen. Die Tapete, die sich mittlerweile von den Wänden kräuselt und zu schmoren begonnen hat, hilft mir auch nicht weiter. Ich höre das Schreien nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr so laut wie eben noch. Doch dann kreischt über uns plötzlich jemand auf und ich bleibe stocksteif stehen. Es klingt nach ungeheurer Pein und unglaublicher Panik. Ein Ruck an meinem Handgelenk und ich bin wieder in Bewegung.

„Aber wir müssen-“ setze ich erneut an, werde aber von einem herabstürzenden Balken unterbrochen.

Ehe ich überhaupt realisiert habe, dass das Ding unmittelbar auf uns zuhält, hat mein Begleiter mich auch schon aus der Schusslinie gezogen, zu Boden gedrückt und an sich herangerissen. Wir knien am Boden, er schützend über mir und das Ding schlägt keinen ganzen Meter neben uns ein und besprüht uns mit Funken und kleinen glühenden Holzsplittern. Ich schreie kurz auf als Teile davon meinen linken Arm verbrennen. Er allerdings sagt gar nichts, obwohl er den Großteil der Fuhre abbekommen haben muss. Doch dann… Ich habe nur meine 3/4–Pyjama-Hose und mein Tanktop an. Klar, dass die Funken bei mir da mehr Schaden anrichten als bei ihm. Er hat… Oh mein Gott, stelle ich fest, als ich ihn das erste Mal sehe. So richtig sehe, meine ich. Zeus ist Gardist! Realisiere, was er da eigentlich trägt. Dass sein Outfit dann auch noch komplett schwarz ist. Zeus ist Sentinel?, rattert es ehrfürchtig in meinem Kopf.

„Alles okay?“ höre ich seine besorgte Stimme an meinem Ohr und im nächsten Augenblick taucht sein Gesicht vor mir auf, als er mich bei den Oberarmen nimmt und mich ein wenig von sich wegschiebt.

Er ist glatt rasiert, sehe ich, und seine dunklen Haare reichen ihm bis unters Kinn. Er mag gut 10, 15 Jahre älter sein als ich. Seine Augen, die wegen der Dunkelheit immer noch grau-schwarz sind – vielleicht habe ich mich auch getäuscht und sie sind gar nicht blau? – fliegen über mein Gesicht, so als könnte er da Antworten finden. Ich bringe es nicht fertig, was zu sagen. Hätte er mich nicht weggezogen und sich über mich geworfen, würde ich jetzt unter dem brennenden Balken da drüben liegen!

„Na komm.“

Er weiß wohl, dass ich ihm eine Antwort schuldig bleiben werde und rappelt sich stattdessen wieder auf, mich immer noch am linken Oberarm haltend, so dass er mich mit sich hoch zieht. Das Kreischen von oben ist verhallt, dafür sind die Hilfeschreie jetzt aus einem anderen Teil des brennenden Gebäudes zu hören. Ich versuche noch ein letztes Mal mich von ihm loszumachen, stehen zu bleiben, umzukehren, meinen Freunden und Mitschülern zu Hilfe zu eilen, aber er lässt es nicht zu. Er prescht in die Empfangshalle und hält unmittelbar auf die große Flügeltür zu. Von draußen in der Ferne drängt das Plärren von Feuerwehrsirenen an mein Ohr. Aber die werden zu spät kommen. Viel zu spät. Die sind noch viel zu weit weg. Es ist keiner außer uns in den Gängen gewesen. Das Feuer hat uns alle im Schlaf überrascht. Und wenn der schwarzhaarige Fremde Zeus-Typ nicht aufgetaucht wär und mich aus dem Schlaf gerissen hätte, dann wäre ich jetzt auch noch da oben.

 

Er wirft sich mit der Schulter gegen das riesige Eingangstor, das nachts immer verschlossen ist, und im nächsten Augenblick sind wir auch schon draußen. Ich nehme einen tiefen Atemzug und die kalte, frische Luft brennt höllisch in meiner vom Qualm gereizten Lunge. Die umliegenden Bäume und Sträucher werfen verzerrte Schatten und das Feuer taucht ihre Äste in ein warmes, tanzendes Licht. Über das verzehrende Geräusch des Feuers und in das Geheul der Sirenen mischt sich jetzt auch das Rattern von Helikopter-Rotorblättern, aber weder die Löschfahrzeuge, noch die Hubschrauber sind zu sehen. Auf dem Boden verstreut liegen immer noch die ganzen zerbrochenen Ziegel von dem Sturm gestern. Die Bäume haben sie schon wieder hergerichtet, so dass keine mehr umgestürzt oder abgeknickt sind. Nur hier und da liegen noch ein paar abgerissene Äste. Doch um die Ziegelsteine hat sich wohl keiner gekümmert. Ich werfe einen Blick zurück auf das brennende Gebäude und als ich dieses Mal stehenbleibe, lässt mein Begleiter es kurz zu.

Oh mein Gott, denke ich noch, während meine Knie anfangen zu zittern. Es ist schlimmer als ich erwartet habe. Viel schlimmer! Das gesamte Internat brennt lichterloh. Selbst der kleine Anbau. Rauch und Flammen steigen in den dunklen Nachthimmel empor und hier und da hört man noch das Schreien der Brandopfer. In ihrer Panik springen manche aus den Fenstern. Aus dem fünften Stock! Unsere Schlafräume liegen allesamt im fünften Stock, so dass man sich nachts nicht aus den Fenstern davonschleichen kann. Sie können den Sturz nicht überleben. Unmöglich.

Zeus zieht mich weiter fort, während ich die vom Feuer hell erleuchtete Häuserfront absuche. Bald sind wir so weit weg, dass ich in die oberen Fenster gucken kann. Und meine Augen nehmen plötzlich eine Gestalt wahr, die-

Oh mein Gott!, durchfährt es mich. Isabel!

Der Gedanke ist noch nicht ganz zu Ende gedacht, da setzt sich mein Körper auch schon von allein in Bewegung. Und prompt schließt sich die Hand des Fremden schmerzhaft um mein Handgelenk. Er schleudert mich zu sich herum, so dass ich in ihn hinein pralle. Das Garde-Buch! Shit! Die denken, sie hat… Mir wird ganz übel bei dem Gedanken. Zeus Hand hat mein Handgelenk losgelassen, liegt jetzt stattdessen auf meinem Rücken und als ich meine Hände gegen seine Brust stemme und versuche, von ihm wegzukommen, da lässt er es nicht zu. Aber sie weiß doch gar nichts! Ich hab ihr nichts von uns erzählt! Sie denkt doch nur, das ist ein Märchen! Ich hab ihr das Buch nicht gegeben, ehrlich!

„Aber Isabel!“ Über mein eigenes Geschrei und den Höllenlärm des Feuers meine ich ihre Schreie zu hören. Aber vielleicht ist es auch nur Einbildung. „Wir müssen zurück! Wir müssen-“

„Bist du wahnsinnig?“ fährt Zeus mich leise an und dreht mich um, so dass meine Rückseite an seine Vorderseite gepresst ist und ich wieder das brennende Internat vor mir sehe. Meine Augen finden Isabels Zimmerfenster sofort wieder. Das Zimmer, in dem ich eben noch geschlafen habe. Warum, um Himmelswillen, haben Sie nur `mich´ geweckt?, fahre ich Zeus in Gedanken an, kann mich aber von dem Anblick vor mir nicht lösen. „Wir können da nicht wieder rein!“

Zu dem Rauch in dem Zimmer – wahrscheinlich ist er unter der geschlossenen Tür durchgekrochen – haben sich die ersten Flammen gesellt. Sie tritt zurück, unmittelbar auf das Fenster zu, mit dem Rücken zu uns. Sie weiß nichts! Ehrlich!, beteure ich in meinem Kopf. Bis jetzt habe ich immer angenommen, die Garde zitiert Profane, die verbotener Weise über unsere Existenz und unsere Fähigkeiten Bescheid wissen, zur Garde-Hochburg, dem St. Michaels. Dort entscheidet dann der Großmeister, was mit ihnen passiert. In welche Kolonie sie gesteckt werden. Dass sie nicht in die Profane Welt zurück dürfen, ist mir klar. Aber die können doch nicht gleich das ganze Internat abfackeln! Die können Isabel doch nicht-

„Da kommt jetzt keiner mehr lebend raus“, spricht Zeus weiter, mir unmittelbar ins Ohr, während seine Hände meine Arme festhalten und mich an seinen Körper drücken.

Die Flammen lecken nach meiner besten Freundin. Sie fährt herum. Ihre Hand am Fenstergriff. Doch es lässt sich nicht öffnen. Warum, zum Teufel, lässt sich das verdammte Ding nicht öffnen? Doch selbst wenn… Einen Sturz aus dem fünften Stock würde sie eh nicht überleben. Genauso wenig wie alle anderen, die es vor ihr versucht haben.

„Lass das!“ fährt Zeus mich an und seine Arme pressen mich noch fester an ihn. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass ich versucht habe, mich von ihm loszumachen.

Meine komplette Aufmerksamkeit gilt nur Isabel. Die Flammen haben nach ihr gegriffen und sie schlägt mit der Hand auf ihrem Körper herum. Aber das hilft nicht.

„Emily, du kannst da nicht wieder rein!“ Sie fängt an zu husten. Ihre Hände schlagen vergebens. Sie ist am Keuchen. Taumelt zurück. Vergeblich. Ihr ganzer Körper geht plötzlich in Flammen auf. „Emily!“

Seine Stimme brüllt mir ins Ohr und seine Arme sind wie Schraubzwingen. Er hat sie um mich gelegt, um mich unter Kontrolle zu halten. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich muss ihr doch helfen. Ich bin Gardist – wenn auch nur einer in Ausbildung. Sie ist eine Profane. Ich muss zu ihr. Wer sonst soll ihr denn helfen? Sie schreit wie am Spieß. Es ist grauenvoll – auch wenn mein Gehirn mir wahrscheinlich nur vorgaukelt, dass ich ihre Schreie höre. Es ist eigentlich unmöglich auch nur irgendetwas über das Getöse des Feuers hinweg zu hören. Aber ich sehe es. Sehe, wie sie kämpft. Wie sie sich vor Schmerzen krümmt und vergeblich gegen die Flammen ankämpft.

Du bist Gardist, um Himmelswillen!, schreit es in meinem Kopf. Es ist deine Aufgabe ihr das Leben zu retten! Also stemme ich mich mit aller Macht gegen die Hände, die mich festhalten. Gegen die Arme, die er um mich gelegt hat. Ich höre den keuchenden Atem des schwarzhaarigen Fremden hinter, beziehungsweise über mir. Schlage nach ihm, als ich meine Arme wieder frei habe. Versuche mich von ihm loszureißen. Aber es bringt alles nichts. Ich schaffe es keinen ganzen Meter vorwärts. Isabels Schreie sind verklungen und ich kann sie nicht mehr sehen. Adrenalin und die Angst um meine Freundin verleihen mir jedoch so viel Kraft, dass mein Aufbäumen seinen eisernen Griff etwas lockert. Damit hat er wohl nicht gerechnet. Ich nutze den Überraschungsmoment und mit einem weiteren Ruck durchbreche ich die Mauer, die seine Arme um mich gebaut haben. Doch anscheinend hat er seine Arme nur gelockert, um mich anderswo festzuhalten, denn sofort werde ich von hinten gegriffen, herumgewirbelt und stehe unmittelbar vor ihm. Er sagt was. Schreit es regelrecht. Sein Gesicht ist verzerrt, seine Augen sind zu Schlitzen geworden, aber ich höre ihn nicht. In meinen Ohren gellt nur immer und immer wieder Isabels Schreien.

Jetzt

Ich schreckte klatschnass und zitternd aus dem Schlaf auf und es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte. Bis ich wieder wusste, wo ich war. Die Brückenpfeiler um mich herum waren wieder da. Der Schein der Straßenlampe in der Entfernung. Das Plätschern des Wassers vor mir. Der Wind, der unter der Brücke hindurch fegte. Mir fröstelte und ich zog meine Jacke und die Decke enger um meinen Körper. Aber der Schock, die Erinnerungen, saßen noch zu tief in meinen Knochen und mir war keinesfalls nur wegen des eisigen Windes kalt.

„Hey“, hauchte Chase mit schlaftrunkener Stimme und rieb sich über die Augen.

Er musste in der Nacht wohl von mir abgerückt sein – mir wurde ganz warm, als ich daran dachte, wie wir eingeschlafen waren. Wie nah er mir gewesen war. Sein Atem auf meinem Haar, als er mir „Gute Nacht“ gewünscht hatte.

„Sorry, “ wisperte ich und senkte den Kopf, so dass ich mein glühendes Gesicht hinter meinen Haaren verbergen konnte, „ich… ich wollte dich nicht wecken.“

Er presste nur die Lippen aufeinander und richtete sich auf, jetzt schon nicht mehr so schläfrig.

„Albtraum?“

Albtraum? Nein, so konnte man es nun wirklich nicht nennen. Es waren Erinnerungen, die mich plagten. So echt und in Farbe, wie nur der Silex sie hat. Ich fühlte mich wieder genauso übermannt wie damals, als es das erste Mal passiert war. Damals, nach Chases Autounfall. Und dabei war ich doch besser geworden. Also, darin, dass ich entschied, wann ich in meine Erinnerungen eintauchte, wann ich mich mit ihnen beschäftigte und nicht so von ihnen heimgesucht wurde, wie sie es gerade mal wieder getan hatten. Aber ich war wohl so fertig, dass sie doch einen Weg in meinen Kopf gefunden hatten.

Er atmete hörbar durch die Nase aus, nicht angepisst – Gott sei Dank! Es war noch nicht lange her, da hatte er mich zum Teufel gewünscht! – sondern mitfühlend und ich senkte meinen Kopf, um mir meine Haare erneut vors Gesicht fallen zu lassen.

„Hey“, machte er leise und ich hörte, wie er zu mir heran rutschte, „ist okay. Sh, ist okay.“

Wie Matt, dachte ich, während Chase von hinten seine Arme um mich legte und mich an sich heranzog. Manchmal, da erinnert er mich echt an Matt. Und wieder einmal fragte ich mich, wie oft Matt ihn wohl genauso im Arm gehalten und genau das zu ihm gesagt hatte, als er noch jünger gewesen war. Ich fühlte mich besser, so in seinen Armen. So, als sei ich nicht mehr ganz allein. So, als sei jemand an meiner Seite. Ich lehnte meinen Oberkörper gegen seinen und er küsste er mich auf die Schläfe.

Fang jetzt nicht an zu heulen, Em! Fang jetzt bloß nicht an zu heulen! Es kostete mich echt einiges an Überwindung nicht hier an Ort und Stelle in tausend Teile zu zerbrechen und den Tränen und der Hoffnungslosigkeit und meiner Angst freien Lauf zu lassen.

Damals

Er schüttelt mich, aber alles was ich will, ist von ihm wegzukommen. Isabel zur Hilfe zu eilen. Sie liegt am Boden. Wahrscheinlich ohnmächtig. Ich muss da wieder rein, verdammt! Ich muss sie da rausholen. Das ist alles meine Schuld! Die denken, ich hab ihr das Buch über uns gegeben! Ich muss-

Ein Schmerz schießt durch meine rechte Wange und es dauert einen Augenblick, bis ich verstehe, wo er hergekommen ist. Zeus hat mit dem Brüllen aufgehört, atmet aber noch in heftigen Schüben, so dass sich seine Nasenflügel blähen. Seine linke Hand hält immer noch krampfhaft meinen Oberarm fest, doch mit der rechten hält er mich nicht mehr.

„Du kannst ihr nicht mehr helfen“, sagt er bitter und es ist irgendwie sonderbar final.

Sämtliche Hoffnung, die ich eben noch gehabt habe, ist dahin. Ich fühle mich kalt und leer und am liebsten würde ich mich einfach hier an Ort und Stelle auf dem Boden niederlassen. Mich zusammenkauern und anfangen zu heulen.

„Komm.“

Sein Griff um meinen Arm wird fester, als er sich in Bewegung setzt. Innerlich taub folge ich ihm wie in Trance, als er sich von dem brennenden Internat wegbewegt. Sein Griff wird lockerer, als er merkt, dass ich mich nicht mehr wehre. Aus dem Augenwinkel sehe ich die Lichter der Feuerwehr die Allee hinaufeilen. Zu spät. Viel zu spät. Keiner mehr da, den ihr retten könnt.

„Emily?“ dringt Zeus Stimme fast sanft zu mir durch.

Er presst die Lippen aufeinander, so dass oberhalb seines rechten Mundwinkels ein Grübchen erscheint und nickt mit dem Kopf. Weg vom Internat. Aber ich sehe ihn kaum. Nicht wirklich. Ich sehe nur immer und immer wieder Isabel vor mir. Wie sie in Flammen steht. Ich höre ihre Schreie. Es geht einfach nicht mehr weg.

***

Es war hell draußen, stellte ich durch noch geschlossene Augenlider fest, und es roch anders. Waldig. Nach Tanne. Ich hörte auch keine Stadtgeräusche mehr. Und vor allem keine Schreie. Kein Feuer.

„Hey.“

Der Zeus-Typ klang besorgt und erleichtert zugleich. Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung und dann den Klang seiner Schritte auf dem Boden, als er zu mir herüber kam. Ich schlug die Augen auf und wieder einmal schwebten seine blauen Augen über mir. Wieder zerschnitten von schwarzen Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht gefallen waren. Er hatte einen leichten Bart, fiel mir auf. Über der Oberlippe und am Kinn. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und oberhalb seines Mundes, in der Falte, die sich von seiner Nase zu seinem rechten Mundwinkel zog, bildete sich eine Art Grübchen. Dann, als sein Lächeln breiter wurde, bildeten sich auch noch welche in seinen Wangen. Ich wusste nicht, warum zum Teufel ihm nach Lächeln zu Mute war. Mir war es das jedenfalls nicht. Mein Haar, meine ganze Kleidung roch immer noch nach Rauch und prompt kamen die Erinnerungen zurück. Das Geschrei. Die Panik. Die Leute, die aus dem fünften Stock sprangen. Isabel! Das Buch mit den Garde-Geschichten! Mir wurde schlagartig übel und er konnte gerade noch zurückspringen, bevor mein Abendessen von gestern sich über seine Schuhe ergoss.

 

***

Meine Kehle war geschwollen. Mir war kalt. Mein Gesicht brannte – wahrscheinlich von dem Salz meiner Tränen. Das Licht von draußen war jetzt anders. Es musste später sein. Ich machte die Augen auf und versuchte die Übelkeit, die wieder aufkam, zu unterdrücken. Ich richtete mich vorsichtig auf, bis ich auf meinen Unterarmen lehnte und sah mich um. Das Zimmer war hell – Holz, das mit weißer Farbe gestrichen war – und das Sonnenlicht, das durch die Äste der nahestehenden Bäume fiel, tanzte auf der Kommode und den hellen Wänden. Und sofort musste ich an die Flammen denken, die ebenfalls ein Spiel aus Licht und Schatten auf die Bäume und Büsche vor der Schule gezeichnet hatten. Ich schloss die Augen, um die Bilder nicht mehr sehen zu müssen. Aber das half nicht, weil sie sich so sehr in mein Gehirn eingebrannt hatten, dass sie jetzt ganz deutlich auf meinen dunkelroten Augenlidern zu sehen waren. Wie mein eigener kleiner Kinofilm. Untermalt mit den dazugehörigen Geräuschen.

„Emily?“

Ich öffnete die Augen mit einem Ruck und drehte den Kopf. Zeus lehnte angespannt in der Tür und musterte mich, ich hatte ihn nicht mal kommen hören. Es sah fast so aus, als überlege er, ob es sicher war zu mir zu kommen. Ich schluckte noch einmal – was nicht sonderlich viel gegen die Übelkeit machte – und richtete mich zum vollständigen Sitzen auf. Er löste sich jetzt doch von der Tür und kam langsam auf mich zu. Seine hellen Augen musterten mich wie Röntgenstrahlen und ich wandte den Blick ab.

„Wie geht es dir?“ wollte er dann schließlich wissen, als er bei mir angekommen war.

Das Bett ruckelte etwas, als er sich neben meinen Beinen niederließ. Mir war schwindelig, innen drin fühlte ich mich immer noch taub an und mir war übel.

Aber anstatt ihm das zu sagen, fragte ich: „Woher kennen Sie meinen Namen?“

Wieder einmal spielte dieses Lächeln um seinen Mund herum. Das, das dieses Grübchen entstehen ließ.

„Wer weiß denn nicht“, meinte er schulterzuckend – doch es war ziemlich offensichtlich, dass er die Unbekümmertheit nur spielte. „Und nenn mich Matt. Bitte.“

Er lächelte mir aufmunternd zu und ich wusste nicht genau, was ich machen sollte. Ich presste kurz die Lippen aufeinander, nickte, so dass mir das Zimmer vor den Augen tanzte und wisperte ein „Danke“.

„Mh“, brummte er und das Lächeln verschwand, als er anfing mich zu begutachten. „Du siehst reichlich blass aus“, stellte er schließlich fest.

„Nein, alles okay.“

Doch das letzte Wort starb mir auf der Zunge, als er hinter sich griff und einen Teller mit geschnittenen Äpfeln und einem Brötchen darauf zum Vorschein brachte. Ich hatte keine Ahnung, wo er den jetzt so plötzlich hergezaubert hatte. Aber genau genommen war es auch egal, weil sich mir augenblicklich der Magen umdrehte und mir noch schlechter wurde als mir eh schon war. Ich wandte den Kopf ab und versuchte die Übelkeit runterzuschlucken. Was nicht sonderlich gut funktionierte.

„Hier komm, iss was“, forderte er mich freundlich auf und hielt mir den Teller direkt vor die Brust. Ich schüttelte nur den Kopf, was die Sache mit dem Schwindel nicht besser machte. „Hey, nun komm schon.“

Seine Stimme klang lächelnd, freundlich, doch unterschwellig konnte ich ganz genau hören, dass ihn mein Verhalten nervte. Er war es anscheinend nicht gewohnt, dass man nicht das tat, was er sagte. Was, genau genommen, kein Wunder war. Er musste seine Ausbildung vor mindestens 10 Jahren – eher noch mehr – abgeschlossen haben. Ich hatte zu meiner anfänglichen Altersschätzung Abstand genommen und schätzte ihn jetzt auf so 30. Also doppelt so alt wie ich. Nicht, dass er Falten hatte oder so was. Er wirkte nur so… Weiß nicht, erwachsen irgendwie. So, als hätte er eben die Lebenserfahrung, die man mit 25 noch nicht hat. Deswegen 15 Jahre mehr und nicht nur 10. Und wenn er die Ausbildung mit 18 abgeschlossen hatte, so wie es normal für unsereins war, dann gehörte er seit ca. 12 Jahren der Garde an. Und man widerspricht einem Gardisten nun einmal nicht. Egal, ob es ein Steward, ein Spotter oder aber gar ein Sentinel ist.

Jeder in unserer Gesellschaft will Sentinel werden. Das sind die Besten und es werden auch nur die Besten genommen. Spotter zu werden ist auch ganz okay. Man ist auch draußen und spottet eben, wo Gefahr besteht. Aber die, die dann dagegen angehen, das sind eben die Sentinel. Nicht die Spotter. Die unterste Kategorie sind die Stewards. Die sitzen den ganzen Tag lang nur auf ihren vier Buchstaben, sehen Akten durch und stellen sicher, dass alles seine Richtigkeit hat.

Ich wette, er ist Sentinel. Der Gedanke war aufregend und mir schoss das Blut ins Gesicht. Ein Sentinel, der gekommen war, um mich zu retten. Ein Sentinel springt ins lichterloh brennende Internat, um ausgerechnet mich da raus zu holen. Und es war wirklich ziemlich offensichtlich, dass er Sentinel war, da war ich mir ziemlich sicher. Das konnte man schon alleine daran erkennen, wie er sich gab. Von sich überzeugt, immer eine Art Befehlston auf den Lippen – jedenfalls, wenn es darum ging, dass etwas gemacht werden sollte. Und natürlich sein Körperbau. Auch ganz offensichtlich. Athletisch, aber auch mit einer Spur von Feingliedrigkeit. Und dann waren da noch seine Reaktionen. Die waren ebenfalls die eines Sentinels. Obwohl… Alle von uns hatten solche Reaktionen. Das war uns angeboren. Genauso wie die Möglichkeit, die Elemente zu befehligen.

Eigentlich sollen natürlich alle drei – Sentinel, Spotter und Stewards – gleichgestellt sein, aber das ist eben nur theoretisch so. Jeder weiß, dass die Sentinel inoffiziell ganz oben stehen. Fast gleichauf mit unserem Großmeister. Und ist der dann auch noch ein Sentinel, dann olala!

Doch selbst um Steward zu werden, musste man so einiges mitbringen. Man musste nicht nur alle vier Elemente befehligen können, sondern auch akademisch richtig was auf dem Kasten haben. Und wer keine vier Elemente hat, tja, für den heißt es Adieu, Garde. Als Unter-Niveau-Gardist hängt man irgendwie dazwischen. Die Garde will nichts mehr mit einem zu tun haben und in die Welt der Profanen passt man auch nicht, weil man ja über alles Bescheid weiß. Für solche Leute gibt es die Kolonien.

Und wenn man, was echt ganz, ganz selten vorkommt, aus irgendeinem Grund was extrem Bescheuertes anstellt und die Garde einem nicht mehr länger vertraut, dann wird man Deaktiviert. Das ist noch schlimmer als einfach nur so als Unter-Niveau-Gardist in eine der Kolonien verbannt zu werden. Wenn du Deaktiviert wirst, dann werden dir deine Fähigkeiten genommen. Danach wirst du dann trotzdem in die Kolonie gesteckt, weil a) die Garde nichts mehr mit dir zu tun haben will, aber natürlich immer noch ein Auge auf dich haben muss, weil du ja b) unsere Existenz nicht an die Profanen verraten darfst. In die Welt der Profanen hättest du dich eh nicht richtig einleben können. Du weißt eben zu viel. Du passt da nicht rein. Genauso wenig wie die Profanen, die verbotener Weise über uns Bescheid wissen. Die ereilt dasselbe Schicksal. So wie Isabel. Wie es hätte sein sollen. Die hätten sie doch nicht gleich umbringen müssen. Und alle anderen mit ihr! Die hätten sie doch einfach nur-

„Emily.“

Okay, jetzt war es dahin. Das letzte Bisschen Zweifel, dass der Fremde nicht doch vielleicht etwas anderes als ein Sentinel sein konnte. Nur ein Sentinel konnte in einem einzigen Wort eine solche Dringlichkeit, Schärfe und Befehlsgewalt unterbringen. Die waren es nicht anders gewohnt, als dass alles nach ihren Wünschen und Launen sprang. Okay, vielleicht doch nicht so gut, dass er Sentinel ist. Der macht Kleinholz aus dir, wenn du nicht spurst!

„Mh-mh“, versuchte ich es trotzdem und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. „Sie wusste nichts, echt nicht“, sprudelte es aus mir heraus, bevor ich mich zurückhalten konnte. „Und das mit dem Buch, das war ich nicht.“

„Welches Buch?“

„Nichts,“ murmelte ich, nur um keine schlafenden Hunde zu wecken.

Dann ist das alles vielleicht doch nicht `deswegen´ gewesen? Und Isabel ist doch gar nicht `deswegen´ gestorben? Ich verstand nur noch Bahnhof. Zeus/Matt holte mich dann aber wieder ins Hier und Jetzt zurück, als er den Teller direkt unter meine Nase hielt. Oh Gott, bitte, nehmen Sie das verdammte Ding da weg! Ich hörte ihn durch die Nase ausatmen und hörte mehr als dass ich es wirklich sah, wie er den Teller wirklich wieder wegstellte. Ich wagte einen Blick zu ihm, doch er starrte, nachdem er den Teller weggestellt hatte, aus dem Fenster, so als müsste er erst mal die in ihm aufkeimende Wut drosseln.

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