Zwischen den Rassen

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Ganz leicht mach­te nun die Heran­ge­wach­se­ne sich los: so leicht, als habe sie sich in­ner­lich nie bei Er­nes­te ge­fühlt! Zwar durf­te man nicht un­ge­recht wer­den: sie hat­te das Le­ben vor sich und wand­te sich ihm zu; und dann war wirk­lich viel Frem­des in ihr, das man nicht be­griff und das ei­nem Sor­ge ma­chen konn­te. Schon im­mer war Er­nes­te ängst­lich be­rührt, bei­na­he ein­ge­schüch­tert wor­den durch die An­zei­chen der frem­den Her­kunft bei Lola. Die auf­fal­len­den Äu­ße­run­gen des Kin­des zu­erst, sei­ne ei­gen­ar­ti­gen Ver­ge­hen und dass es ei­gent­lich nie­mals Ka­me­ra­den ge­habt hat­te. Dann sei­ne et­was frü­hen klei­nen Ver­liebt­hei­ten; nun, sie wa­ren schwär­me­risch und rein und moch­ten hin­ge­hen. End­lich aber die­se schlim­me Lust nach dem Thea­ter: oh, et­was ganz Schlim­mes war da in Lola ent­stan­den, aus Kei­men, die Er­nes­te trotz al­ler Pfle­ge die­ser See­le nicht hat­te er­sti­cken kön­nen. Wie un­heim­lich ih­r’s da­mals zu Mut ge­we­sen war, und wie kum­mer­schwer sie nun die Ent­frem­dung zwi­schen ih­nen bei­den wach­sen und die Tren­nung sich nä­hern sah!

»Wa­rum ist sie so? Was hat sie mir vor­zu­wer­fen? Denkt sie doch noch ans Thea­ter?« Auch an­de­re Mäd­chen in Lo­las Al­ter, und ge­ra­de die Bes­se­ren, wuss­te Er­nes­te, hat­ten ihre scheu­en und ei­gen­wil­li­gen Zei­ten, stan­den im­mer im Be­griff, in Ohn­macht zu fal­len – dies ge­sch­ah Lola nie – wa­ren schwach, er­reg­bar und tief. Lola aber war gar zu un­er­gründ­lich, und in ih­rer Ver­schlos­sen­heit spür­te man et­was Bit­te­res, Feind­se­li­ges. Hat­te sie zu kla­gen: warum er­öff­ne­te sie sich nicht ih­rer al­ten Freun­din? »Früh ge­nug blei­ben wir al­lein im Le­ben. Noch hat sie eine, der sie al­les ist. Aber die Ju­gend trumpft auf ihre Selbst­stän­dig­keit. Spä­ter wird sie an mich den­ken.« Ge­reizt vom ein­sa­men Grü­beln, war Er­nes­te nahe dar­an, Lola ein recht schlim­mes Spä­ter zu wün­schen, da­mit sie an sie den­ke. Dann wur­den Lo­las Schrit­te ver­nehm­lich, und noch be­vor sie in der Tür stand, hat­te Er­nes­te ihr al­les ab­ge­be­ten.

»Bist du nun ge­nug um­her­ge­lau­fen?« frag­te sie mun­ter. »Setzt du dich nun ge­müt­lich zur al­ten Er­nes­te?«

Da­bei stell­te sie sich ganz mit ih­rer Hä­ke­lei be­schäf­tigt und sprach nur in Pau­sen.

»Weißt du wohl, wor­an ich eben er­in­nert wur­de? An das sei­de­ne Kleid­chen, in dem du da­mals aus Ame­ri­ka kamst. Dies da hat eine ähn­li­che Far­be, und die Är­mel sind auch wie­der so. Was al­les zwi­schen den bei­den Klei­dern liegt, nicht?«

Lola sah mit ei­ner Fal­te zwi­schen den Au­gen vom Buch auf, war­te­te, was sie sol­le, und las wei­ter.

»Du kamst zu ei­ner Zeit, als ich sehr ein­sam und trau­rig war«, sag­te Er­nes­te nach ei­ner Wei­le.

»Be­liebt?« frag­te Lola; und Er­nes­te sprach, trotz ih­rer Scham, den Satz noch ein­mal.

»So?« mach­te Lola, un­ge­dul­dig, weil sie einen Au­gen­blick von sich selbst fort und über je­mand an­de­ren nach­den­ken muss­te.

»Ach ja, du warst das ers­te Jahr im­mer in Trau­er.«

Sie sah noch in die Luft, ob sie wei­ter­fra­gen müs­se. Wozu? Und sie kehr­te zum Buch zu­rück.

»Wenn man so al­lein ge­blie­ben ist, wie ich da­mals, dann ist das Herz vor­be­rei­tet. Drum ge­wann ich dich, die du auch al­lein warst, gleich sehr lieb«, sag­te Er­nes­te ein­fach. Nach ei­ner Pau­se, da Lola sich nicht reg­te:

»Nun, ganz ver­ges­sen wirst du die alte Er­nes­te wohl nie­mals.«

Ein sto­cken­des Selbst­ge­spräch.

»Soll­test du einst ein Kind zu er­zie­hen ha­ben, ja, dann denkst du ge­wiss an mich … Du musst es selbst er­zie­hen … Bei Rous­seau – hier den Emi­le wol­len wir zu­sam­men le­sen – steht fol­gen­des: ›Wenn ein Va­ter Kin­der zeugt und er­nährt, leis­tet er da­mit erst ein Drit­tel sei­ner Auf­ga­be … Wer die Va­ter­pflich­ten nicht er­fül­len kann, hat kein Recht, Va­ter zu wer­den. We­der Ar­mut noch Ar­bei­ten noch mensch­li­che Rück­sich­ten ent­he­ben ihn der Pf­licht, sei­ne Kin­der selbst zu er­näh­ren und zu er­zie­hen. Le­ser, ihr könnt mir glau­ben, je­dem, der ein Herz hat und so hei­li­ge Pf­lich­ten ver­säumt, sage ich vor­aus, dass er über sei­nen Feh­ler lan­ge Zeit bit­te­re Trä­nen ver­gie­ßen und sich nie trös­ten wird.‹«

Er­nes­te sah vom Buch auf. Lola saß blass da und sah sie durch­drin­gend an. Plötz­lich, klar, rasch und ein­tö­nig:

»Meinst du etwa mei­nen Va­ter?«

Er­nes­te öff­ne­te er­schreckt den Mund und konn­te nicht spre­chen. Sie wehr­te mit der Hand ab.

»Meinst du etwa mei­nen Va­ter?« wie­der­hol­te Lola. Ro­sig bis über die Stirn brach­te Er­nes­te her­vor:

»Um Got­tes wil­len, Kind, was fällt dir ein! Ich habe von uns ge­spro­chen, von dir und mir. Ich hal­te dich in mei­nen Ge­dan­ken ja im­mer für mein ei­gen!«

Lola prüf­te sie noch im­mer. Nein, Er­nes­te hat­te wohl nicht an Pai ge­dacht. Wie sie sich auf­reg­te! Welch selt­sa­mer Ton: ich hal­te dich für mein ei­gen. Lola stutz­te; aber dann ver­glich sie un­will­kür­lich das an Er­nes­tes ver­wach­se­nem Kör­per schlechts­it­zen­de Kleid mit ih­rem ei­ge­nen, das sie auch im­mer ver­geb­lich zu­recht­zog, und sie sah weg.

Er­nes­te beug­te sich über ihre Hä­ke­lei und sann er­schüt­tert: »Sie kann glau­ben, dass ich ihr wehe tun will? Ar­mes Kind! Ar­mes Kind!«

Et­was spä­ter stell­te sie eine Fra­ge, und als Lola nicht ver­stan­den hat­te, klopf­te Er­nes­te auf den Tisch und be­merk­te streng:

»Wenn du beim Le­sen die Fin­ger in die Ohren steckst, kannst du mich al­ler­dings nicht ver­ste­hen. Sprich üb­ri­gens fran­zö­sisch!«

Und sie führ­ten zur Übung ein lan­ges, gleich­gül­ti­ges Ge­spräch.

Nein, wahr­haft lie­bens­wer­te We­sen gab es nur auf an­de­ren Ster­nen; in ih­rer Nähe such­te Lola sie nicht. Ei­nes Ta­ges aber fand sie einen jun­gen Vo­gel, der ver­geb­lich ins Ge­büsch zu flat­tern ver­such­te, und nahm den aus dem Nest Ge­fal­le­nen mit nach Hau­se.

»Was ist das über­haupt für ein Tier?« sag­te Er­nes­te.

»Das ist ganz gleich«, er­klär­te Lola. »Ich habe ihn gern.«

»In der Stadt wol­len wir gleich im Buch nach­se­hen.«

»Nein, bit­te nicht! Von wel­cher Gat­tung er ist und al­les üb­ri­ge küm­mert mich nicht. Vi­el­leicht ist er ein klei­ner Frem­der: ich habe ihn gern.«

»Kind, du bist son­der­bar; aber wie du willst.«

Nun saß Lola hal­be Tage mit dem Vo­gel in ih­rem Zim­mer, ließ ihn über ihre Fin­ger stei­gen, auf ihre Schul­ter flat­tern und bot ihm, mit ei­nem Körn­chen zum Pi­cken, ihre Lip­pen. Als er zu flie­gen an­fing, schloss sie das Fens­ter, setz­te ihn vor sich hin auf den Tisch, be­trach­te­te ihn, den Kopf in der Hand, wie er pick­te, eckig den Kopf rück­te, sie an­sah und einen klei­nen hel­len, ein­sa­men Laut aus­stieß, und stell­te sich vor, dies sei ein Kä­fig und sie bei­de sei­en dar­in ein­ge­sperrt.

Zu­rück in der Pen­si­on, sehn­te sie sich kei­nen Au­gen­blick nach ih­rem Wal­de, nach den Ge­wit­tern und der Holz­fäl­ler­hüt­te; sie hat­te ih­ren klei­nen Ge­nos­sen, der zwi­schen den Stä­ben sei­nes Bau­ers in ih­rem Zim­mer auf sie war­te­te. Sie dach­te im­mer an ihn, ließ es sich aber nie an­mer­ken und be­kam ein har­tes, ab­wei­sen­des Ge­sicht, wenn je­mand von ihm sprach.

Nie­mand übte Kri­tik an ih­ren Selt­sam­kei­ten; man konn­te Lola nur an­stau­nen; denn in die­sem Win­ter ver­wan­del­te sie sich und ward schön. Die große Na­tur, der sie im Som­mer sich hin­ge­ge­ben hat­te, schi­en in ihr fort­zu­blü­hen und Eben­maß und Vollen­dung zu wir­ken. Lola tas­te­te nach ih­ren Schul­tern, de­ren Spit­zen nicht mehr zu spü­ren wa­ren, nach ih­ren Glie­dern, die sich form­ten und ihr nicht mehr den Ein­druck mach­ten, als sei­en sie zu lang und schlen­ker­ten lo­cker um­her; und sie frag­te sich mit ge­run­zel­ten Brau­en, was wer­den sol­le. Ihr Schick­sal war doch schon fer­tig ge­we­sen? Auf ein­mal be­fiel sie eine be­täu­ben­de Freu­de, eine neue ent­zücken­de Selbs­t­er­kennt­nis. »Das also bin ich!« Sooft sie konn­te, zog sie sich in ihr Schlaf­zim­mer zu­rück, »um nach mei­nem Vo­gel zu se­hen«; aber sie sah nicht mehr nach ihm, sie sah nur nach sich selbst; und des Abends ging sie frü­her hin­auf als die üb­ri­gen, um al­lein mit ih­rem Spie­gel zu sein. Er zeig­te ihr eine gold­blon­de große Haar­wel­le von nie ge­ahn­ter Weich­heit über ei­ner Stirn, de­ren Höhe nicht mehr auf­fiel, zeig­te ihr so ge­nau und zart hin­ge­zeich­ne­te Brau­en über so warm glän­zen­den Au­gen, so fein ge­füg­te Lip­pen, schmal und feuchtrot; die Wan­gen, die sie noch ein we­nig vol­ler wünsch­te, füll­ten sich ge­nau in der Li­nie, die sie wünsch­te, färb­ten sich, wie sie’s ver­langt hat­te; und war die­se weich ge­bo­ge­ne Nase je­mals häss­lich und zu groß ge­we­sen? Lola er­fuhr, sie kön­ne ein sehr da­men­haf­tes Ge­sicht an­neh­men, das sie fast selbst ver­le­gen mach­te, und, wenn sie das Haar auf­lös­te, ein ganz kind­li­ches. Beim Öff­nen der Blu­se freu­te sie sich auf die schlan­ke, wei­ße Bie­gung ih­res Hal­ses, beim Ab­le­gen des Mie­ders auf ihre Brust. Sie hät­te sich gern ganz ge­se­hen; aber Er­nes­te konn­te ein­tre­ten; und als Lola es den­noch ge­wagt und den Spie­gel auf den Fuß­bo­den ge­stellt hat­te, lag sie gleich dar­auf im rasch ver­dun­kel­ten Zim­mer mit Herz­klop­fen un­ter der De­cke, und ihr war zu­mut, als keh­re sie zu­rück von ei­nem heim­li­chen Aus­gan­ge, sie wuss­te nicht wo­hin.

Wer war so schön und ver­moch­te so viel? Na­tür­lich: jetzt dräng­ten alle her­an, ihre Freun­din­nen zu wer­den! Lola leg­te ih­nen Prü­fun­gen auf, ließ sich einen Ge­gen­stand schen­ken, an dem der an­de­ren viel lag: nur um ihre Macht zu füh­len. Dann gab sie das Ge­schenk zu­rück und sag­te, sie kön­ne nie­man­des Freun­din sein; die Freun­din meh­re­rer am we­nigs­ten. Freund­schaft: ihr sag­te das Wort zu viel. Nach­dem die Ihren sie ver­las­sen hat­ten, konn­te ihr Freund, wenn sie einen hat­te, nur auf ei­nem an­de­ren Ster­ne le­ben, und vie­ler Schmer­zen, ei­nes Le­bens vol­ler Schmer­zen be­durf­te es si­cher­lich, bis sie zu­sam­men­tra­fen. Die Ge­füh­le die­ser Men­schen hier wa­ren zu bil­lig. Lola horch­te nicht mehr arg­wöh­nisch, ob von ihr ge­spro­chen wur­de. Häss­lich und fremd, hat­te sie die Men­schen ge­hasst. Fremd und schön, sah sie von ih­nen weg. Freun­din­nen? Die­se Ber­ta, die­se Gre­te, die sich noch ges­tern Abend um einen Pfann­ku­chen ge­strit­ten hat­ten, bis bei­de wein­ten?

 

Wenn Lola jetzt an einen Auf­satz ge­hen woll­te, fand sie den fer­ti­gen Ent­wurf, von ei­ner Hand, die sie nicht kann­te, schon in ih­rem Heft lie­gen. Von der­sel­ben Hand be­kam sie Brie­fe voll schmach­ten­der Freund­schaft. An­fangs warf sie sie weg; dann spür­te sie Lust, eine Pro­be zu ma­chen. Sie tat kund, sie habe et­was Merk­wür­di­ges, und ver­sam­mel­te alle Pen­sio­nä­rin­nen um sich. Un­ver­mu­tet zog sie einen der Brie­fe her­vor, hielt ihn em­por: »Wer hat das ge­schrie­ben?« und sah da­bei fest in die Ge­sich­ter. Alle reck­ten sich neu­gie­rig, nur das der lan­gen Asta sah nicht den Brief an, son­dern Lola, und blin­zel­te be­fan­gen. Lola steck­te den Brief wie­der ein. »Dan­ke«, sag­te sie und dreh­te sich um.

Am Nach­mit­tag lag zwi­schen ih­ren Schul­bü­chern ein neu­er Brief, dies­mal in Astas Schrift. Asta bat sie, um sechs in die Gar­ten­lau­be zu kom­men, sie wer­de al­les er­fah­ren. Lola war ent­schlos­sen, nicht hin­zu­ge­hen. Als es däm­mer­te, saß sie am Fens­ter ih­res Zim­mers. Dr­un­ten stapf­te Asta, lang und ge­bückt, in Gum­mi­schu­hen durch den Schnee. Lola sah nach­denk­lich zu. Plötz­lich nahm sie ih­ren Man­tel und stieg hin­ab.

»Nun?« frag­te sie und trat un­ver­se­hens hin­ter den Le­bens­bäu­men her­vor. Asta schnell­te von der Bank auf.

»Ver­zeih«, stam­mel­te sie. »Ver­zeih! Ich woll­te dich nicht be­lü­gen, aber im Bei­sein der an­de­ren konn­te ich dir’s nicht sa­gen.«

»Es tut nichts«, ent­geg­ne­te Lola. Die­ser klei­ne ma­ge­re Kopf mit dem dün­nen Haar und der Nase wie bei ei­nem To­ten­schä­del er­barm­te sie. Sie stell­te sich vor, sie hät­te ihn küs­sen sol­len, und ihr schau­der­te. Noch mehr aber fürch­te­te sie sich da­vor, die­sem We­sen weh zu tun.

»Wer hat denn für dich ge­schrie­ben?« frag­te sie sanft. Asta schlug die Au­gen nie­der.

»Ich habe mei­ne Brie­fe ei­nem der Dienst­mäd­chen mit­ge­ge­ben, und sie hat sie in der Stadt ab­schrei­ben las­sen.«

Sie at­me­te be­klom­men.

»Wie du gü­tig bist, Lola, dass du kommst. Ich ver­die­ne das nicht.«

»Wa­rum nicht?« frag­te Lola, und fand ihre Fra­ge nicht ganz ehr­lich.

»Weil du so schön bist und so rei­zend. Alle möch­ten dich zur Freun­din. Wie kom­me ge­ra­de ich dazu, mich dir auf­zu­drän­gen. Aber sieh, ich kann nicht an­ders. Ich weiß be­stimmt, dass kein an­de­rer Mensch mir je so na­he­ste­hen wird wie du. Ich habe dar­über nach­ge­dacht, ob ich mei­ne Mut­ter und mei­nen klei­nen Bru­der noch lieb­ha­be. Aber wenn ich an dich den­ke – und wann däch­te ich nicht an dich? – dann habe ich Mut­ter und Bru­der nicht mehr lieb. Hörst du? … nicht mehr lieb.«

»Was willst du denn von mir?«

»O! Lola!«

Und Lola, die nicht ab­zu­weh­ren wag­te, fühl­te sich um­schlun­gen. Sie bog den Kopf zu­rück, um aus Astas Atem zu ent­kom­men; aber ein paar Hän­de schli­chen fie­ber­haft um ih­ren Leib, un­ter ih­rer Brust hin.

»Fühlst du gar nicht, was ich mei­ne? Gar nicht?« Vor­wurfs­voll und fle­hend.

»Gar nicht!« sag­te Lola mit Nach­druck; denn Angst stieg in ihr auf. Im Be­griff, sich los­zu­ma­chen, mein­te sie ein Ki­chern zu hö­ren. Der Ge­dan­ke an Lau­scher em­pör­te sie. »Ich bin nicht ge­kom­men«, dach­te sie, »die­se hier zu ver­höh­nen. Ich habe nichts mit ihr ge­mein; aber auf Sei­ten der an­de­ren ste­he ich erst recht nicht.« Sie sag­te laut, wie für Zu­hö­rer:

»Aber dies kann ich trotz­dem tun.«

Und rasch küss­te sie Asta auf die Wan­ge. Wie sie ging, schluchz­te es hin­ter ihr auf. Oft noch hör­te sie, wenn sie al­lein war, dies Schluch­zen und spür­te wie­der die Angst, die die fie­ber­haf­ten Hän­de je­nes Mäd­chens ihr bei­ge­bracht hat­ten. Sie be­griff nicht, warum.

Jen­ny klär­te sie auf. Os­tern war nahe, und Jen­ny, die kon­fir­miert wer­den soll­te, ging im Voraus mit ei­nem fei­er­li­chen Ge­sicht um­her. Es war schon so rot und nur noch we­nig klei­ner als das ih­rer Mut­ter. Wie sie Lola einst im Gar­ten traf, fass­te sie sie un­ter den Arm und sag­te:

»Lola, du bist manch­mal recht un­vor­sich­tig; ich als die äl­te­re möch­te dich war­nen. Ja, sieh mich nur an! Du kannst von Glück sa­gen, dass ich neu­lich hin­ter den Le­bens­bäu­men stand. Wenn Asta mich nicht hät­te hus­ten hö­ren, wer weiß, was sie mit dir an­ge­stellt hät­te.«

»Du hast nicht ge­hus­tet, du hast ge­ki­chert; und Asta hat es gar nicht ge­hört.«

»Du glaubst nicht, wie schlecht man­che Mäd­chen sind. Und die Her­ren …«

Ein In­stinkt be­nach­rich­tig­te Lola, es kom­me et­was Pein­li­ches, und sie woll­te ein­fal­len. Aber Jen­ny war nicht auf­zu­hal­ten. Sie hat­te kei­ne Zeit zu ver­lie­ren: bald ver­ließ sie die Pen­si­on. Sie bot Lola nicht mehr an, sie mit ei­nem Lei­er­kas­ten­mann be­kannt zu ma­chen; sol­che Scher­ze la­gen hin­ter ihr. Aber Lo­las Nai­vi­tät war doch nicht mit an­zu­se­hen.

»Ich glau­be dir einen wirk­li­chen Dienst ge­leis­tet zu ha­ben«; so schloss sie ihre deut­li­chen Aus­füh­run­gen.

»Nun ja«, mach­te Lola und hob die Schul­tern. Ihr war be­klom­men; umso hoch­mü­ti­ger sag­te sie sich: »Ich habe mir die Men­schen ganz rich­tig vor­ge­stellt, dies setzt al­lem die Kro­ne auf.« Sie äu­ßer­te:

»Du ent­schul­digst wohl, ich muss mei­nem Vo­gel Fut­ter ge­ben.«

Aber den Vo­gel, der sie lang­weil­te, ver­gaß sie gleich wie­der und dach­te ei­ni­ge Tage an nichts so in­stän­dig wie an Jen­nys Auf­schlüs­se. Sie rie­fen fan­tas­ti­sche Bil­der her­vor; und so­oft Lola sich über die­sen Vor­stel­lun­gen er­tapp­te, ekel­ten sie sie. All­mäh­lich zo­gen sie sich zu­rück und war­fen nur manch­mal noch me­lan­cho­li­sche Schat­ten her­auf. »Ach, dass es kei­ne rei­ne Lie­be gibt.«

Ein Brief von Pai brach­te sie da­von ab. Pai schrieb aus Ar­gen­ti­ni­en, wo­hin sei­ne Ge­schäf­te ihn ge­nö­tigt hat­ten.

»Es geht al­les nach Wunsch, und ich darf hof­fen, mich bald an dem Ziel zu se­hen, das ich mir vor­ge­steckt habe: die Mei­nen si­cher­zu­stel­len und sie in mei­nem Lan­de zu ver­ei­ni­gen. Vo­rerst den­ke ich Dich, mein Kind, in nächs­ter Zu­kunft dort auf­zu­su­chen. Nur eine kur­ze Rück­kehr nach Rio ist ge­bo­ten.«

»Und dort hält dann wie­der ir­gen­det­was ihn fest«, dach­te Lola. »Das ken­nen wir doch.«

Sie glaub­te Pai nicht mehr. Vi­el­leicht hat­te er die bes­ten Ab­sich­ten; aber so vie­les war ihm wich­ti­ger als Lola und lenk­te ihn von ihr ab. Nach all den Jah­ren konn­te er sich höchs­tens sa­gen »Ich habe eine Toch­ter« und den Ge­dan­ken an sei­ne Toch­ter gern ha­ben. Lola gern ha­ben konn­te er schwer­lich: kann­te er sie doch gar nicht.

»Nicht von Be­lang«; da­mit leg­te sie den Brief zu den üb­ri­gen. Aber bei der Ar­beit er­tapp­te sie sich plötz­lich auf ei­ner freu­di­gen Un­ru­he und dar­auf, dass sie schon wäh­rend der gan­zen letz­ten Sei­te nur an Pais Kom­men ge­dacht und al­les falsch ge­macht hat­te. Ver­ge­bens er­mahn­te sie sich: »Als ich klein war, hat Pai sehr schlecht an mir ge­han­delt; nie kann ich das ver­ges­sen« – so­oft sie an Pais Be­such dach­te, be­kam sie Herz­klop­fen. Und all­mäh­lich dach­te sie nur dar­an. Un­ter al­len an­de­ren lä­chel­te die­ser eine Ge­dan­ke, und Lola selbst hat­te be­stän­dig ein Lä­cheln zu un­ter­drücken. In ihr be­gann ein Stei­gen und Fal­len von Plä­nen, wie ein Spring­brun­nen, den man auf­schließt; im­mer hö­her, im­mer zu­ver­sicht­li­cher schnellt er em­por. An­fangs wag­te sie zu hof­fen: »Wenn Pai kommt, viel­leicht kann ich mit ihm zu­sam­men woh­nen? Ein­mal doch von den Frem­den weg und bei mei­nem Va­ter woh­nen!« Dann fiel ihr ein: »Aber warum denn hier­blei­ben? Wa­rum nicht eine Rei­se ma­chen?« Vie­le Orte, die sie gern ge­se­hen hät­te, spran­gen ihr durch den Sinn. Auf ein­mal stand al­les an­de­re still, und eine klei­ne schüch­ter­ne Stim­me frag­te: »Und Rio?« Zu­erst war Lola fas­sungs­los. Plötz­lich ent­schloss sie sich: »Ja, Rio! Was ist da­bei? Wenn ich Pai bit­te, wird er mir doch er­lau­ben, Mai wie­der­zu­se­hen. Die Rei­se ist jetzt so kurz. Und für ihn ist es das be­quems­te: er bleibt dann gleich dort, wenn ich zu­rück­fah­re.« End­lich, auf dem Gip­fel des Springstrahls: »Nein! Ich fah­re nicht wie­der zu­rück. Bin ich dort, will ich’s schon durch­set­zen. Was kann denn Pai da­bei tun, wenn ich ihm um den Hals fal­le und nicht los­las­se? Münd­lich ist das al­les ganz an­ders als in die­sen dum­men Brie­fen. Und schlimms­ten­falls ste­cke ich mich hin­ter Mai oder hin­ter die Gro­ß­el­tern auf der Gro­ßen In­sel – ach nein, sie sind tot! – oder ich lau­fe da­von, lie­ber, als dass ich zu­rück­keh­re! Oh, jetzt hab’ ich’s!«

Sie klatsch­te in die Hän­de, zum ers­ten Mal seit den Kin­der­zei­ten. Dann lief sie zu Er­nes­te, ih­rem Glücke Luft zu ma­chen. Im Schwat­zen bat sie plötz­lich, aus­ge­hen zu dür­fen. Zu viel blüh­te in ihr auf, das Haus ward ihr zu eng. Nun schwatz­te und lach­te sie mit al­len, wahl­los und ge­dan­ken­los. Kei­nen Au­gen­blick konn­te sie still­hal­ten. Im­mer: »Wie seid ihr lang­wei­lig!« Und: »Geht heu­te nie­mand aus?« Im Ge­hen, im Durch-die-Stra­ßen-Ir­ren schi­en ih­r’s, als kom­me sie ih­ren Wün­schen nä­her. Zu Hau­se ver­sank man in der Zeit wie in Lehm. »Vor­wärts, o Gott, nur vor­wärts!«

Ei­nes Ta­ges, wie sie heim­kam, trat Ber­ta ihr ver­stör­ten Ge­sichts ent­ge­gen.

»Dein Vo­gel ist tot«, sag­te sie vor­wurfs­voll; und Lola, kopf­los:

»Wie­so?«

»Ich soll­te für Er­nes­te et­was aus eu­rem Zim­mer ho­len und da hab’ ich ge­se­hen, dass er tot ist.«

Lola schüt­tel­te den Kopf. Sie ging hin­ein: wirk­lich, da lag er auf der Sei­te. Sie streck­te mit Wi­der­wil­len einen Fin­ger durch die Stä­be und zog ihn rasch wie­der zu­rück, »Im Näpf­chen sind noch vie­le Kör­ner, er hat schon lan­ge nichts mehr ge­fres­sen. Und ges­tern Abend sang er noch; ich muss­te ihn zu­de­cken. Nun, die­se Art lebt viel­leicht nicht län­ger; trös­te dich.« Sie hat­te das Be­dürf­nis, rasch wei­ter­zu­kom­men. Ihr nach Glück ja­gen­der Sinn wuss­te mit dem Tod, der ihr in den Weg trat, nichts an­zu­fan­gen und er­kann­te ihn kaum. Wie sie die Tür öff­ne­te, stand je­mand da­vor mit ei­nem schwarz­ge­rän­der­ten Brief. Er­staunt nahm sie ihn und trat zu­rück ins Zim­mer. Die Schrift kann­te sie nicht; die ers­ten Wor­te hie­ßen:

»Lie­be Lola! Ein großes Un­glück ist ge­sche­hen, un­ser Va­ter ist ge­stor­ben.«

»Wes­sen Va­ter?« – Sie sah nach der Un­ter­schrift: »Dein Bru­der Pao­lo.« – »Pao­lo? Welch Un­sinn! Mein Bru­der hieß Nene.« – Sie las wei­ter.

»Un­ser Va­ter reis­te, wie dir viel­leicht be­kannt ist, die letz­te Zeit in Ar­gen­ti­ni­en, und kaum zu­rück­ge­kehrt, nahm ihn das Gel­be Fie­ber. So wahr ist es, dass kein nicht in Rio Ge­bo­re­ner sich ent­fer­nen darf ohne Ge­fahr, bei sei­ner Heim­kunft ein Op­fer der schreck­li­chen Krank­heit zu wer­den.«

»Es scheint doch Pai zu sein.« Sie las noch:

»Un­se­re lie­be Mama weint mit mir. Wei­ne mit uns, Schwes­ter!«

»Pai ist tot?« dach­te Lola. »Er woll­te doch her­kom­men!« Ihr plan­lo­ser Blick durch­such­te das Vo­gel­bau­er; da be­merk­te sie:

»Das sind nur lee­re Hül­sen! Wahr­haf­tig, kein ein­zi­ges Korn. Dann ist er ver­hun­gert! Ich habe ihn ver­hun­gern las­sen! Mein Gott! Und ich hat­te ihn doch lieb!«

Sie ge­dach­te – und rang da­bei die Hän­de – der Zeit, da sie den klei­nen Vo­gel fand und zu sich nahm, und der Zärt­lich­keit, die sie auf dies rüh­ren­de, jetzt so kal­te Ge­fie­der ge­häuft hat­te: all das Ge­fühl, des­sen sie nur die luf­ti­ge­ren, gü­ti­ge­ren, rei­ne­ren Ge­schöp­fe hö­he­rer Ster­ne wert ge­hal­ten hat­te. Wie hat­te es ge­sche­hen kön­nen, dass ihr die­se große Lie­be nach und nach ganz aus dem Sinn ge­kom­men war, so sehr, dass dies arme Tier sie lang­weil­te und sie’s ver­hun­gern ließ? Wir wa­ren also un­se­res Her­zens nicht si­cher? Wie schreck­lich! »Nur aus Ei­gen­nutz lieb­te ich ihn. Ich hät­te ihn in sei­nem Wal­de las­sen sol­len. Aber auch er hat­te mich lieb, lie­ber als ich ihn. Er pfiff, wenn ich ins Zim­mer trat, und so­bald ich die Lip­pen hin­hielt, leg­te er den Schna­bel da­zwi­schen. Ges­tern Abend hat er noch ge­sun­gen: viel­leicht um mir zu sa­gen, er sei mir nicht böse.«

 

Und un­ter dem Be­wusst­sein ver­säum­ter Lie­be brach sie in die Knie und schluchz­te: »Pai ist tot!« Al­les, was sie bis da­hin ge­dacht hat­te, war nur wie das Keu­chen, be­vor die schwe­ren Trä­nen kom­men. Jetzt erst wuss­te Lola: »Pai ist tot«; und von al­len Sei­ten fiel’s über sie her: »Du hast ihn nicht lieb­ge­habt. Du bist ihm böse ge­we­sen, hast ihn nicht ver­stan­den. Er woll­te dein Bes­tes und hat nur da­für ge­ar­bei­tet. Lies sei­ne Brie­fe.«

Sie las den letz­ten und er­kann­te plötz­lich, wel­che wich­ti­ge Sa­che es für ihn ge­we­sen war, sie wie­der­zu­se­hen. Die Zei­len zit­ter­ten auf ein­mal von Sehn­sucht und Un­ge­duld: »Dass ich das nicht ge­merkt habe! Ich nann­te ihn kalt. Die Kal­te war ich: ich woll­te nach Hau­se zu­rück, viel­leicht mehr aus Ei­gen­wil­len, aus Hoch­mut. Das Zu­sam­men­sein mit ihm ge­nüg­te mir nicht; er aber sehn­te sich nur da­nach. Wie er des­we­gen ge­lit­ten ha­ben muss, ehe er starb!«

Ihr Schmerz ent­riss ihr selbst al­les Herz und gab es dem To­ten. So zärt­lich war er ge­we­sen! »Es kann ja nur mein ein­zi­ger Wunsch sein, dich glück­lich und zu­frie­den durchs Le­ben schrei­ten zu se­hen.« Dies stand in dem Brief, worin er ihr die er­be­te­ne Heim­rei­se ab­ge­schla­gen hat­te; den sie für den lie­be­leers­ten ge­hal­ten, we­gen des­sen sie ihn fast ge­hasst hat­te! Jetzt lern­te sie, in die Wor­te hin­ein­zu­hor­chen. »Ich habe dich lieb«, sag­ten alle, wie einst Pais ers­te deut­sche Wor­te in sei­nem ers­ten Brief es Lola ge­sagt hat­ten.

Pais schwe­ren, ru­hi­gen Schritt ver­nahm sie aus sei­nen Wor­ten, fühl­te sei­ne star­ke, gute Hand, sah die ver­hal­te­ne Emp­fin­dung in sei­nem erns­ten Ge­sicht. »Auf der Gro­ßen In­sel! Pai be­such­te mich; ich war ganz klein, er so groß und blond, viel grö­ßer als alle Men­schen. Alle be­wun­der­ten ihn und be­nei­de­ten mich, wenn ich an sei­ner Hand ging. Wie stolz war ich auf ihn!« Bei die­ser Erin­ne­rung warf Lola sich auf­schrei­end zu Bo­den.

Er­nes­te kam und wag­te lan­ge nichts zu sa­gen. Lola lag da, reich­te Er­nes­te, ohne das mit den Ar­men ver­hüll­te Ge­sicht zu er­he­ben, den Brief hin, schüt­tel­te sich aber, so­bald Er­nes­te, über ih­ren Na­cken ge­beugt, nur flüs­ter­te. Plötz­lich fuhr sie em­por.

»Ich bin eine schlech­te Toch­ter ge­we­sen!«

»Wie magst du das sa­gen!« stam­mel­te Er­nes­te. »Seit frü­her Kind­heit hast du dei­nen gu­ten Va­ter nicht mehr ge­se­hen.«

Lola stampf­te auf.

»Ich habe ihn ge­hasst! Eine schlech­te Toch­ter!«

»Der Schmerz ver­wirrt dich, Kind«; und Er­nes­te, die schluchz­te, um­arm­te Lo­las Kopf und drück­te ihn an sich. Lola woll­te sich los­rei­ßen; aber Er­nes­te nahm alle Kraft zu­sam­men, und all­mäh­lich ließ Lola sich schlaff wer­den, sin­ken und wei­nen.

»Du musst an Mut­ter und Bru­der schrei­ben«, sag­te schließ­lich Er­nes­te im Ton der höchs­ten Eile, froh, eine Tä­tig­keit für Lola ge­fun­den zu ha­ben, die aus ih­rem Schmer­ze selbst her­vor­ging und in die er sich er­gie­ßen konn­te. Wie Lola dann ihre blu­ten­den Ge­dan­ken sam­mel­te, ka­men auch un­er­war­te­te. »Was soll ich ih­nen schrei­ben? Dass ich kom­men möch­te! Jetzt kann ich kom­men, denn Pai ist tot.« Mit Ent­set­zen: »Das ist ja, als ob ich mich freu­te! Nein! Nein! Ich wer­de nicht nach Hau­se rei­sen; er hat es nicht ge­wollt, und ich ver­die­ne es nicht.«

Sie schrieb, sie müs­se hier noch ihre Aus­bil­dung be­en­den, und fühl­te sich, als sie auf­stand, ge­wach­sen.

Nachts wein­te sie: über den da­hin­ge­gan­ge­nen Va­ter, über das Ver­bot, an das er sie noch als To­ter band, über die ver­lo­re­ne Hei­mat, über al­les wein­te sie die­sel­ben Trä­nen. Er­nes­te hör­te sie die gan­ze Nacht und lag ganz still. Am Tage aber tat die Buße, die sie sich auf­er­legt hat­te, Lola wohl. Die Schmer­zen und der Ver­zicht, um Pais wil­len er­dul­det, wa­ren et­was wie eine Fa­mi­lie, wa­ren ein Stück Hei­mat.

Auf ein­mal stand sie wie­der ganz am An­fang, als sie mit Er­stau­nen den Trau­er­brief er­brach. »Es ist nicht mög­lich, dass er tot ist! Vor ein paar Ta­gen leb­te er doch. Auch noch, als der Brief schon un­ter­wegs war, leb­te er doch! Hät­te ich die­sen schwarz­ge­rän­der­ten Brief nicht ge­le­sen, er leb­te noch im­mer. Es wäre al­les wie sonst. Ich habe ihn nicht le­ben ge­se­hen und sah ihn auch nicht ster­ben. Was weiß ich? Pai! Pai!«

Und da sah sie sich als Kind, wie sie auf ih­ren Irr­we­gen durch die Stadt, in­mit­ten ei­nes lee­ren Plat­zes, wo es weh­te, ste­hen­blieb und fle­hent­lich ihr »Pai!« rief. Auch da­mals hat­te er sie al­lein ge­las­sen, und sie hat­te es nicht glau­ben wol­len! Jetzt war er noch viel wei­ter fort­ge­gan­gen, und der Glau­be war noch schwe­rer. »Er woll­te doch her­kom­men!« Ja: auch da­mals hat­te er ge­ru­fen »noch einen Kuss, klei­ne Toch­ter«; und in­des sie ei­nem Schmet­ter­ling nach­lief, war er ver­schwun­den.

»Wa­rum kommt auch kein Brief mehr! Ich habe sie noch so viel zu fra­gen!«

Sie schrieb Brie­fe über Brie­fe, und in je­den woll­te sich die Bit­te hin­ein­drän­gen: »Darf ich zu euch?« »Nein, nein! Ich darf nicht. Am Ende wür­de auch Mai ster­ben. Pai ist ge­stor­ben, weil er zu mir woll­te. Auf mir ist ein Ver­häng­nis: ich soll al­lein blei­ben.« Und aus sol­chem fei­er­li­chen Schick­sal mach­te sie sich einen Halt für das Le­ben, das sie zu be­ste­hen hat­te. Gleich zu An­fang des Herbs­tes ver­trat sie den Wunsch, Kon­fir­ma­ti­ons­stun­den zu neh­men.

»Schon?« frag­te Er­nes­te be­stürzt. »Ich wuss­te wohl, Kind, dass ich dich wür­de her­ge­ben müs­sen; aber so früh!«

»Was willst du, ich bin sech­zehn«, ver­setz­te Lola, ohne Er­nes­tes Auf­re­gung zu be­ach­ten, kalt­blü­tig, wie je­mand, der sich mit al­lem Kom­men­den ab­ge­fun­den hat.

»Und was willst du dann tun, Kind? Nach Hau­se rei­sen?«

»Kei­nes­falls. Al­les muss sich fin­den.«

Wie­der be­gann Lola Plä­ne zu ma­chen; und dies­mal hielt sie sie für un­an­greif­bar, denn sie rech­ne­te auf sich selbst al­lein. »Ich wer­de von nie­mand ab­hän­gen. Nie­mand kann mich ver­las­sen, kei­nem wer­de ich mehr nach­zu­trau­ern ha­ben. Al­lein wer­de ich mei­nes We­ges zie­hen.«

An ei­nem Nach­mit­tag des nächs­ten Früh­lings saß Lola mit ei­ni­gen Al­ters­ge­nos­sin­nen beim Tee. Er­nes­te gab den Heran­ge­wach­se­nen die Er­laub­nis, sich Ka­me­ra­din­nen aus der Stadt ein­zu­la­den, und sie ließ die Mäd­chen un­ter sich. Schwarz und sehr ele­gant – denn die Schnei­de­rin der Pen­si­on be­stell­te ihr ge­gen Ver­gü­tung und ohne Er­nes­tes Wis­sen man­che Sa­chen aus Pa­ris – lag Lola im Schau­kel­stuhl und blies ih­ren Zi­ga­ret­ten­rauch, da­mit man ihn nach­her nicht rie­che, aus dem Fens­ter. Ein blü­hen­der Ap­fel­baum griff mit sei­nen Äs­ten her­ein; es war das­sel­be Zim­mer, worin einst die klei­ne Lola mit ih­rem Va­ter von Er­nes­te be­grüßt wor­den war.

»Ja ja, wer weiß, was je­der be­vor­steht. Die meis­ten von euch wer­den zwei­fel­los im Ge­lei­se blei­ben und hei­ra­ten.«

»Rede nur nicht, Lola. Als ob es bei dir nicht aufs sel­be hin­aus­käme.«

»Schwer­lich. Ich kann mir nicht gut einen Mann den­ken, zu dem ich ge­hö­ren wür­de. Ich habe ein ei­gen­tüm­li­ches Schick­sal, mei­ne Lie­ben. Vor meh­re­ren Jah­ren – Gott, wir wa­ren noch hal­be Kin­der – nann­tet ihr mich mal aus Bos­heit in­ter­na­tio­nal. In eu­rer Bos­heit hat­tet ihr aber ganz recht. Ich ge­hö­re nicht hier­her, und an­ders­wo­hin ver­mut­lich auch nicht.«