»Warum versuchen Sie nicht hier, Zucker aufzutreiben, Dave?«
»Glauben Sie vielleicht, ich hätte es nicht versucht? Von Klondike City bis zum Hospital haben meine Hunde sich fast die Beine abgelaufen. Es gibt nichts, nicht für Geld und nicht für gute Worte.«
Sie gingen die Straße entlang, an den Speichertüren und an wartenden Hundegespannen vorbei. Die Tiere hatten sich wie Wölfe im Schnee zusammengerollt. Auf diesen Schnee, den ersten des Jahres, hatten die Goldgräber am Fluss gewartet, ehe sie anfingen, Proviant einzukaufen.
»Ist das nicht lächerlich?« fing Dave an. »Da hab’ ich also meine fünfhundert Fuß Goldland am Eldorado und noch was dazu und bin mindestens meine fünf Millionen schwer und kann nicht eine Handvoll Zucker für meinen Kaffee oder meine Grütze kriegen! Jetzt hab’ ich’s satt! Soll das ganze Land zum Teufel geben! Ich verkaufe! Ich mache Schluss. Ich geh’ nach den Staaten zurück!«
»Ich hab’ Sie am Stuartfluss ein ganzes Jahr lang schieres Fleisch essen sehen, und am Tanana haben Sie Lachseingeweide gefressen, wenn ich mich recht erinnere auch Hundefleisch. Sie sind damals nicht weggereist und werden auch diesmal nicht reisen. So gewiss, wie die ›Laura‹ jetzt den Anker aufholt, so gewiss werden Sie hier sterben, Dave. Eines schönen Tages werde ich Sie in einer meiner vorzüglichen Bleikisten verschiffen, und mein Kontor in San Franzisko wird Ihren Nachlass regeln. Sie hängen hier fest, das wissen Sie so gut wie ich.«
Während er sprach, musste er fortwährend Grüße der Vorübergehenden erwidern.
»Wetten, dass ich 1900 in Paris bin!« protestierte der Eldorado-König.
Mit hallenden Glocken grüßte Kapitän McGregor aus dem Steuerhäuschen seinen Reeder. Die ›Laura‹ löste sich vom Ufer. Die Zurückbleibenden winkten mit den Mützen und riefen Reisegrüße, aber die dreihundert Proviantlosen an Bord, die ihrem Traum von Gold den Rücken kehrten, antworteten nicht. Die ›Laura‹ backte durch eine Rinne, die in den Eisrand geschnitten war, hinaus, schwang sich dann in die Strömung, stieß einen letzten schreienden Pfiff aus und fuhr mit Volldampf davon. Nur ein Dutzend Leute blieb an der Brücke zurück, im Kreise um Jacob Welse. Man sprach von der Hungersnot, aber im Ton von Männern. Sogar Dave Harney hörte auf, sein besonders grässliches Los zu verfluchen. Mitten in diesem Gespräch fiel Welses Blick auf einen schwarzen Punkt, der zwischen Treibeis den Fluss herabkam.
»Das ist ja ein Kanu!« rief einer. »Verflucht kitzlige Fahrt!«
Sich drehend und wendend, bald gerudert, bald nur von der Strömung getrieben, kam das Kanu näher. Man erkannte zwei Männer, die es steuerten und beide Hände voll zu tun hatten, um sich die Schollen fernzuhalten. Sie gewannen glücklich das Randeis und ließen sich längs treiben, in der Hoffnung, eine Öffnung zu finden. Dicht vor dem Kanal, der für den Dampfer ins Eis gehauen war, stemmten sie ihre Paddeln tief in die Flut und schossen in den toten Wasserarm.
Viele Hände streckten sich ihnen entgegen, man half ihnen ans Ufer und zog das Boot aufs Trockne. Zwei Postsäcke lagen darin, ein paar Decken, ein schlaffer Proviantsack. Die Männer waren so erfroren, dass sie kaum auf den Füßen stehen konnten.
»Vorwärts, einen heißen Whiskygrog!« schlug Dave Harney vor und wollte gleich mit ihnen losziehen. Aber einer der Männer nahm sich noch Zeit, Jacob Welses Hand zwischen seine froststeifen Tatzen zu nehmen.
»Sie kommt!« sagte er. »Vor einer Stunde haben wir ihr Boot überholt. Sie kann jede Minute um die Ecke kommen. Die Post bringe ich Ihnen später. Erst muss ich was in den Leib kriegen.«
Im Abmarschieren drehte er sich noch einmal um und wies auf den Strom.
»Da ist sie schon! Gerade beim Vorgebirge.«
Von Klondike trieb jetzt eben eine schwere Eismasse in den Hauptstrom hinaus und jagte das Boot aus seiner Fahrt. Man konnte deutlich beobachten, wie die Ruderer mit verzweifelter Anstrengung durch die Schollen stakten, vier Leute standen aufrecht und kämpften um ihr Leben. Dann erkannte man eine dünne Säule blauen Rauches, die aus einem Bord-Öfchen emporstieg, und als das Boot näher kam, sah man, dass das lange Steuerruder von einer Frau geführt wurde. Jacob Welses Augen leuchteten auf: das war seine Tochter! Auf allen Schulen und Hochschulen drüben in der Zivilisation war sie eine Welse geblieben, die Lust an der Gefahr hatte und mit den Eisschollen kämpfte.
Von Reif bedeckt, vielfach beschädigt, stieß das Boot an den Rand des Ufereises. Ein weißer Mann sprang heraus, die Fangleine in der Hand, um das Fahrzeug in die Rinne zu bugsieren. Aber das Ufereis war noch zu dünn, er brach ein. Der Bug des Bootes scherte unter dem Druck einer schweren Eisscholle aus, der Mann tauchte unter dem Stern wieder auf. Die Frau warf sich halben Leibes über die Reling und griff ihn am Kragen.
»Zurück das Boot!« befahl sie mit klarer Stimme den rudernden Indianern. Während sie den Kopf des Mannes über Wasser hielt, warf sie sich mit aller Kraft gegen den Steuerriemen und zwang das Boot in die Rinne. Noch ein paar Ruderschläge, dann stieß es gegen den Uferrand. Dave Harney zog den zähneklappernden Mann aus der eisigen Flut und schickte ihn dem Postboten nach, dorthin, wo es Wärme und heißen Whiskygrog gab.
»Hallo, Vater?«
»Hallo, Frona?«
Welse wusste nicht, ob er das junge Mädchen in den Arm nehmen, oder ob er ihr nur die Hand reichen sollte, um ihr an Land zu helfen. Wie benahm man sich als Vater gegen eine zwanzigjährige Dame? Aber sie war schon herübergesprungen, und während die Männer sich wie auf Befehl nach einer anderen Seite kehrten, fiel sie ihm einfach um den Hals: »Du lieber Daddy!«
Dann stellte Jacob Welse vor: »Meine Tochter!«
Frona grüßte wie ein alter Goldsucher, der zufällig ein junges Mädchen ist, und jeder einzelne hatte das Gefühl, dass ihre Augen gerade in die seinen geblickt hatten.
*
Vance Corliss hatte dummerweise keinen Fotografenapparat mit ins Land geschleppt, sonst hätte er sich jetzt die Zeit damit vertreiben können, Aufnahmen von Frona zu entwickeln und ihre Bilder an die Wand seines Zeltes zu hängen. Aber trotzdem sah er sie immer vor sich, so wie sie ausgesehen hatte, als sie ihm zum Abschied winkte: im flammenden Sonnenlicht vor einer dunklen Felswand, eine strahlende junge Gestalt, lächelnd wie der Morgen und in einem Rahmen von funkelndem Gold. Es wich nicht von ihm, dies Bild, aber immer leidenschaftlicher wurde sein Wunsch, das junge Mädchen in Wirklichkeit wiederzusehen, mit dem er seine Decken geteilt hatte. Sie war neu in seinem Leben, sie glich keiner Frau, der er je begegnet war.
Hinter ihm lag eine wohlbehütete Jugend. Immer hatte er in warmen und gut gelüfteten Zimmern gehaust, immer hatte er in Sonnenschein gebadet, wenn das Wetter schön war, und unter trockenem Dach gesessen, wenn es regnete. Als er alt genug geworden war, einen Beruf zu wählen, hatte er sich brav an die Arbeit gemacht und war auf dem geraden Wege geblieben. Das Ergebnis: ein wohlerzogener, netter junger Mann, über dessen Erscheinen sich die Mütter aller jungen Mädchen freuten, ein kräftiger und gesunder junger Mann, der seine Nervenkraft nicht vergeudet hatte; ein sehr gelehrter junger Mann, der sein Examen als Mineningenieur in Deutschland und ein zweites Examen an der Yale-Universität glänzend bestanden hatte; vor allem ein sehr selbstbewusster junger Mann.
Trotz alledem war Corliss in seiner Lebensform nicht erstarrt. Eines Tages erwachte auch in ihm, der in jungen Jahren schon ein gesättigter Bürger schien, die Unrast seiner Väter, die einst von Europa her als Abenteurer in die Neue Welt gezogen waren. Bei aller Gelehrtheit, aller Beständigkeit, war diese Unrast vielleicht Vances bester Besitz. Sie hatte ihn jetzt nach Alaska geführt, und als Fronas Bild lange genug durch die Winkel seines Zeltes gespukt hatte, in den Sonnenstäubchen bei Tag und im Flackern des Öfchens bei Nacht, hatte sie ihn abermals auf die Beine gebracht.
Den Sack voll Geld, hatte er sich aufgemacht, um Frona einzuholen, über den Pass und dann weiter zu den Seen und Flüssen hinab. Aber so leicht sein Geld die meisten Hindernisse überwand … Frona reiste unter dem Namen Welse, und der galt mehr als Reichtümer. So kam es, dass sie trotz allem vierzehn Tage früher als er in Dawson eintraf.
Nach seiner Ankunft ließ er ein paar Wochen darüber verstreichen, sich ein Haus zu kaufen, sich niederzulassen und seine Empfehlungsbriefe zu präsentieren. Er wollte Frona nicht wie ein Abenteurer entgegentreten. Als der Fluss zugefroren war, machte er seinen ersten Besuch in Jacob Welses Haus. Frau Sheffield, die Gattin des Goldkommissars und eine der großen Damen von Klondike, gab sich die Ehre, ihn einzuführen.
Vance zupfte sich an der Nase … das gab es also in Klondike! Ein Haus mit Dampfheizung, schweren Portieren zwischen Vorraum und Empfangszimmer … und ein Empfangszimmer, das jedem Haus in der Fünften Avenue Ehre gemacht hätte! Seine elchledernen Mokassins glitten über tiefe, weiche Teppiche. Mächtige Tannenscheite prasselten in zwei holländischen Kaminen. Auch ein Flügel war da, und jemand sang.
Frona sprang vom Klavierschemel auf und streckte ihm beide Hände entgegen. Ihr Bild im Sonnenschein war vollkommen gewesen, aber jetzt im flackernden Schein des Feuers wirkte sie noch stärker. Als er ihre Hände in den seinen hielt, stieg ihm das Blut unerklärlich heftig zu Kopfe, und er bekam einen Schwindelanfall.
»Sie kennen sich schon?!« rief Frau Sheffield erstaunt.
»Wir haben uns auf dem Wege von Dyea getroffen«, antwortete Frona. »Wenn man sich auf diesem Wege begegnet ist, vergisst man einander nie.«
»Nein, wie romantisch!« strahlte Frau Sheffield. »Hat er Ihnen das Leben gerettet oder so etwas? Es sieht doch ganz danach aus! Und Sie haben mir kein Wort davon gesagt, Herr Corliss! Erzählt doch endlich, ich sterbe vor Neugier.«
Frona antwortete: »Er hat mir Gastfreundschaft erwiesen, das ist genug. Seine Bratkartoffeln sind erster Klasse, und sein Kaffee ist fabelhaft … wenn man sehr hungrig ist.«
Dann wurde Vance einem gutgewachsenen Leutnant der berittenen Polizei vorgestellt, der am Kamin stand und mit einem lebhaften kleinen Mann das ewige Verpflegungsproblem erörterte.
Es war eine richtige Gesellschaft, ein Fünfuhrtee mit Musik. Der Tee wurde aus chinesischem Porzellan getrunken, lauter wohlgekleidete Leute in weißen Hemden und mit steifen Kragen standen in Gruppen beisammen. Vance fand sich sofort in die gewohnte Atmosphäre und bewegte sich sicher von Gespräch zu Gespräch, sehr zum Neid von Del Bishop, der stocksteif in dem ersten Stuhl klebte, auf den er gestoßen war, und der sich sehr unglücklich fühlte. Er hatte sich nur auf eine Minute hereingewagt, um »Hallo, Miss Frona!« zu sagen, und saß jetzt wie eine Ratte in der Falle. Wie kam man aus einer so vornehmen Gesellschaft wieder heraus? Wie viel Schritte brauchte man, um zur Tür zu kommen? Wie verabschiedete man sich? Gab man reihum die Hand oder verbeugte man sich nur vor Miss Frona? Er war entschlossen, sich nicht vom Platze zu rühren, bis einer der Herren ihm den Abschied vormachte.
Vance hatte den Goldgräber sofort wiedererkannt, obwohl er ihn nur eine Sekunde lang durch seine Zeltöffnung in Happy Camp gesehen hatte. Das war der Mann, dem er es verdankte, dass Fräulein Frona für jene eine Nacht ohne Unterkunft war … Ein braver Mann, der im richtigen Augenblick selbst den Weg verloren hatte.
Bald zog Dave Harney, der Bonanza-König, Vance ins Gespräch. Er fühlte sich verpflichtet, hier so aufzutreten, wie es seinen Millionen entsprach, und obwohl er sein ganzes Leben lang nur die Gastfreundschaft des offenen Zeltes gekannt hatte, bei Fleischtöpfen, in die jeder hineingriff, machte es ihm Freude, einmal im Leben den Salonhelden zu spielen. Wie ein richtiger König hielt er Cercle, indem er an jeden, der ihm in die Quere kam, ein paar huldvolle Worte richtete, meist törichte Fragen, auf die es keine Antwort gab. Dabei sah er verliebt in einen Spiegel, denn so in der Verkleidung eines Stadtherrn hatte er sich selten gesehen. Frona hatte in diesen wenigen Wochen merkwürdige Verheerungen in Dawson angerichtet.
Den Höhepunkt des Nachmittags schuf Harney, als er Frona bat, das rührende Lied »Für dich hab’ ich mein Heim verlassen …« zu singen. Sie kannte es nicht; er ließ sich herbei, ihr die ersten Takte vorzusummen, sodass sie ihn nur zu begleiten brauchte. Dann riss eine Erinnerung an die Jugend ihn hin, er stimmte seinen gewaltigen Bass, der keineswegs wohlklingend war, und tremolierte die rührendsten Stellen, dass es eine Katze erbarmt hätte. Del Bishop, der sich dieser Seele verwandt fühlte, brummte den Refrain mit. Es war ein erhebender Vortrag. Bishop fand endlich den Mut, sich von seinem Stuhl zu erheben und allen Leuten auf die Schulter zu schlagen.
Er kam spät nach Hause und weckte seinen Zeltgenossen: »Großartig war das bei Welses! Das nächste Mal nehme ich dich mit, alter Junge! Also, so gut habe ich mich im Leben noch nicht amüsiert.«
Als Vance sich verabschiedete, flüsterte Frona ihm zu: »Es ist zu dumm, keine drei Worte haben wir miteinander gesprochen …«
*
Nicht ohne Kampf hatte Vance Corliss sich von der Kultur getrennt, in der er aufgewachsen war, als ein ehrenvoller und glänzend bezahlter Posten im wilden Alaska ihn abrief. Jetzt fand er bei Frona etwas von dem Verlorenen wieder. Sie war eine Frau, die in seinen Kreisen und mit seinen geistigen Interessen gelebt hatte. Zugleich aber spürte er aus ihrem Wesen einen reinen, scharfen Duft wie von frischer Erde. Sie hatte studiert, aber sie war kein Blaustrumpf geworden, sondern noch tief verwachsen mit dem Boden, dem sie entsprossen war. Keine Frau auf Erden hätte wie sie die Brücke sein können, die Corliss mit dieser Fremde verband; keine andere hätte es vermocht, ihm die Tage in dieser Verbannung voll und schön zu machen. Wie in ihrer persönlichen Atmosphäre, so fand er auch in ihrem Haus alles, wonach er sich in seiner kahlen Zelle sehnte. Er reiste gern – denn er war jung und abenteuerfroh – mit dem Hundegespann und dem braven Burschen Bishop, den er in seinen Dienst genommen hatte, tief in das Land hinein, kampierte, wie nur irgendein Goldgräber, im Zelt, am Lagerfeuer, aß seinen gebratenen Speck dreimal am Tag und schützte sich die Haut mit Fischtran gegen Gletscherbrand. Aber es war herrlich, in solchen Nächten, wenn die groben, oft zotigen Goldgräberwitze, immer dieselben, erzählt wurden, wenn man seinen Whiskytee aus Blechschalen trank und tage- oder wochenlang keinen Tropfen Wasser an den Körper bekam, still von einem Zimmer zu träumen wie Fronas Empfangsraum. Von den weichen Teppichen, den herrlichen Bildern, dem Flügel und einer jungen Dame, deren kultivierte Persönlichkeit diesen ganzen Raum durchdrang.
Fronas einziger Fehler war in Vances Augen ihr burschikoses Wesen. Aber wenn sie dann lachte und sich an seiner Beschämung weidete, empfand er, dass dies alles eine Art Verkleidung war, die sie gewählt hatte, um zu fühlen, wie sehr er sie verehrte. Prüde war sie nicht, aber was er weibliches Schamgefühl nannte und nicht missen konnte, besaß sie, wie seine Mutter es besessen hatte, und auch in der steten Umgebung der rauesten Männer würde sie es nie verlieren.
Er liebte das Flammen ihres Haares in der Sonne, sein goldenes Funkeln am Kaminfeuer. Er liebte ihren Mund und ihre Wangen. Er liebte ihre zierliche Gestalt mit den federnden Muskeln und war glücklich, wenn er neben ihr gehen durfte, wenn sie ihre Schritte den seinen anpasste. Alles an ihr liebte er.
*
In der Bar, wo es hoch herging, saß Vance Corliss mit Oberst Trethaway zusammen, und mitten im Tohuwabohu trinkender, spielender, singender Männer führten sie ein ernstes Gespräch über wichtige Fragen ihres Berufs. Der Oberst sah mit sechzig Jahren und schlohweißem Haar noch wie ein junger Mann aus. Seine Augen strahlten im klarsten Blau, seine Bewegungen waren voll von jugendlichem Temperament, und sein Geist arbeitete exakt, stets bedient von einem unfehlbaren Gedächtnis. Trethaway war ein alter Mineningenieur und vertrat in Alaska ebenso große amerikanische Interessen wie Corliss englische. Die beiden Männer waren einander in Freundschaft zugetan, und das kam auch ihren Geschäften zugute.
Die Männer ringsherum, es waren wohl hundert, trugen Pelze und Wollzeug. Sie bliesen so viel schweren Tabak in die Luft, dass der Schein von Petroleumlampen und Talglichtern die Wolken kaum durchdrang. Aus mächtigen Öfen prasselte rote und weiße Glut; es war ein richtiges Goldgräber-Eldorado.
Was es an Weiblichkeit in diesem Eldorado gab, Tingeltangelsterne und Artistinnen, wie Vance sie nannte, war stark gefragt. Rasten durfte keines von den armen Mädchen; aus einem Arm in den anderen gerissen, tanzten sie viele, viele Stunden lang auf dem hölzernen Podium, und der Klavierspieler trommelte sich fast den Atem aus den Lungen. Beim Tanz flatterten den Männern Ohrenklappen mit bunten Quasten von den Wolfs- und Biberfellmützen um die Köpfe. Sie gingen in weichen Mokassins, aber die Mädchen trugen dünne Ballschuhe aus Atlas oder Seide, und manche hatten Abendkleider an, wie man sie auch in jedem Ballsaal der zivilisiertesten Welt zeigen konnte.
Im Hauptraum der Bar wurde nur Whisky und Bier getrunken, aber aus einem Nachbarzimmer hörte man das Knallen von Sektpfropfen und das Klirren zarter Kelche, zugleich das Gerassel von beinernen Spielmarken, das Schnurren der Roulette. An manchen Abenden wurden viele Zehntausende Dollars in Goldstaub dort umgesetzt, denn ein Mann, der viele harte Monate im verkrusteten Schlamm gewühlt und einen guten Fund gemacht hat, tobt sich gern bei Spiel, Champagner und Mädels aus.
Als Oberst Trethaway und Vance an den Bartisch traten, um sich die Gläser wieder füllen zu lassen, trafen sie dort auf ein neues Gesicht, das nicht zu übersehen war. Es war ein ungewöhnlich stattlicher und intelligent aussehender Bursche mit einer Wolfsfellmütze. Frauen hätten ihn mindestens hübsch genannt. Auf seinen Wangen glühte eine sympathische Wärme, und aus seinen Augen strahlte eine schöne, sanfte Glut. Der Mann war so aufgeräumt, wie man zur guten Stunde bei guten, starken Getränken nur werden kann. Er führte das große Wort; seine Stimme war ein wenig laut, aber sie klang angenehm. Seine Rede war voll Leben und Witz.
Als er sein Glas hob, passierte es, dass sein Nachbar ihn stieß. Er tat es unabsichtlich, aber so kräftig, dass dem Fremden das Glas entfiel und in Scherben ging. Während er sich den Wein vom Hemd wischte, brummte er ein grobes Wort, das gewiss so wenig böse gemeint war wie zuvor der Stoß, der es hervorgerufen hatte. Aber die Gemüter waren einmal erhitzt, ein »Chechaquo!« fiel nach dem anderen, und als das Schimpfen keinen Spaß mehr machte, bekam der Fremde einen Schlag ans Kinn Er taumelte gegen Vance; der Angreifer stellte sich mit geballten Fäusten vor ihn, um den Raufhandel fortzusetzen, und im Augenblick stand bei jedem der Männer ein Sekundant.
Die Mädchen zogen sich zurück; die Goldgräber hatten im Handumdrehen einen weiten Kreis geschlossen. Oberst Trethaway ernannte sich mit dem Anspruch seiner weißen Haare selbst zum Schiedsrichter, und nun sollte nach allen Gesetzen der edlen Kunst ein Boxkampf vor sich gehen, mehr Sport als Feindschaft.
»Los, gib ihm ein blaues Auge!« wurden die Kämpfer ermutigt, aber der hübsche Bursche in der Wolfsfellmütze und mit den tapferen blauen Augen bot plötzlich ein Bild, das Mitleid erregen konnte. Statt zu kämpfen – und auch ein schlechter Kampf mit faieren Mitteln wäre ihm nicht übelgenommen worden –, duckte er sich, deckte das Gesicht mit beiden Händen, und es war unverkennbar, dass seine Knie bebten.
»So gehen Sie doch in Stellung!« brüllte der Oberst ihn an, aber ebenso gut hätte er einen Schneemann zum Boxer gemacht.
Der Gegner hatte vielleicht Mitleid mit dieser armen Seele, aber er durfte sich, nachdem der Ring einmal abgesteckt war, nicht mit einem Scheinkampf begnügen. »Feiglinge! Schlappschwänze!« tönte es schon ringsum, und so landete er einen saftigen Schlag. Corliss wollte sofort eingreifen; er konnte nicht mit ansehen, wie ein völlig wehrloser Mann misshandelt wurde. Aber der Oberst wies ihn empört aus dem Ring.
»Was denken Sie! Hier habe ich das Kommando!«
Die ganze Angelegenheit sah nur deshalb so brutal aus, weil der Bursche, der mit der Zunge so tapfer gewesen war, sich auch dann nicht zur Wehr setzte, als das Blut ihm schon aus der Nase floss und eines seiner Augen dick verschwollen war. Doch jetzt konnte Corliss sich nicht länger beherrschen. Er warf sich dazwischen und nahm einfach den Angreifer auf sich. Sein Vorstoß kam so unerwartet, dass der Mann sofort zu Boden ging. Im Augenblick zerfiel die ganze Belegschaft der Kneipe in zwei Parteien. So offenkundig es gewesen, dass ein braver Mann gegen einen Feigling stand, waren doch viele der Meinung Vances, man dürfe einen Schwächling nicht zuschanden schlagen, ein Boxkampf müsse zwischen Gleichwertigen geführt werden. Die anderen waren der Meinung, im Ring habe kein Dritter etwas zu suchen. Nun kam eine Schlacht in Gang, in der jeder auf jeden losschlug und keiner nach Regeln fragte. Vance bekam eine steinharte Faust in die Zähne gefeuert und musste zu Boden, direkt neben den Mann, den er selbst eben zur Strecke gebracht hatte, aber dann machte sich Del Bishop ans Geschäft und mähte mit unwiderstehlichen Fäusten rings um ihn die Luft frei. Del Bishop stand seit kurzem in Vances Diensten, aber wie es im Norden unter weißen Männern ist, war er mehr sein Kamerad als sein Angestellter. Er war vielleicht der beste Mann im Saal, wenn es ans Raufen ging; das kam selten vor, aber wenn er zugriff, tat er es mit Schwung.
Oberst Trethaway vergaß seine sechzig Jahre und sein weißes Haar; er vergaß auch, dass er sich das Amt des Schiedsrichters angemaßt hatte. Statt Ordnung zu schaffen, griff er nach einem Schemel und stürzte sich ins dichteste Gewühl. Zwei dienstfreie Sergeanten von der berittenen Polizei schlossen sich ihm an. Der halb ohnmächtige Mann mit der Wolfsfellmütze, der den ganzen Skandal entfacht hatte, wurde in eine geschützte Ecke gezerrt; und jetzt waren lauter Männer unter sich, die einander mit echter Liebe zur Sache Kinnhaken und Rippengerade wuchteten, die ein zerschmettertes Nasenbein hinnahmen, ohne zu mucksen, und für jeden Schlag, den sie einsteckten, frisch befeuert zwei umso bessere zurückgaben.
Am anderen Ende der Bar wurde immer noch Whisky ausgezapft. Im Nebenraum spielte man wieder zum Tanz auf, und die Roulettespieler ließen sich nicht stören.
Corliss war längst wieder auf die Beine gekommen und drosch Seite an Seite mit Bishop auf fremde Schädel und fremde Gesichter ein, kämpfte aus purer Freude am Kampf mit Leuten, die er nicht kannte, und die ihm nie etwas zuleide getan hatten. Plötzlich geriet er mit einem sehnigen Hundetreiber in den Clinch. Aus dem Schlagwechsel wurde ein Ringkampf; die beiden fielen eng umschlungen zwischen all die stampfenden Füße. Corliss spürte den wütenden Atem seines Gegners im Gesicht, dann zuckte ein scharfer Schmerz durch seine Nerven. Der Mann hatte ihm, in diesem Augenblick mehr Wolf als Mensch, die Zähne in die Ohrmuschel gegraben – er ließ nicht los, noch eine Sekunde, dann hatte Vance kein Ohr mehr …
Wie in einer Vision sah er sich plötzlich als ein Gebrandmarkter durchs Leben gehen, ein Herr der Gesellschaft, der Wissenschaft, der bei einer Rauferei sein Ohr verloren hatte – unter den Zähnen eines besessenen Hundetreibers. Das war kein Männerkampf, das war tierische Roheit, gegen die jedes Mittel galt. Aufbrüllend stieß er zwei Finger in die Augen des Wolfsmenschen, bis der Mann vor Schmerz heulte und seine Zähne das Ohr freigaben. Dann lagen sie nebeneinander, fast unbeweglich. Der Kampf tobte über sie weiter, sie wurden mit Füßen getreten, aber das war alles sehr dunkel und fern …
Eine halbe Stunde später herrschte wieder tiefer Friede im Goldgräber-Eldorado. Vance lag, von Oberst Trethaway gepflegt und von Del Bishop notdürftig verbunden, in einem ledernen Klubsessel und spülte das geronnene Blut in seinem Mund mit eiskaltem Whisky herunter. Er war vom Kopf bis zu den Füßen zertrampelt und verdroschen, aber es tat ihm nichts weh, wenigstens jetzt noch nicht; er fühlte sich so gehoben, so zufrieden mit sich selbst wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Spiel ohne Einsatz ist ein fades Vergnügen, aber er hatte um sein Ohr, um sein gutes Aussehen, um einen Teil seines wertvollen, gesunden, stattlichen Körpers gekämpft, und deshalb war es ein guter Kampf gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Kraft seiner im Sport gestählten Glieder gebraucht, zum ersten Mal empfunden, wie Muskel gegen Muskel prallt und das Blut heißer durch die Adern jagt. Er hatte – alle Phasen der Rauferei gingen ihm jetzt erst durch den Sinn – mit einem einzigen Hieb einen Mann zu Boden geschmettert, der gerade einen Steinkrug auf den Schädel des alten Oberst schleudern wollte, und bei dieser Erinnerung durchbebte ihn ungeheure Freude. Ein Hieb, ein einziger Hieb, und der starke Kerl hatte bewegungslos zu seinen Füßen gelegen.
*
Zu viert brachen sie später auf, Corliss, der Oberst, der Mann mit der Wolfsfellmütze und Del Bishop. Schneeklar war die Nacht; vor ihnen lag eine stille, friedliche Straße, und die Luft klirrte von Frost.
»Das war ein Abend! Blut und Schweiß, aber nicht zu wenig!« frohlockte Oberst Trethaway. »Wissen Sie, Corliss, ich bin heute Abend wieder um zwanzig Jahre jünger geworden! Geben Sie mir Ihre Hand. Ich gratuliere Ihnen. Von ganzem Herzen! Die Wahrheit in Ehren, Corliss, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Es war eine Überraschung für mich, direkt eine Überraschung!«
»Für mich selbst war es auch eine Überraschung«, gestand Vance. Jetzt trat bei ihm der Rückschlag ein. Er fühlte sich plötzlich krank und erbärmlich schwach. »Ich bin mir selbst eine Überraschung gewesen, und vor allem Sie, alter Oberst! Wie Sie mit dem Stuhl losgegangen sind …«
»Ich glaube selbst, das hat nicht schlecht ausgesehen. Haben Sie gesehen, so, von oben …« Er focht in die Luft, in die kalte, stille, schöne Luft, und das sah so komisch aus, dass alle vier in ein großes, befreiendes Lachen ausbrachen.
»Wem habe ich zu danken, meine Herren?« fragte der Mann mit der Wolfsfellmütze, den Corliss gerettet hatte. »Mein Name ist St. Vincent, Doktor Gregory St. Vincent.«
Dabei streckte er den anderen seine Hand zum Abschiednehmen hin.
»Gregory St. Vincent?« fragte Del Bishop mit plötzlich erwachtem Interesse.
»Jawohl, und der Ihre?«
»Das geht Sie einen Dreck an!«
Dabei schoss Bishops Faust vor, und Gregory St. Vincent stürzte schwer in den Schnee.
»Sind Sie verrückt, Mann?« brüllte Corliss.
»Das Stinktier! Ich hätt’s ihm noch besser geben sollen! So ein verfluchter Hundeknochen! … Ist schon gut. Lassen Sie mich los. Ich rühr ihn nicht mehr an. Lassen Sie mich. Ich gehe nach Haus. Gute Nacht.«
Als sie Gregory St. Vincent auf die Beine halfen, musste der Oberst noch einmal lachen. Er schämte sich eigentlich darüber, aber später erklärte er: »Eine Viecherei war es. Aber eben doch so komisch und plötzlich.«
Zunächst machte er sein Lachen wieder gut, indem er es übernahm, Herrn Gregory nach Hause zu schleppen und ins Bett zu legen.