Tod im ewigen Eis

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Tod im ewigen Eis
Font:Smaller АаLarger Aa

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung oder Vervielfältigung des Werkes oder seiner Teile bedarf der Zustimmung des Autors. Alle im Buch enthaltenen Angaben wurden nach bestem Wissen erstellt. Es wird keine Verantwortung für etwaige Unrichtigkeiten übernommen. Alle Rechte liegen beim Autor:

Dr. Hans Säurle, Ruiter Str. 37/1, 70329 Stuttgart

hsaeurleweb.de

Umschlaggestaltung:

Sarah Richter www.sarah-richter.illustration.de

Bild: Hans Säurle

Lektorat:

Lisa Rill-Säurle

Herstellung:

ePubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Zweite, überarbeitete und leicht gekürzte Auflage

September 2021


Zum Buch

Dies ist die Geschichte des Mannes, dessen Mumie 1991 in den Alpen gefunden und als „Ötzi“ weltbekannt wurde. Bald stellte sich heraus, dass der vor 5.300 Jahren im ewigen Eis eingefrorene Mann ermordet worden war. Wer aber war der „Mann aus dem Eis“? War er ein Häuptling oder ein Schamane? Wer waren seine Feinde und wer hat ihn so gehasst, dass er ihn getötet hat?

Der spannende Roman erzählt kenntnisreich und phantasievoll vom turbulenten Leben des mit 45 Jahren getöteten Mannes. Als Kind verliert er unter dramatischen Umständen seine Familie; er muss unter harten Bedingungen in einer Kupfermine schuften. Gefangen und versklavt entwickelt er eine unersättliche Gier nach Reichtum und Macht. Eine Geschichte von Verrat, Schuld und Vergeltung nimmt ihren unerbittlichen Verlauf.

Der Autor

Hans Säurle, geboren 1950 in Stuttgart, studierte Medizin und Archäologie in Heidelberg. Als junger Arzt arbeitete er unter einfachsten Bedingungen inmitten des peruanischen Regenwalds. Dort lernte er die Denkmuster indigener Völker kennen, ihre Kultur und ihre Religion sowie auch die Schwierigkeiten, die sich beim Übergang in eine andere Zivilisationsstufe ergeben. Dieser Roman über das harte Leben in der zu Ende gehenden Steinzeit ist sein erstes literarisches Werk.


Tod im

ewigen Eis


Ein prähistorischer Roman

vom Leben und Sterben des Mannes aus dem Eis


„Menschen miteinander gibt es nicht.

Es gibt nur Menschen, die herrschen,

und solche, die beherrscht werden.“

Kurt Tucholsky

Vorwort

Im Herbst 1991 kletterte ich zusammen mit meinem Bergkameraden Reinhold Messner entlang der Südtiroler Landesgrenze. Unser Anliegen und unser Auftrag war, die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Südtirols zu lenken.

Nachdem Reinhold und ich schon mehrere Achttausender im Himalaya zusammen bestiegen hatten, legten wir in 40 Tagen über 1200 Kilometer zurück und erklommen 300 Gipfel. Das unerwartete Highlight dieser Kletterei fand sich an der Grenze zu Österreich in der Nähe des Tisenjochs, hier blickten wir tief in Südtirols Vergangenheit.

Wir saßen noch keine halbe Stunde in der gemütlichen Similaunhütte, als uns der Hüttenwirt Pirpamer vom Fund einer Gletscherleiche erzählte. Er habe die Leiche teilweise ausgepickelt und ein Stück Birkenrinde und einen seltsamen Eispickel gefunden. Es handele sich wohl um einen verunglückten Bergsteiger oder einen Flüchtling aus einem der beiden Weltkriege, vermutete er. Den eigenartigen Eispickel hätten inzwischen die Gendarmen schon nach Innsbruck in die Gerichtsmedizin gebracht. Pirpamer beschrieb uns das sonderbare Gerät, das so gar nicht aussehe wie die Eispickel, die wir von unseren Vorgängern her noch kennen. Damit war unsere Neugier geweckt und wir stiegen zum Fundort auf.

Die mumifizierte Leiche lag in einer sonderbar verdrehten Stellung auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten in einer Mulde, nur der Oberkörper ragte aus dem eisigen Wasser. Trotzdem war gut zu erkennen, dass die Beine mit Lederfetzen umwickelt waren und die Füße in mit Gras gefütterten Schuhen steckten. Neben der Mumie lagen ein Stück Fell, eine weiteres Stück Birkenrinde und ein kleines gelochtes Holz.

Im Himalaya hatte ich schon viele tote Bergsteiger sehen müssen, diese Leiche aber beeindruckte mich, wir nannten sie Similaunmann. Mitleid mit dem Verunglückten empfand ich nicht, auch keine Trauer. Stark aber war das Bedürfnis, mehr über diesen sonderbaren Toten zu erfahren, der meiner Meinung nach aus einer sehr frühen Zeit zu stammen schien. Wie hatte er gelebt, woran war er gestorben? Viele Fragen zu dieser eigenartigen Mumie gingen mir durch den Kopf. Dass es sich um einen wichtigen Fund handelte, war mir sofort klar. Um den freigelegten Similaunmann vor dem Zerfall zu schützen, deckte ich ihn mit Eisbrocken zu, damit er später sorgfältig geborgen werden könnte.

Dass allerdings vor uns, noch halb im Eis festgefroren, eine veritable Weltsensation lag, hatte ich nicht vermutet. Bald schon hatte die Wissenschaft festgestellt, dass der Similaunmann schon vor ungefähr 5.300 Jahren lebte und starb. Und erst im Frühjahr 2001 wurde bei der inzwischen nach Bozen überführten Leiche entdeckt, dass in ihrer Brust eine Pfeilspitze steckte: der Mann war erschossen worden!

Wer hat den Mann aus dem Eis wohl umgebracht? Und weshalb? War er ein Dieb auf der Flucht, ein schlechter Schamane oder ein entmachteter und verfolgter Häuptling? Diese Fragen gehen mir heute noch durch den Kopf. Jeder, der sich mit diesen Fragen beschäftigt, erhält mit dem Krimi „Tod im ewigen Eis“ eine Fülle von Anregungen.

Der in einen fesselnden Roman verpackten Geschichte über das Leben in der zu Ende gehenden Steinzeit wünsche ich einen großen Leserkreis.

Hans Kammerlander


Prolog

Bisher hat er ihnen entkommen können, doch sie brauchten nur seinen Spuren zu folgen, mehrfach haben sie ihn fast eingeholt. Drei dick vermummte Gestalten sind es, das hat er klar sehen können, erkennen aber kann er sie nicht.

So lange als möglich hat er versucht, im Wald zu bleiben, um nicht gesehen zu werden. Doch irgendwann musste er die Baumgrenze überschreiten und nun ist er in großer Höhe unterwegs. Auf den freien Flächen beschleunigt er seinen Schritt und trotz der dünneren Luft kommt er gut voran. Aus dem Schneefall ist inzwischen ein Schneesturm geworden, das ist gut, denn Schnee und Wind decken seine Spuren zu. Der eisige Wind treibt ihm die harten Schneekristalle direkt in Augen und Gesicht, er achtet nicht darauf, konzentriert sich auf seinen Weg. Sein Vorteil ist, dass er sich auskennt, er hat diesen Pass schon mehrfach überschritten. Öcetim denkt an die Wanderungen mit den Schafen in diesen eisigen Höhen, hin zu den saftigen Weiden auf der anderen Seite.

Da er seine Verfolger schon lange nicht mehr gesehen hat, wagt er eine Rast einzulegen. Er ist müde und hungrig, seine rechte Seite schmerzt bei jedem Atemzug. In einer mit vom Wind verkrüppelten Sträuchern bewachsenen Senke sucht er Schutz vor dem Schneesturm, legt seinen Bogen und den Glutbehälter ab, setzt sich und verschlingt gierig seinen Proviant. Er ist froh, dass ihm seine Frau so viel eingepackt hat: getrocknetes Steinbock- und Hirschfleisch, Dinkelfladen und sogar Ziegenkäse, den sie so schmackhaft zubereiten kann.

Öcetim streckt sich, schaut über den Rand der Senke. Da er auf der weiten weißen Fläche noch immer niemanden sieht, hofft er, dass seine Verfolger bei diesem scheußlichen Wetter aufgegeben haben. Prüfend wiegt er sein Kupferbeil in der Hand, befühlt die in seinen Lendenschutz eingenähten Goldklümpchen, tief zieht er die kalte Luft in die Lunge und wärmt seine kalten Finger über dem Glutbehälter.

Bei einem Schusswechsel am Tag zuvor war die Entfernung zu groß gewesen. Sie hatten ihn nicht getroffen, aber auch seine Pfeile hatten ihre Ziele verfehlt. Diese Pfeile fehlen ihm, er muss sie dringend ersetzen. Glücklicherweise wächst in Reichweite ein schöner weißer Strauch mit kerzengeraden Trieben. Mit seinem Steindolch schneidet Öcetim gleich ein Dutzend davon ab, entrindet und kerbt sie ein, später würde er die Klingen einsetzen und die Schäfte glätten. Dazu ist jetzt keine Zeit, er muss weiter, den Pass noch heute bezwingen, die Verfolger abschütteln. Er darf sich nicht aufhalten lassen, er hat eine Aufgabe zu erfüllen.

Die kurze Rast und das Essen haben ihm gutgetan. Öcetim macht sich auf, verlässt die schützende Senke, steigt höher, erreicht das Gebiet des Gletschers. Immer wieder blickt er zurück, auf der weißen Fläche kann er schemenhaft nur ein paar Gämsen erblicken.

Die Verfolger haben sich getrennt, einer ist schon vorausgeeilt. Schneller und kräftiger als die beiden Anderen will er unbedingt der Erste sein, die Sache alleine zu Ende führen. Die zwei anderen Verfolger quälen sich im Schneesturm keuchend weiter den Berg hinauf, sich nur selten eine Rast gönnend, auch sie wollen Rache nehmen.

Auf dem Gletscher kommt Öcetim nur langsam voran, vorsichtig setzt er seine Schritte. Immer wieder muss er innehalten. Gerade als er nach einer kurzen Pause seinen Aufstieg fortsetzen will, spürt er einen heftigen Schmerz in der linken Schulter. Ein Pfeil hat ihn getroffen. Öcetim fällt, sein Kopf knallt gegen einen Felsbrocken. Der Schmerz ist brennend, stark, Öcetim fühlt das warme Blut auf seinem Rücken und auf seinem Gesicht, seine Sinne schwinden. Er ahnt, dass er sterben wird, sieht Bilder von seiner Familie, sein ganzes Leben zieht an ihm vorbei. Er hat viel gesehen, viel erlebt und viel erfahren. Doch wie es weiter gehen wird mit ihm, nach seinem Tod, das weiß er nicht. Er riecht Blumen und Wind, bedauert, dass er den Aufgang der Sonne und den ewig sich wandelnden Mond nicht mehr sehen kann.

 

Sein Mörder geht auf ihn zu. Er ist alleine, steht noch eine Weile neben dem Sterbenden, genießt seinen Triumph und hat gleichzeitig das Gefühl, dass jetzt etwas Unerwartetes geschehen müsste. Doch nichts geschieht, nur der Wind heult. Dann macht er sich an Öcetims sterbendem Körper zu schaffen, durchsucht seine Gewänder. Endlich fühlt er in Öcetims Lendenschurz, wonach er gesucht hatte. Mit klammen Fingern reißt er das feine Leder auf, greift nach den kleinen Steinen, betrachtet und befühlt sie. Vorsichtig steckt er sie ein, als ob sie Schaden nehmen könnten. Mehr interessiert ihn nicht.

So plötzlich wie der Sturm gekommen war, so schnell hat er sich auch wieder gelegt. Schon kreisen die ersten Geier in der Luft. Als die beiden Männer schon ganz nahe an der Felsrinne sind, erkennen sie nur einen dunklen Fleck in einer Mulde. Langsam kommen sie näher, ihre Herzen klopfen schnell, nicht nur wegen der Höhe, es ist die Anspannung, die Angst, dass der Alte plötzlich aufstehen und sie angreifen könnte.

Es kostet sie Überwindung, Öcetim zu berühren. Ein seltsamer Schauer durchläuft die beiden vermummten Gestalten, trotz ihrer dicken Fellmäntel rinnt ihnen kalter Schweiß über den Rücken. Der ältere der beiden dreht den Leichnam auf den Bauch und zieht vorsichtig an dem Pfeil, der in Öcetims Rücken steckt. Niemand soll anhand des Pfeils auf den Mörder schließen können. Doch weil sich das Geschoss in der Schulter des Alten verhakt hat, versucht er es nochmals mit einem kräftigeren Ruck. Der Pfeil bricht ab, die Spitze aus Feuerstein bleibt in der Schulter stecken.

Inzwischen schneit es wieder stärker. Wie ein Leichentuch legt sich der Schnee über den Toten. Nach und nach lässt der Schnee ihn ganz verschwinden, füllt die ganze Felsrinne, keiner wird den gottlosen Alten jemals finden. Doch nicht für immer bleibt die Leiche in Eis und Schnee gefangen…

Nach mehr als fünftausend Jahren kommt die Leiche wieder zum Vorschein…

Erster Teil Kindheit und Jugend

I

Die Angst schnürte ihm die Kehle zu, sein Hemd war trotz der Kühle schweißnass. Tote Männer und Frauen lagen neben oder auf ihm, ihn hatte man offenbar übersehen oder auch für tot gehalten. ʼOb es das Ende ist?ʼ fragte er sich.

Nach dem ohrenbetäubenden Lärm war es nun still geworden, nur die Schläge seines Herzens dröhnten laut wie Kriegstrommeln in seinen Ohren, übertönten jedes andere Geräusch. Sein Herz pochte so fest, dass er meinte, es müsse seine Brust zersprengen und überall zu hören sein.

Von allen Seiten waren fremde Krieger gekommen. Mit Speeren und Lanzen hatten sie auf seine Leute eingestochen, die Kinder und Alten mit Keulen erschlagen, die Fliehenden wurden von ihren Pfeilen niedergestreckt. Nur kurze Zeit dauerte dieser gemeine Überfall. Jetzt war fast die ganze Dorfgemeinschaft tot, ein paar junge Frauen waren von den fremden Kriegern verschleppt worden, drei kleine Kinder hatten sie aus den Armen ihrer Mütter gerissen und ihre Köpfe an Felsen zerschmettert, anschließend hatten sie den Müttern die Köpfe eingeschlagen.

Langsam öffnete Öcetim die Augen, schaute sich um. Nicht lange konnte er die furchtbaren Bilder aushalten, schnell schloss er wieder die Augen. Er nahm den Gestank von versengtem Haar, verbranntem Fleisch und brennenden Hütten wahr, den Gerüchen konnte er sich nicht entziehen. Eine innere Stimme flüsterte ihm ein, dass nicht er es war, der dieses Grauen erlebte, sondern dass all das einem Anderen zustieß. Öcetim wollte Gewissheit. Unter großer Anstrengung öffnete er erneut seine Augen und musste in ohnmächtiger Klarheit erkennen: Sein Dorf, seine Familie, seine Freunde, sie sind nicht mehr, alle waren tot oder verschleppt.

Endlich wagte es Öcetim, sich zu erheben. Seine Knie schlotterten, die Beine wollten ihm nicht gehorchen, ihm wurde schwindelig und übel; er musste sich an einen Baum anlehnen. Angewidert vom Gestank suchte er unter den Leichen nach seinen Angehörigen, fand seine Mutter, die im Tod noch sein kleines Schwesterchen an ihre Brust drückte, entdeckte seinen Vater, dessen Kopf zerschmettert war und dem der rechte Arm fehlte. Dann stieß er auf seinen älteren Bruder, auch sein Onkel, seine Tanten und seine Freunde lagen erschlagen im blutdurchtränkten Gras. Seine Schwester fand er nicht.

Angeekelt von diesem Gemetzel und unfähig, auch nur eine Träne zu vergießen, schleppte er sich in den Wald. Trotz seiner Angst vor den unheimlichen Geräuschen, dem Rascheln und Ächzen und Knarzen, hielt er sich dort versteckt. Er hörte das Wispern der Blätter und die Stimmen der Toten, wilde Schatten kletterten von den Bäumen herunter. Gesichter seiner Nachbarn und seiner Familie tauchten auf, kurz nur, um gleich wieder zu verschwinden. Mit klappernden Zähnen wachte er auf und wartete auf die aufgehende Sonne. Endlich konnte er weinen.

Nach drei langen Tagen und Nächten waren ihm die Tränen ausgegangen, er wagte sich seinem Dorf Tocolom zu nähern. Noch immer war der Gestank kaum auszuhalten. Die Toten sollten beerdigt werden, dachte er. Aber er konnte das nicht, es waren so viele, und er war nur ein kleiner Junge. Auch seine Schwester war noch immer nicht da, laut rief er ihren Namen, suchte sie. Doch vergeblich, sie blieb verschwunden. Er hatte niemanden mehr. Öcetim wimmerte leise und wusste, dass er jetzt ganz auf sich gestellt, dass er mutterseelenallein war.

Die Sonne brachte nur einen fahlen Schein zustande, es roch verbrannt, selbst der Wind schmeckte süßlich und widerlich. Öcetim wollte sterben, wollte bei seinen Leuten sein, die jetzt in einer anderen Welt lebten. Es wäre so leicht, einfach nur loslassen, fortfliegen, träumte er vor sich hin. Er legte sich zum Sterben auf den Boden und wartete auf den Tod. Er wollte an einen Ort, wo die Geister wohnen, wo es schön sein soll und es immer ausreichend zu essen und zu trinken gibt; so wurde es von den Alten gesagt. Auch soll es dort keinen Streit geben und keinen Krieg. Seltsame Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, suchten nach Gründen für das fürchterliche Geschehen. Hatten denn seine Familie und die ganze Sippe den Göttern nicht immer ausreichend geopfert? Oder hatten sie vielleicht zu wenige oder die falschen Opfer gebracht?

Doch Öcetim starb nicht, die Todesgötter verschmähten ihn. Jetzt fiel ihm wieder ein, dass er noch für die toten Dorfbewohner sorgen sollte, damit sie nicht unbeweint ins Reich der Finsternis geworfen wurden. Ihr Schmuck und ihre Waffen waren von den fremden Kriegern einfach mitgenommen worden. Dabei hätten die Toten in der anderen Welt diese wertvollen Dinge doch gebraucht. Er kannte natürlich das Begräbnisfeld auf der von Birken umstandenen kleinen Anhöhe, erinnerte sich an große Feuer und dass die Wände der Gräber mit roter Farbe angestrichen wurden. Rot, das war die Farbe des Blutes, das er jetzt überall um sich herum sah. Doch wie sollte er die Toten zu dem Begräbnisfeld schaffen, wie die Gruben ausheben und die Wände rot streichen? Und was wäre sonst noch zu tun? An die vorgeschriebenen Rituale konnte er sich nicht mehr erinnern. Das bekümmerte den Jungen zusätzlich.

Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, saß Öcetim lange bewegungslos auf dem Boden. Schließlich empfahl er die vielen Toten tränenüberströmt allen Göttern, die überall in den Bäumen, Büschen, den Steinen, dem Bach und den Felsbrocken hausten und ihm zuschauten. Vor allem bat er die mächtigsten von ihnen, die launischen Götter der Berge, des Wassers und der Luft, dass die Verstorbenen zu ihnen in ihre himmlischen Reiche gelangen dürfen und nicht als Gunchis wie Totenvögel nachts durch die Lüfte fliegen und ihren Angehörigen Krankheit, Tod und Unheil bringen müssen.

Die Gedanken an seine eigene Zukunft quälten ihn. Er würde weiter leben, doch wo und wie? Müsste er nochmals zurück in sein niedergebranntes Dorf, um Messer, Speere, Beile und andere Waffen zu suchen? Seine Augen wollen das Unglück nicht wieder sehen und seine Nase wollte den Gestank nicht nochmals riechen müssen. Weil er aber diese Dinge brauchte, lenkte Öcetim schweren Herzens seine Schritte zum Dorf und suchte in allen Häusern. Doch die fremden Krieger hatten Messer und Beile, Waffen und Felle, gewebte Tücher, einfach alles mitgenommen. Endlich fand er ein altes Hasenfell, ein paar Stricke aus Tiersehnen und einen Feuersteinkern. Alles nahm Öcetim mit, und als er einen Pyritknollen und trockenen Zunder sah, nahm er auch dies mit, um Feuer entfachen zu können.

Angewidert vom Gestank und dennoch froh über die gefundenen Werkzeuge rannte Öcetim in den Wald, marschierte immer weiter. Seine Füße brannten, seine Haut war aufgerissen von den dornigen Sträuchern, nur fort von hier, weit weg von diesem grausigen Ort.

Er durchwanderte sanft gewellte Landschaften und durchquerte ein Sumpfgebiet, wo er von Mückenschwärmen fast gefressen wurde, bis er endlich ein Gebiet erreichte, wo es genügend Beeren, Buchen und Eichen gab, von deren Früchten er sich ernähren konnte. Auch hatte er viele Rehe und Hirsche gesehen, doch um die zu jagen, brauchte er unbedingt Waffen: Messer, Pfeil und Bogen und Speere.

Das aber war ein Problem, noch nie hatte er Waffen selbst hergestellt, er musste es jetzt einfach versuchen. Mit einem Schlagstein schlug er wie mit einem Hammer aus dem Feuersteinkern ein größeres Stück und ein paar kleine Splitter. Mehrfach versuchte er eine weitere Klinge aus dem Feuersteinkern heraus zu schlagen - so lange, bis er den schönen Feuersteinkern völlig zerschlagen hatte. Immerhin hatte er nun aber ein Messer und drei Speerspitzen.


Vor ihm lag eine mächtige Bergkette, deren Gipfel in der Ferne seltsam weiß schimmerten, die Sonne strahlte auf die mächtigen Berge, alles wirkte schön und sauber dort. Da wird es keine Krieger geben, dort sollte die Welt friedlich sein, hoffte der Junge. Im Bergwald wuchsen große Kastanienbäume, deren Früchte vorzüglich schmeckten. Öcetim fühlte sich wohl in dieser waldreichen Gegend. Zufällig entdeckte er einen Felsvorsprung, dessen Überhang ein schönes Dach bildete. ʼMit ein paar Ästen und Zweigen vergrößert könnte das eine schöne Lagerstätte gebenʼ, murmelte er halblaut vor sich hin. ʼVon dort werde ich gleich beim Aufwachen die Berge mit ihren weißen Spitzen sehen.ʼ

Allmählich fühlte sich Öcetim wieder etwas wohler, er freute sich an der Sonne und den angenehm warmen Tagen. Tagsüber hatte er genug zu tun, er musste seine Nahrung suchen und sich vor wilden Tieren schützen. Abends jedoch, wenn er auf seiner Grasmatte lag, war ihm oft zum Heulen zumute. Dann hörte er die Geräusche des Waldes, nirgends jedoch Laute von Menschen. Wie sehr hätte er sich gefreut über ein Grunzen oder Schnarchen. Keine Geräusche von sich paarenden Menschen, kein Singen, keine Beschimpfungen und kein Streit, er hörte nur seinen eigenen Atem. Sein Blick ging zu den funkelnden Sternen hoch oben am Himmel, aber auch die sagten kein Wort, sie funkelten nur ausdrucklos – ohne ihm irgendeinen Hinweis zu geben.

In der Nacht suchten ihn schreckliche Gespenster heim, Er hörte ihr Kampfgeschrei und hatte das Gefühl, die Geräusche hätten sich gegen ihn verschworen. Nichts konnte er dagegen tun, selbst lautes Schreien half nicht dagegen an, und auch die Ohren zuzuhalten nützte nichts. Er hatte niemanden, an den er sich anlehnen konnte, der ihm Geborgenheit und Wärme hätte vermitteln können.

Endlich fiel er in einen unruhigen Schlaf. Doch mitten in der Nacht wachte er auf, konnte nicht mehr schlafen, der volle Mond hatte ihm mitten ins Gesicht geschienen. Öcetim erhob sich und stieg hinunter zu dem im hellen Mondlicht glitzernden Bach, sein geheimnisvolles Plätschern lockte ihn weiterzugehen. Er folgte dem Wasser flussauf, an einer engen Kurve des Bachs hatten sich alte Knochen und Geweihstücke am Ufer angelagert. Noch nie hatte er sich so weit von seinem Lager entfernt. Nach einer weiteren Biegung wurde der Pfad steiniger und steiler, Öcetim wollte seine nächtliche Wanderung schon beenden, als er von ferne das Rauschen eines Wasserfalls hörte. Von einem überkragenden Felsen fiel klares Wasser in einen kleinen See, dort war es noch heller und irgendwie wurde es Öcetim feierlich zumute.

 

An den Stellen, wo das Mondlicht auf den See traf, schimmerte das Wasser in einem dunklen Rot. ʼSicherlich wohnt in diesem See eine mächtige Gottheit,ʼ dachte Öcetim bei sich. Er beugte sich über die kristallklare Wasserfläche und sah in den See, ihm war als ob sich dort etwas bewegte. Er sah genauer hin, und tatsächlich, unten am Grund war undeutlich die Göttin des Wassers zu erkennen. Ihre langen blonden Haare schwebten im Wasser, langsam schwamm sie nach oben. Immer deutlicher konnte er ihre silbrig glänzende schlanke Gestalt erkennen, zwischen ihren Fingern und Zehen schimmerten Schwimmhäute, doch ansonsten sah sie aus wie eine richtige Frau. Ihre dunklen Brustwarzen und die Haare auf ihrer Scham waren deutlich zu sehen. Ihm war als lächelte sie ihn an.

ʼOb ich es wagen darf in diesen herrlichen See zu steigen, aus dem mir die Göttin zulächelt?ʼ Die Versuchung war übermächtig, und so sprang Öcetim mit einem Satz in das kalte Wasser. Er schwamm zu der rötlichen Stelle des Sees, wo er die wunderschöne Gestalt gesehen hatte. Weil er aber außer Schlingpflanzen und Algen dort nichts Auffälliges bemerkte, stieg Öcetim nach mehreren vergeblichen Tauchgängen wieder aus dem Wasser.

Enttäuscht stellte er sich unter den Wasserfall, ließ das Wasser auf seinen Kopf fallen, auf seine Schultern, seinen Rücken und seinen Bauch. Er dachte an die schöne Frau im See, fühlte die Gegenwart der Göttin und spürte ihre Nähe. Sein Geschlecht richtete sich auf, und schon nach wenigen Handbewegungen brachte er der Göttin ein spezielles Opfer.

Befriedigt sprang er in das kalte Wasser, tauchte bis auf den Grund, doch die Göttin fand er noch immer nicht. Bekümmert watete er aus dem See ans Ufer, schüttelte sich, sah sich um. ʼTrotzdem,ʼ dachte er, ʼdas ist eine gute Gegend, hier will ich bleiben, ich will die schöne Göttin suchen.ʼ Auf dem Rückweg fand Öcetim zu seiner großen Freude Seifenkraut am Bach wachsen. Damit würde er sicherlich besser riechen, vermutete er, wenn er die sich noch zierend im See versteckt haltende Göttin wieder besuchte.

Diese entzog sich zwar weiterhin seinen lüsternen Blicken, meinte es aber ansonsten gut mit ihm, denn er fand in der Umgebung des Sees Vogeleier, Nüsse und Beeren in Hülle und Fülle. Erfolgreich jagte er Fische, Frösche und Mäuse, mehrmals hatte er Hasen erlegt, einmal auch ein junges Reh. Das war wichtig vor allem wegen der Felle und der Sehnen, die Mägen und Blasen der erlegten Tiere konnte er als wasserdichte Vorratsgefäße nutzen.

Doch oft hatte Öcetim kein Jagdglück, entweder hatten ihn die Rehe zu früh gewittert und waren geflüchtet oder seine Speere hatten das Ziel verfehlt. So musste er wohl oder übel mit kleineren Tieren vorlieb nehmen. ʼWas soll ich nur tun?ʼ fragte sich Öcetim. ʼSee und Bäche werden zufrieren und Fische nicht mehr zu fangen sein, viele Tiere werden sich in Höhlen verkriechen und der Schnee wird alles zudecken, da kann auch die Göttin im See nichts dagegen machen. Ob ich doch weiter ziehen soll, um vielleicht freundliche Menschen zu finden?ʼ

Täglich suchte er nach der Göttin im See und brachte ihr seine speziellen Opfer, doch eine Antwort erhielt er nicht. Öcetim war enttäuscht, schließlich gab er seine Suche auf. Als es kälter wurde und der erste Raureif morgens auf den Gräsern lag, packte er Proviant und seine Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Hoffnungsfroh folgte er dem Bach, der größer und größer wurde und schließlich in einen Fluss mündete. Den konnte er noch durchwaten, den nächsten Fluss musste er schwimmend durchqueren. Nebenbei fing Öcetim Fische, erlegte mit seiner Wurfschleuder Enten und Haubentaucher, fand Preisel - und Blaubeeren, so dass er nur selten auf seinen Proviant zurückgreifen musste.

Aus der Ferne betrachtet stellte der ganz in Leder gekleidete Junge bereits eine stattliche Erscheinung dar. Er war hochgewachsen und breit, größer als die Jungen in seinem Alter. In seine kastanienbraunen Haare waren Muscheln und Federn eingeflochten, sie fielen ihm in sanften Locken bis auf die Schultern, doch bei näherer Betrachtung fielen seine in tiefen Höhlen liegenden dunkelbraunen Augen auf. Sie blickten unruhig umher, auch seine Nasenflügel waren stets in Bewegung als witterten sie überall Gefahr. Über seiner Oberlippe sprossen erste Barthaare und um seinen Mund spielte trotz seiner Jugend bereits ein harter Zug.

Nach vielen Tagen der Wanderung sah er Rauch aufsteigen. Tagelang beobachtete er das Dorf und die Menschen dort, wagte aber nicht, Kontakt zu ihnen aufzunehmen. Zu tief saß der Schock des Überfalls auf sein Dorf noch in seinem Herzen. Obwohl er sich nach Menschen sehnte, hielt er sich weiterhin versteckt.

Es war ein großes Dorf, viele Felder mit abgeerntetem Getreide und Herden von Schafen, Ziegen und kleinen Rindern lagen um es herum. Leute drängten in die befestigte Siedlung durch das Tor im Palisadenwall. Andere kamen aus der Siedlung heraus, die Menschen dort waren sehr beschäftigt. In seinem alten Dorf hatte es zwar auch viel zu tun gegeben, doch hatten seine Leute viel mehr Muße gehabt, Zeit um nichts zu tun oder einfach nur um beieinander zu sitzen und zu reden. Die herrschende Unruhe kam Öcetim seltsam vor. Da ihm aber nichts Verdächtiges auffiel, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und näherte sich vorsichtig dem Dorf.