Das Boot hob sich auf einer Woge, Mauds Füße berührten den Boden, und ich ließ ihre Hände los. Dann warf ich die Takel los und sprang ihr nach. Ich hatte noch nie im Leben gerudert, aber ich legte die Riemen aus und bekam mit großer Anstrengung das Boot klar von der ›Ghost‹. Dann versuchte ich, das Segel zu setzen. Ich hatte beobachtet, wie die Bootssteurer und Jäger ihre Sprietsegel setzten, aber es war doch mein erster Versuch. Ich brauchte zwanzig Minuten, um zu machen, was sie in vielleicht zweien schafften, aber schließlich war es getan, und, die Ruderpinne in der Hand, ging ich in den Wind.
»Dort liegt Japan«, bemerkte ich, »gerade vor uns.« »Humphrey van Weyden, Sie sind ein mutiger Mann!« sagte sie.
»Nein«, antwortete ich, »aber Sie sind eine mutige Frau.«
Wie auf eine gemeinsame Eingebung wandten wir den Kopf, um noch einen letzten Blick auf die ›Ghost‹ zu werfen. Ihr niedriger Rumpf hob sich und rollte auf der Woge, ihre Segel schimmerten undeutlich in der Nacht, das festgemachte Rad kreischte, dann entschwand sie unsern Blicken, und wir waren allein auf dem dunklen Meer.
Grau und frostig brach der Tag an. Das Boot lag scharf an dem frischen Winde, und der Kompass zeigte, dass wir genau den Kurs nahmen, der uns nach Japan führte. Trotz den Fausthandschuhen waren meine Finger kalt und klamm vom Halten des Steuerruders. Meine Füße brannten vor Frost, und ich hoffte nur, dass die Sonne scheinen sollte.
Vor mir, auf dem Boden des Bootes, lag Maud. Sie wenigstens war warm, denn sie war in dicke Decken eingehüllt. Die oberste hatte ich ihr übers Gesicht gezogen, um sie vor der Nachtkälte zu beschützen, und ich konnte nichts von ihr sehen als die unbestimmten Umrisse ihrer Gestalt und ihr hellbraunes Haar, das, mit Trautropfen wie mit Juwelen besät, unter der Decke hervorlugte.
Lange blickte ich auf sie, ließ meine Augen auf dem wenigen ruhen, das von ihr sichtbar war, wie ein Mann das betrachtet, das ihm das Teuerste auf der Welt ist. So hartnäckig war mein Blick, dass sie sich schließlich unter den Decken regte, der oberste Zipfel wurde zurückgeschlagen, und sie lächelte mich mit Augen an, die noch schwer vom Schlafe waren.
»Guten Morgen, Herr van Weyden«, sagte sie. »Haben Sie schon Land gesichtet?«
»Nein«, antwortete ich, »aber wir nähern uns ihm mit einer Geschwindigkeit von sechs Meilen die Stunde.« Sie blickte mich erschrocken an.
»Aber das sind ja hundertvierundvierzig Meilen in vierundzwanzig Stunden«, fügte ich beruhigend hinzu. Ihre Züge erhellten sich. »Und wie weit ist es?«
»In dieser Richtung liegt Sibirien«, sagte ich und wies nach Westen. »Aber etwa sechshundert Meilen westwärts liegt Japan. Wenn der Wind anhält, werden wir es in fünf Tagen schaffen.«
»Und wenn Sturm kommt? Dann kann sich das Boot wohl nicht halten?«
Sie hatte eine eigene Art, einem in die Augen zu blicken und die Wahrheit zu fordern, und so blickte sie mich auch jetzt an, als sie die Frage stellte.
»Dann müsste es schon sehr stürmen«, sagte ich zögernd.
»Und wenn es sehr stürmt?«
Ich nickte. »Aber es kann auch jederzeit geschehen, dass wir von einem Robbenschoner aufgenommen werden. Dieser Teil des Ozeans wird sehr viel von ihnen befahren.«
»Gott, Sie sind ja ganz durchfroren!« rief sie aus. »Sehen Sie: Sie zittern ja. Sagen Sie nicht nein; Sie zittern. Und ich lag hier warm und sicher wie in Abrahams Schoß!«
»Ich kann nicht einsehen, was es an der Sache geändert hätte, wenn Sie auch durchfroren wären«, lachte ich.
»Ich werde es ja doch, sobald ich steuern gelernt habe, was ja hoffentlich bald der Fall sein wird.«
Sie setzte sich auf und begann, ihre einfache Toilette zu machen. Sie schüttelte ihr Haar auf, dass es ihr in einer braunen Wolke um Gesicht und Schultern fiel. Ihr herrliches braunes Haar! Ich hätte es küssen, es durch meine Finger gleiten lassen, mein Gesicht darin vergraben mögen! Wie verzaubert starrte ich sie an und vergaß das Ruder, bis das Boot in den Wind lief und das flatternde Segel mich an meine Pflicht mahnte. »Warum tragen die Frauen ihr Haar nicht immer offen?« fragte ich. »Es ist doch viel schöner.«
»Wenn es nicht so schrecklich unordentlich würde!« lachte sie. »Schauen Sie, jetzt habe ich eine von meinen kostbaren Haarnadeln verloren!«
Wieder vernachlässigte ich das Boot und ließ das Segel in den Wind brassen, so groß war mein Entzücken an jeder ihrer Bewegungen, als sie jetzt die Nadel zwischen all den Decken suchte. Ich war überrascht und froh, als ich sah, wie weiblich sie war, denn in meiner Vorstellung hatte ich fast ein göttliches, gänzlich unnahbares Wesen aus ihr gemacht. So begrüßte ich denn mit Freuden die kleinen Züge, die sie doch alles in allem als echtes Weib offenbarten, wie zum Beispiel die Kopfbewegung, mit der sie die Wolke ihres Haares zurückwarf, und das Suchen nach der Haarnadel.
Mit einem reizenden kleinen Schrei fand sie die Nadel, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Steuerruder zu. Ich versuchte, das Ruder mit Hilfe eines Keils festzumachen, und das Boot hielt seinen Kurs ganz gut ohne meine Hilfe. Nur gelegentlich kam es zu dicht an den Wind oder fiel etwas ab, aber jedes Mal richtete es sich von selber wieder und benahm sich überhaupt recht befriedigend.
»Und nun wollen wir frühstücken«, sagte ich. »Zunächst aber müssen Sie sich etwas wärmer kleiden.« Ich suchte ein neues Hemd hervor, das aus demselben Stoff wie die Decken gemacht war. Ich kannte das Gewebe und wusste, dass es wasserdicht war und selbst bei stundenlangem Regen keine Feuchtigkeit durchließ. Als sie es übergestreift hatte, vertauschte ich ihre Knabenmütze gegen eine Männerkappe, die groß genug war, ihr Haar zu bedecken, und die, wenn die Klappen heruntergeschlagen wurden, ihr ganz über Ohren und Hals ging. Die Wirkung war bezaubernd. Nichts vermochte das köstliche Oval, die fast klassischen Linien, die wie mit dem Pinsel gezogenen Brauen, die großen braunen Augen mit ihrem klaren, ruhigen Blick zu zerstören.
Ein etwas stärkerer Stoß traf uns, als wir gerade einen Wogenkamm passierten. Das Boot legte sich soviel über, dass der Rand der Reling die Oberfläche streifte und wir etwa eine Pütze Wasser übernahmen. Ich war gerade dabei, eine Dose mit Zunge zu öffnen. Ich ließ sie fallen, sprang an die Schoot und warf sie gerade noch im rechten Augenblick hinüber. Das Segel schlug und flatterte, und das Boot kam klar. Wenige Minuten später hatte ich es wieder in den Kurs gebracht und konnte die Vorbereitungen zum Frühstück wieder aufnehmen.
»Es funktioniert, wie es scheint, sehr gut, wenn ich auch in seemännischen Fragen nicht sehr erfahren bin«, sagte sie und nickte beifällig mit dem Kopfe nach meiner Steuervorrichtung.
»Aber es geht nur, solange wir mit dem Winde segeln«, erklärte ich. »Wenn wir den Wind dwars haben oder kreuzen müssen, muss ich doch steuern.«
»Ich muss gestehen, dass mir Ihre technischen Ausdrücke fremd sind«, sagte sie. »Aber ich verstehe Ihre Schlussfolgerung und bin nicht gerade froh darüber. Sie können doch nicht ununterbrochen Tag und Nacht steuern. Sie werden mir also nach dem Frühstück meine erste Unterrichtsstunde erteilen. Und dann werden Sie sich hinlegen und schlafen. Wir werden Wachen bilden wie auf einem Schiff.«
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll«, wandte ich ein. »Ich bin ja selbst erst Schüler. Als Sie sich mir anvertrauten, haben Sie wohl kaum bedacht, dass ich keine Erfahrung habe. Es ist das erstemal, dass ich mich überhaupt in einem kleinen Boote befinde.«
»Dann müssen wir es gemeinsam lernen, Käptn. Und da Sie einen Vorsprung von einer Nacht haben, werden Sie mich lehren, was Sie unterdessen gelernt haben. Und nun das Frühstück! Die Luft macht hungrig!« »Kaffee gibt es nicht!« sagte ich bedauernd und reichte ihr mit Butter bestrichenen Zwieback und eine Scheibe Zunge. »Und es wird keinen Tee, keine Suppe und überhaupt nichts Warmes geben, bis wir irgendwo an Land gekommen sind.«
Nach einem einfachen Frühstück, das durch eine Tasse kalten Wassers gekrönt wurde, erhielt Maud ihre erste Unterrichtsstunde im Steuern. Während ich sie unterwies, lernte ich selbst ein gut Teil; ich wandte die Kenntnisse an, die ich mir durch das Segeln der ›Ghost‹ und das Beobachten der Bootssteuerer angeeignet hatte. Maud war eine gelehrige Schülerin und lernte bald, den Kurs zu halten, vor den Windstößen zu luven und im Notfall die Schoot hinüberzuwerfen.
Als sie von der Arbeit offenbar übermüdet war, überließ sie mir wieder das Ruder Ich hatte die Decken zusammengelegt, aber sie breitete sie jetzt wieder auf dem Boden aus. Als das geschehen war, sagte sie:
»So, Käptn, jetzt gehen Sie in die Koje. Und Sie werden bis zum zweiten Frühstück schlafen – bis zum Mittagessen«, verbesserte sie sich, indem sie an die Zeiteinteilung auf der ›Ghost‹ dachte.
Was sollte ich tun? Sie bestand darauf und sagte »Bitte, bitte!«, worauf ich ihr das Ruder überließ und gehorchte. Ich hatte ein wundersames Gefühl, als ich in das Bett kroch, dass sie mir mit ihren Händen bereitet hatte. Die Ruhe und Selbstbeherrschung, die einen so bedeutsamen Teil ihres Wesens ausmachten, schienen sich den Decken mitgeteilt zu haben. Ich sank in eine sanfte Schläfrigkeit und Zufriedenheit. Das feine Oval mit den braunen Augen in dem Rahmen der Fischermütze wiegte sich vor dem Hintergrund bald grauer Wolken und bald grauer Wogen – dann wusste ich, dass ich geschlafen hatte.
Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte sieben Stunden geschlafen. Und sie hatte sieben gesteuert! Als ich das Ruder nahm, musste ich ihr die gekrampften Finger öffnen. All ihr bisschen Kraft war erschöpft, und sie war nicht einmal imstande, sich von ihrem Platz zu bewegen. Ich musste die Schoot fahren lassen, um ihr in das warme Nest von Decken zu helfen und ihre Hände und Arme zu reiben.
»Ich bin so müde!« sagte sie; ihr Atem ging schnell, und sie ließ ihren Kopf mit einem Seufzer sinken.
Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder auf. »Jetzt schelten Sie aber nicht, wagen Sie nicht zu schelten«, rief sie mit lustigem Trotz.
»Ich hoffe, dass ich kein böses Gesicht mache«, sagte ich ernst, »denn ich versichere Ihnen, dass ich nicht im geringsten ärgerlich bin.«
»Nein«, meinte sie nachdenklich. »Es sieht nur vorwurfsvoll aus.«
»Dann ist es ein ehrliches Gesicht und drückt nur aus, was ich fühle. Sie haben unrecht sowohl gegen sich selbst wie gegen mich gehandelt. Wie soll ich in Zukunft Vertrauen zu Ihnen haben?«
Sie sah ganz reuevoll aus. »Ich werde brav sein«, sagte sie wie ein unartiges Kind. »Ich verspreche –« »Zu gehorchen, wie ein Matrose seinem Kapitän gehorcht?«
»Ja«, sagte sie. »Es war dumm von mir, ich weiß.« »Dann müssen Sie mir etwas versprechen«, meinte ich. »Gern.«
»Sie dürfen nicht zu oft ›Bitte, bitte!‹ sagen, denn sonst untergraben Sie meine Autorität.«
Sie lachte belustigt. Auch sie hatte die Macht ihres »Bitte, bitte!« bemerkt.
»Das Wort ist schön – –«, begann ich.
»Aber ich darf es nicht ausnutzen«, unterbrach sie mich.
Dann lachte sie müde und ließ den Kopf wieder zurücksinken. Ich überließ das Ruder sich selbst, um ihre Füße in die Decken zu wickeln und ihr einen Zipfel über das Gesicht zu ziehen. Ach, sie war nicht kräftig! Ich sah mit Besorgnis nach Südwest und dachte an die sechshundert Meilen, die mit ihrer Mühsal vor uns lagen – –, ach, wenn es nur nichts Schlimmeres als Mühsal werden sollte. Auf diesem Meere konnte jederzeit ein vernichtender Sturm aufkommen. Und doch fürchtete ich mich nicht. Ich setzte nicht viel Vertrauen auf die Zukunft, war sogar sehr zweifelhaft, und doch wurde ich nicht von Furcht übermannt. »Es muss gut gehen, es muss gut gehen!« – Das wiederholte ich mir immer wieder.
Am Nachmittag frischte der Wind wieder auf, die See wurde unruhiger und stellte mich und das Boot auf eine harte Probe. Aber der Proviant und die neun Wasserfässer waren ein guter Ballast, der das Boot in den Stand setzte, See und Wind zu trotzen, und ich hielt das Segel, solange ich es wagte. Dann holte ich es ein, beschlug es, und wir liefen weiter.
Einige Stunden später sichtete ich den Rauch eines Dampfers am Horizont in Lee. Es musste meiner Ansicht nach entweder ein russischer Kreuzer oder, wahrscheinlicher, die ›Macedonia‹, sein, die noch auf der Suche nach der ›Ghost‹ war. Die Sonne war den ganzen Tag nicht zum Vorschein gekommen, und es war bitterkalt gewesen. Als die Nacht sich herabsenkte, wurden die Wolken dunkler, und der Wind frischte noch mehr auf, sodass Maud und ich mit Fausthandschuhen Abendbrot aßen und ich am Ruder blieb und nur hin und wieder zwischen den Windstößen einen Bissen zu mir nahm.
Inzwischen war es ganz dunkel geworden, Wind und Wogen wurden zu viel für das kleine Fahrzeug, und so holte ich das Segel ein und versuchte, einen Dregg- oder Seeanker zu machen. Ich hatte diese Kunst durch Gespräche mit den Jägern erfahren, und es war eine ganz einfache Sache. Ich legte das Segel zusammen, surrte es gehörig an Mast, Baum, Spriet und zwei Paar Reserveriemen fest und warf es über Bord. Eine Leine verband es mit dem Bug, und da es tief im Wasser lag und dem Winde keinen Widerstand bot, trieb es langsamer als das Boot. Infolgedessen hielt es den Bug in See und Wind – die sicherste Lage, um sich gegen das Kentern zu schützen, wenn Sturzseen kamen.
»Und jetzt?« fragte Maud fröhlich, als die Arbeit vollbracht war und ich mir die Fausthandschuhe wieder anzog.
»Jetzt fahren wir nicht mehr nach Japan«, sagte ich. »Wir treiben in der Richtung nach Südost oder Südsüdost mit einer Schnelligkeit von mindestens zwei Meilen die Stunde.«
»Das sind vierundzwanzig Meilen«, meinte sie, »wenn der Wind die ganze Nacht weht.«
»Und hundertundvierzig, wenn er drei Tage und Nächte anhält.«
»Aber er wird nicht anhalten!« sagte sie zuversichtlich. »Er wird sich drehen und wenden, wie wir ihn brauchen.«
»Das Meer ist der große Treulose.«
»Aber nicht der Wind!« erwiderte sie. Sie wurde ganz beredt, wenn sie auf den prächtigen Passat zu sprechen kam.
»Wenn ich nur daran gedacht hätte, Wolf Larsens Chronometer und Sextanten mitzunehmen«, sagte ich niedergeschlagen. »In einer Richtung segeln und in der anderen treiben, gar nicht zu reden von der Strömung, die einen in einer dritten entführen kann – was dabei herauskommt, kann der größte Rechenkünstler nicht finden. Ehe wir es ahnen, können wir fünfhundert Meilen aus dem Kurs sein.«
Dann bat ich sie um Verzeihung und versprach, nie wieder den Mut zu verlieren. Auf ihren eindringlichen Wunsch überließ ich ihr die Wache bis Mitternacht – es war jetzt neun Uhr –, aber ich hüllte sie in Decken und Ölzeug ein, ehe ich mich niederlegte. Ich schlief nur auf einem Auge. Das Boot hüpfte und stieß, wenn es über die Wellenkämme ging; ich konnte die Seen vorbeischießen hören, und immer wieder spritzte der Schaum ins Boot. Und doch erschien mir die Nacht nicht schlimm, war sie doch nichts im Vergleich mit den Nächten, die ich auf der ›Ghost‹ erlebt hatte, und vielleicht auch nichts im Vergleich mit denen, die wir in dieser Nussschale noch zu überstehen hatten. Ihre Planken waren dreiviertel Zoll stark. Zwischen uns und der Meerestiefe war weniger als ein Zoll Holz.
Und doch – das kann ich immer wieder versichern –, doch fürchtete ich mich nicht. Den Tod, vor dem Wolf Larsen und selbst Thomas Mugridge mir Furcht gemacht hatten, fürchtete ich nicht mehr. Maud Brewster war in mein Leben getreten, und das schien mich verwandelt zu haben. Alles in allem, dachte ich, musste es besser sein, zu lieben, als geliebt zu werden, wenn die Liebe uns etwas so teuer machen konnte, dass wir den Tod nicht mehr fürchteten. Ich konnte mein eigenes Leben über dem anderen vergessen, und ach – so paradox es auch klingen mag –, nie hatte ich so gewünscht zu leben wie gerade jetzt, da ich meinem Leben weniger Wert beimaß als je zuvor. Nie war mein Leben so begründet gewesen – das war mein letzter Gedanke, und dann, im Einschlafen, gab ich mich zufrieden mit dem Versuch, die Nacht zu durchdringen, die den Steven einhüllte, wo, wie ich wusste, Maud zusammengekauert saß und über die schäumende See hinausblickte – jeden Augenblick bereit, mich zu rufen, wenn es not tun sollte.
Es ist unnötig, alle Leiden eingehend zu schildern, welche wir während der vielen Tage zu erdulden hatten, die wir in dem winzigen Boot hierhin und dorthin über den Ozean getrieben wurden. Der schwere Nordwest wehte vierundzwanzig Stunden lang. Dann legte er sich, und nachts sprang er nach Südwest um. Das war uns gerade entgegen; aber ich holte den Seeanker ein, setzte das Segel und nahm einen Kurs, der uns nach Südsüdost führte. Es war kein großer Unterschied, ob wir diese Richtung oder die nach Nordnordwest wählten, die der Wind ebenfalls zuließ, aber die Aussicht auf wärmere Luft im Süden bestimmte meinen Entschluss.
Nach drei Stunden – es war Mitternacht, wie ich noch weiß, und so dunkel, wie ich es auf See noch nie gesehen hatte – wuchs der Südwest zum Sturm, und ich war wieder genötigt, den Seeanker zu werfen.
Der Tag brach an und fand mich erschöpft auf dem weißschäumenden Meere, während das Boot mit der Spitze fast senkrecht gegen den Himmel zeigte. Wir liefen große Gefahr, von den Sturzseen zum Kentern gebracht zu werden. Gischt und Schaum kamen derart über, dass ich unausgesetzt schöpfen musste. Die Decken trieften vor Nässe. Außer Maud war alles nass, sie trug Ölzeug, Gummistiefel und Südwester und war trocken bis auf Gesicht und Hände und ein paar verirrte Locken. Sie löste mich hin und wieder beim Schöpfen ab, arbeitete tapfer und trotzte dem Sturm. Aber alles ist relativ. Es war nichts als ein steifer Wind, aber für uns, die wir in einem kleinen zerbrechlichen Boot ums Leben kämpften, war es ein Sturm.
Kalt und trostlos peitschte der Wind uns das Gesicht, die weißen Seen jagten heulend vorbei, und wir kämpften den ganzen Tag. Die Nacht kam, aber keiner von uns schlief. Der Tag kam, und immer noch peitschte der Wind unsre Gesichter, jagten die weißen Wogen brüllend an uns vorbei. In der zweiten Nacht schlief Maud vor Erschöpfung ein. Ich deckte sie mit Ölzeug und einer Persenning zu. Sie war verhältnismäßig trocken, aber starr vor Kälte. Ich fürchtete, dass sie die Nacht nicht überleben würde, aber wieder brach der Tag an, kalt und trostlos, mit demselben bewölkten Himmel, schneidenden Winde und brüllenden Meere.
Ich hatte achtundvierzig Stunden lang kein Auge geschlossen. Ich war bis aufs Mark durchnässt und durchfroren und mehr tot als lebendig. Mein Körper war steif von Anstrengung und Kälte, und meine Muskeln schmerzten fürchterlich, bei jeder Bewegung litt ich die schrecklichsten Qualen, und ich musste mich unaufhörlich bewegen. Und dabei wurden wir immer weiter nach Nordosten getrieben, immer weiter fort von Japan und nach der öden Beringsee.
Aber noch lebten wir und hatten unser Boot, obwohl der Wind andauernd mit unverminderter Stärke wehte. Am Abend des dritten Tages nahm er sogar noch etwas zu. Der Bug tauchte in einen Wogenkamm, und das Boot füllte sich zu einem Viertel mit Wasser. Ich schöpfte wie wahnsinnig. Die Gefahr, noch eine See überzubekommen, wurde außerordentlich erhöht durch den Umstand, dass das Wasser das Boot niederpresste und seine Schwimmfähigkeit verminderte. Und noch eine solche See hieß das Ende. Als ich das Boot wieder trocken hatte, sah ich mich genötigt, Maud die Persenning wegzunehmen und sie quer über dem Bug zu befestigen. Es war ein Glück, dass ich es tat, und obgleich wir in den nächsten Stunden dreimal mit dem Bug tauchten, nahmen wir kein Wasser über.
Maud befand sich in einem kläglichen Zustand. Sie saß zusammengekauert auf dem Boden des Bootes, ihre Lippen waren blau, ihr graues Gesicht zeigte deutlich, welche Qualen sie litt. Aber ihre Augen sahen mich beständig mit ihrem tapferen Blick an, und kein Wort der Entmutigung kam über ihre Lippen.
In dieser Nacht muss der Sturm seinen Höhepunkt erreicht haben, aber ich achtete seiner nicht. Auf dem Achtersitz übermannten mich Müdigkeit und Schmerzen, und ich schlief ein.
Am Morgen des vierten Tages war der Sturm zu einem leisen Hauch gesunken, die See beruhigte sich, und die Sonne schien auf uns herab. Oh, diese gesegnete Sonne! Wie wir unsere armseligen Körper in ihrer köstlichen Wärme badeten! Wir lebten auf wie Käfer und Gewürm nach einem Sturm. Wir lächelten wieder, sagten lustige Dinge und erörterten hoffnungsvoll unsere Lage, Tatsächlich war sie schlimmer als je. Wir waren weiter von Japan entfernt als in der Nacht, da wir die ›Ghost‹ verlassen hatten. Dazu konnte ich Längen- und Breitengrade nur ganz ungefähr erraten. Wenn ich annahm, dass wir in den siebzig Stunden, die der Sturm gedauert hatte, zwei Meilen in der Stunde gemacht hatten, mussten wir mindestens hundertundfünfzig Meilen nach Nordost getrieben sein. Stimmte diese Berechnung aber? Es konnten ebenso gut vier wie zwei Meilen in der Stunde gewesen sein! Dann waren wir noch hundertundfünfzig Meilen weiter in der falschen Richtung gekommen.
Wo wir uns befanden, wusste ich nicht, sehr wahrscheinlich aber in der Nähe der ›Ghost‹. Rings um uns her gab es Robben, und ich erwartete jeden Augenblick, einen Robbenschoner auftauchen zu sehen. Am Nachmittag, als der Nordwest wieder aufgekommen war, sichteten wir einen. Aber das fremde Fahrzeug verlor sich bald hinter dem Horizont, und wir waren wieder allein auf dem weiten Meere.
Es kamen Nebeltage, an denen selbst Maud den Mut verlor und keine frohen Worte mehr über ihre Lippen kamen, Tage mit Windstille, da wir auf der unermesslichen Meeresfläche dahintrieben, bedrückt von ihrer Größe und voller Staunen über das Wunder, dass wir in unserem winzigen Boot noch lebten und um unser Leben kämpften; Tage mit Hagel, Wind und Schneegestöber, an denen nichts uns warmzuhalten vermochte; Tage mit feinem Sprühregen, an denen wir unsere Wasserfässer von dem tropfenden Segel zu füllen versuchten.
Und immer mehr lobte ich Maud. Obwohl ich mich tausendmal bezwingen musste, um ihr nicht meine Liebe zu erklären, wusste ich doch, dass dies nicht der Zeitpunkt für eine solche Erklärung war. Wenn aus keinem anderen Grunde, so schon allein deshalb, weil die Frau, die ich liebte, sich unter meinem Schutz befand. So schwierig die ganze Lage auch war, schmeichelte ich mir doch, meine Liebe durch kein Zeichen zu verraten. Wir waren gute Kameraden und wurden es mit jedem Tage mehr.
Eines überraschte mich an ihr: ihr unerschütterlicher Mut. Das furchtbare Meer, das zerbrechliche Boot, Stürme, Leiden und Einsamkeit – alles das würde genügt haben, eine kräftigere Frau zu erschrecken, aber es schien keinen Eindruck zu machen auf sie, die das Leben nur von seiner lichtesten Seite kennengelernt hatte, und die trotz ihrer hohen Künstlerschaft, ihrem feurigen Temperament und ihrem erhabenen Geiste doch sanft und zart war. Und doch stimmte das nicht ganz. Sie fürchtete sich wohl, aber sie überwand ihre Furcht durch ihren moralischen Mut. Wohl war ihr Fleisch schwach. Aber ihr Geist, diese ätherische Lebensessenz, ruhig wie ihre Augen und sicher seiner Fortdauer im Universum, beherrschte das Fleisch.
Wieder kamen Sturmtage, Tage und Nächte des Sturmes, an denen uns der Ozean mit seinen brüllenden weißen Schaumwipfeln bedrohte und der Wind unser ringendes Boot mit Titanenfäusten packte. Und immer weiter wurden wir geschleudert, immer weiter nach Nordosten. In einem solchen Sturm, dem schlimmsten, den wir überhaupt erlebt hatten, warf ich zufällig einen Blick nach Lee. Was ich sah, konnte ich zunächst kaum glauben. Diese schreckensvollen, schlaflosen Tage und Nächte hatten mich zweifellos wirr gemacht. Ich blickte auf Maud, um mich von der Wirklichkeit von Zeit und Raum zu überzeugen. Der Anblick ihrer lieben, feuchten Wangen, ihres fliegenden Haares und ihrer tapferen braunen Augen bewies mir, dass meine Augen gesund waren. Wieder wandte ich den Blick leewärts, und wieder sah ich den vorspringenden Felsen, schwarz, hoch und nackt, die rasende Brandung, die sich an seinem Fuße brach und ihren Gischt hoch hinaufschleuderte, und die schwarze, unheilverkündende Küstenlinie, die, von einem mächtigen weißen Gürtel umgeben, nach Südwesten lief.
»Maud«, sagte ich, »Maud!«
Sie wandte den Kopf und schaute.
»Es kann doch nicht Alaska sein!« rief sie.
»Ach nein«, antwortete ich und fragte: »Können Sie schwimmen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Dann müssen wir eben an Land, ohne zu schwimmen. Es muss ja irgendwo eine Lücke zwischen den Klippen sein, durch die wir mit dem Boot hineinkönnen. Aber es gilt, schnell zu sein, sehr schnell – und aufzupassen.«
Ich sprach mit einer Zuversicht, die ich, wie sie wohl wusste, nicht besaß, denn sie blickte mich mit ihrem ruhigen Blick an und sagte:
»Ich habe Ihnen noch nicht gedankt für all das, was Sie für mich getan haben, aber …«
Sie zögerte, als wäre sie im Zweifel, wie sie ihre Dankbarkeit am besten in Worte kleiden sollte.
»Nun?« sagte ich hart, denn es war mir nicht recht, dass sie mir danken wollte.
»Sie könnten mir gern ein wenig helfen«, lächelte sie. »Ihre Verpflichtungen anzuerkennen, ehe Sie sterben? Sicher nicht. Wir werden nicht sterben. Wir werden auf dieser Insel landen und es warm und gemütlich haben, ehe der Tag vergeht.«
Ich sprach fest, glaubte aber selbst kein Wort davon. Aber es war nicht die Furcht, die mich lügen ließ. Ich fühlte keine Furcht, obgleich ich sicher war, den Tod in der kochenden Brandung zwischen diesen Felsen zu finden, denen wir uns rasch näherten. Es war unmöglich, Segel zu setzen und von der Küste abzukommen. Der Wind hätte das Boot sofort zum Kentern gebracht, es würde vollgeschlagen sein, sobald wir in ein Wellental gesunken wären; zudem schwamm das Segel, an die Reserveriemen gesurrt, als Seeanker vor uns. Wie gesagt: Furcht, dem Tode dort, wenige hundert Schritte leewärts, zu begegnen, spürte ich nicht, aber entsetzlich war mir der Gedanke, dass Maud sterben sollte. Meine verfluchte Fantasie sah sie schon an den Felsen zerschellt und zerschmettert! Ich versuchte, mich zu dem Glauben zu zwingen, dass wir sicher landen würden, und so sprach ich denn nicht aus, was ich wirklich glaubte, sondern was ich gern geglaubt hätte. Ich schreckte zurück vor dem Gedanken an diesen furchtbaren Tod, und einen Augenblick spürte ich den Wunsch, Maud in meine Arme zu nehmen, ihr meine Liebe zu erklären, umschlungen mit ihr den letzten Kampf auszufechten und zu sterben.
Instinktiv rückten wir auf dem Boden des Bootes enger zusammen. Ich fühlte, wie sich ihre Hand nach der meinen ausstreckte. Und so erwarteten wir wortlos das Ende. Wir waren nicht weit von der Linie, die der Wind mit der westlichen Ecke des Vorgebirges bildete, und ich beobachtete sie in der Hoffnung, dass irgendeine Strömung uns packen und vorbeiführen sollte, ehe wir die Brandung erreichten.
»Wir werden schon klar kommen«, sagte ich mit einer Zuversicht, die aber weder mich noch sie täuschte.
»Bei Gott, wir kommen klar!« rief ich fünf Minuten später.
Ich hatte hinter dem Vorgebirge eine Landzunge gesichtet, und als wir weit genug waren, konnten wir deutlich die Umrisse einer Bucht sehen, die tief ins Land hineinschnitt. Gleichzeitig hörten wir ein andauerndes, ohrenbetäubendes Gebrüll. Es glich fernem Donner und kam aus Lee, übertönte das Brausen der Brandung und fuhr dem Sturm geradeswegs in die Zähne.