Tod im ewigen Eis

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II

Etwas Besonderes schien in der großen Siedlung vor sich zu gehen. Viele Menschen bewegten sich auf den Straßen und Plätzen, die meisten waren gut gekleidet, viele hatten Kleider aus gewebten Stoffen, nicht wenige trugen hübsche Halsbänder um ihren Hals mit Steinen in leuchtenden Farben. Viehherden und Getreide waren in diesem Jahr gut gediehen, dafür opferten die Menschen in einem großen Dankfest den Göttern einen Teil der Feldfrüchte, Ziegen und Schafe. Sie verbanden damit die Bitte auf eine gute Ernte und den Erhalt ihrer Viehbestände im kommenden Jahr. Opferplätze wurden aufgebaut, Getreide aus den Speicherkammern herangeschafft und Tiere in Pferche getrieben.

An zentralen Plätzen hatten sich Gruppen von Musikern postiert. Sie bliesen ihre aus Knochen gearbeiteten Flöten und die aus den Stängeln der Engelwurz gefertigten dicken Blasrohre und schlugen ihre Rasseln und Trommeln in einem drängenden wilden Rhythmus. Die Musikergruppen wetteiferten miteinander, und die Menschen spendierten ihnen einen Becher Pastosaako nach dem anderen.

Öcetim legte seine Scheu ab. Nach der langen Zeit der Einsamkeit berauschte sich der junge Mann an dem Lärm, genoss die Ausgelassenheit und das wilde Treiben. Der stampfende Rhythmus ging ihm in die Beine und er bewegte sich im Takt der Musik. Nicht weit von ihm wurde Pastosaako ausgeschenkt und er verspürte große Lust auf dieses süffige Getränk.

Öcetim erinnerte sich, auch in seinem Heimatdorf hatte es dieses Getränk gegeben, das den Geist beschwingte. Pastosaako gab es allerdings nur, wenn die ungefähr daumengroßen gelblichen Wurzeln zu finden waren, aus denen dieser leckere Trank gemacht wurde. Die Wurzeln wurden gekocht, dann von den Frauen gekaut und dabei mit ihrem Speichel vermischt und wieder ausgespuckt. Die dicke Flüssigkeit wurde mindestens drei Tage lang in einem Gefäß aufbewahrt, je länger sie dort lag, desto stärker konnte der Pastosaako den Geist anregen. Öcetim hatte dieses Wohlgefühle erzeugende Getränk geliebt.

Einer Frau hinter dem Tresen fiel der Junge mit dem dichten schulterlangen Haar und den dunkelbraunen Augen auf. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Sie winkte Öcetim zu ihrem Stand und schenkte einen Krug für ihn ein. Doch bevor sie ihn Öcetim reichte, hob sie einen Finger in die Höhe. Öcetim schaute sie verständnislos an. „Einen Rad kostet der Krug“, meinte sie.

„Einen Rad? Was ist denn das?“

„Du bist wohl neu hier? Kann man ja auch sehen…“, amüsierte sie sich über den großen Jungen. „Einen Rad musst du mir geben für einen Becher Pastosaako, normalerweise. Aber weil Du so ein hübscher junger Mann bist, bekommst Du diesen Krug heute ausnahmsweise von mir geschenkt.“

„Die Götter mögen immer gnädig mit Dir sein“, bedankte sich Öcetim und setzte den Krug an seine durstigen Lippen. „Schmeckt gut, nicht wahr?“ lächelte ihn die Frau an.

Öcetim nickte und wischte sich den Schaum vom Mund. „Wunderbar, wie der Saft der Göttinnen“, entgegnete ihr Öcetim, in dem er einen Trinkspruch seines Vaters benutzte. Den hatte er zwar nie verstanden, aber er erinnerte sich, dass die Leute dann immer gelacht hatten.

„Schau, das ist ein Rad, er ist mit einem besonderen Zeichen aus Lehmerde gebrannt, speziell für diese Tage des großen Opferfestes. Du kannst eine ganze Hand voll Rad eintauschen gegen ein lebendes Huhn oder gegen drei geschossene Enten, für ein Schaf bekommst Du sogar einen Mond voll Rad“, erklärte sie, indem sie ihm die Finger ihrer beiden Hände insgesamt drei Mal zeigte. Öcetim lächelte ihr freundlich zu, verstanden hatte er sie allerdings nicht. Doch wusste er nun, dass er Rad brauchte, um Pastosaako kaufen zu können. Er trank seinen Krug aus, gab ihn der Verkäuferin mit einem unsicheren Lächeln wieder zurück und ging zu einer der Musikgruppen.

ʼDas ist wirklich berauschend schönʼ, dachte er. ʼAber was mache ich hier, ohne Rad? Ob’s besser wäre, zurück in den Wald zu gehen, um erst mal zu schlafen? Morgen ist auch noch ein Tag, dann wird man ja sehen…ʼ Tief drinnen im Wald suchte sich Öcetim einen Schlafplatz, konnte aber nicht schlafen, er war ganz verwirrt. Noch nie hatte er so viele Menschen gesehen, und so ein riesiges Fest hatte er sich gar nicht vorstellen können.


Am nächsten Morgen ging Öcetim schon früh auf Entenjagd. Anschließend wusch er sich besonders gründlich und zog sich sorgfältig an. Er versteckte seine Speere und einen Großteil seiner Ausrüstung in einer Baumhöhlung, sein scharfes Feuersteinmesser steckte er an seinen Gürtel. So gerüstet ging er erneut in die große Siedlung. Schon vor Mittag war es laut und bunt und der Pastosaako floss in Strömen. Auf den Opferplätzen wurden Tiere geschlachtet, aus deren Innereien weise Leute die Zukunft lasen. Nachdem er seine Enten eingetauscht hatte, ging er wieder zu dem Pastosaakoausschank, wo er tags zuvor schon gewesen war. „Einen Krug Pastosaako bitte“, bestellte er.

„Aber gerne“, lächelte ihn die Verkäuferin an.

„Schwer was los hier“, begann ein Mann mittleren Alters ein Gespräch mit ihm. „Neu hier in der Gegend?“

„Ja, ich komme von weit her. Tolles Fest hier, und so viele Menschen.“

„Ja, hier gibt es alles – und man kann alles haben, was das Herz begehrt. Pastosaako, Kleider, Waffen und sogar so manche hübsche Frau“, erklärte ihm sein Gesprächspartner. „Ich heiße übrigens Celso und komme von der Mine. Darf ich Dich zu einem Pastosaako einladen?“

Öcetim hatte gerade ablehnen wollen, als schon ein Krug Pastosaako vor ihm stand. „Du kennst die Mine nicht?“, fragte der kahlköpfige Celso und bestellte ungefragt zwei weitere Pastosaakos. Mit listig blitzenden Augen fuhr er fort: „Die Mine ist nicht weit von hier, da leben und arbeiten viele Menschen, sie holen wertvolle Erze und Steine aus der Erde.“

„Sind das die Steine, mit denen sich die Leute schmücken? Wozu braucht man denn Erze?“

„Ja, solch schöne Steine sind das, besser aber noch ist das Erz. Dafür geben Dir manche Leute alles was Du willst.“ Öcetim schluckte und schaute Celso verwundert an, denn er konnte sich unter „Mine“ und „Erze“ noch immer nichts Konkretes vorstellen. „Hier, Dein Pastosaako, Öcetim, auf die Mine und das Erz.“

Öcetim fühlte sich geschmeichelt, mit einem so erfahren Mann reden zu können, obwohl er vieles nicht verstand. Weil er noch viel mehr erfahren wollte, und da sich ihm so eine Gelegenheit so bald wahrscheinlich nicht mehr bieten würde, begann er stockend: „Die Mine…, aus der Mine, die nicht weit von hier ist, holen die Menschen Erze. Was aber sind Erze? Und warum bekommt man dafür alles was man will?“

„Weil sich aus dem Erz ein ganz besonderes Material gewinnen lässt, woraus geschickte Leute Beile und Dolche machen können, die viel besser sind als die aus Stein“, antwortete ihm der glatzköpfige Celso. Öcetim hatte so etwas noch nie gehört und konnte sich Messer und Beile aus diesem ganz besonderen Stoff auch nicht vorstellen. Von jeher wurden Messer, Äxte, Beile und alle anderen Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein gemacht. Was sollte nun bloß mit diesem anderen Stoff sein?

„Schau Dir diese zwei hübschen Dinger an, wie die mit ihren Ärschlein wackeln.“ Der Glatzkopf deutete auf zwei hübsche junge Frauen, die gerade am Ausschank vorbei schlenderten. Mit diesen Worten lenkte er Öcetims Aufmerksamkeit auf andere Dinge. „Das ist es, wofür es sich zu arbeiten lohnt.“ Öcetim verstand ihn nicht recht und schaute Celso verdutzt an. „Auf Junge, noch ein Pastosaako!“ Celso bestellte nochmals zwei weitere Krüge. „Auf die Frauen“, prostete er Öcetim zu.

„Wie schon gesagt, für Erz bekommt man alles was man will“, nahm Celso den Gesprächsfaden wieder auf. „Alles!“ und damit deutete er erneut auf die beiden jungen Frauen.

„Wie kommt man zur Mine und was arbeiten die Menschen dort?“ wollte Öcetim von ihm wissen.

„Es sind nur drei Tagesmärsche bis dahin. Und die Arbeit: naja, sie ist nicht leicht, man muss kräftig sein und ausdauernd arbeiten können. Aber es gibt immer genügend zu essen und Du kannst etwas verdienen, Rad zum Beispiel.“

„Kräftig bin ich und ausdauernd arbeiten kann ich auch“.

Das war genau das, worauf Celso hinaus wollte.

„Wenn Du willst, kannst Du mit mir kommen. Übermorgen schon werde ich mit ein paar anderen Jungen in Deinem Alter dorthin aufbrechen. Wir sehen uns…“

Im Vertrauen auf eine gesicherte Zukunft, auf eine Gemeinschaft mit anderen Menschen, auf einen Platz, wo er arbeiten und leben und vielleicht auch seine Stelle im Leben finden könnte, sagte ihm Öcetim zu. Nachts in seinem Waldlager aber gingen ihm wirre Gedanken durch den Kopf. Im Traum stapfte er durch kniehohen Schlamm, dann war er in einer dunklen Höhle eingesperrt, später kämpfte er sich durch Eis und Schnee, immer wieder fallend und beinahe im tiefen Schnee versinkend, während hungrige Wölfe ihn gierig umrundeten.

Am nächsten Morgen brummte sein Schädel. An seinen Traum konnte er sich nur noch schemenhaft erinnern, doch er schien ihm ein Zeichen zu sein, besser nicht mit Celso zu den Minen zu gehen. Öcetim grübelte, wälzte die verrücktesten Ideen in seinem Kopf, konnte sich aber nicht entscheiden. Auch wenn er sich immer wieder einzureden versuchte, dass ein Besuch in der Mine ja nicht schaden könne, er diese ja zu jeder beliebigen Zeit wieder verlassen könne. Irgendein böser Geist des Zweifels nagte an ihm.

 

Auf seinem Weg in die Siedlung tauchte Celso plötzlich vor ihm auf. „Du schaust nicht zufrieden aus. Was bekümmert Dich, mein Freund?“ Celso schaute ihm neugierig in die Augen. „Kann ich Dir irgendwie helfen?“

ʼDen wahren Grund kann ich ihm nicht nennen,ʼ dachte Öcetim und antwortete: „Es ist ein tolles Fest, alles was man begehrt ist hier zu haben. Pastosaako, gutes Essen – und Frauen.“ Öcetim bemühte sich wie ein erfahrener Mann zu wirken, großspurig tönte er. „Nur gibt es nichts umsonst, alle wollen die komischen Rad haben.“

Celso nickte bestätigend, drängte ihm mehrere Krüge Pastosaako auf und schließlich gelang es ihm, Öcetim das Versprechen abzunehmen, sich mit ihm am nächsten Morgen zu den Minen aufzumachen.

III

Hinter jedem Gebüsch und jedem Strauch versteckte sich ein Geist. Alles war heilig, die Quellen und Flüsse, der Wind, jeder Berg und jeder Baum, die Erde, die Seen, der Mond, die Sonne, die Sterne, besonders aber der Blitz. Auch die Tiere waren heilig, vor allem Hirsche, Biber, Schlangen, Adler und Schwäne. Ihnen allen erwiesen die Menschen Ehre, denn auch gnädige Götter können zürnen.

Dank der Gunst der Götter mussten die Aschkanen keine Not leiden. Sie lebten zufrieden und ihre Familien vergrößerten sich. Sofern es Streit und Krankheiten gab, waren spezielle Mittler gefordert. Die fanden in aufwändigen Zeremonien mit Hilfe der Götter die Schuldigen und die Ursachen, auch die Wege zur Lösung dieser Probleme wurden von den Göttern aufgezeigt.

Mehrere Familien, meistens zwei bis drei Dutzend, wohnten in größeren Siedlungen zusammen. Da sie Vorratshaltung betrieben, es bei ihnen also etwas zu holen gab, mussten sie ihre Dörfer vor Dieben schützten. Sie umgaben ihre Runddörfer mit Erdwällen, mit Palisaden und Zäunen. Die überwiegend an Seen und Flüssen wohnenden Aschkanen hatten große Boote, die sie in harter Arbeit mit ihren Feuersteinbeilen aus großen Bäumen herausschlugen. Sie fischten mit Netzen und Reusen aus Weidenzweigen, benutzten aber auch Bogen und spezielle Pfeile, die nicht eine, sondern gleich drei Spitzen hatten.

Im Hauptdorf der Aschkanen lebte die Schwänin, eine allseits geachtete Frau. Aus lehmiger Erde fertigte sie wunderschöne Keramikwaren, indem sie einen Wulst Tonerde auf den anderen setzte. In ihre Gefäße ritzte sie verschlungene Muster, auch Dreiecke und einfache Symbole von Tieren und Göttern. Dafür war sie weit über ihr Gebiet hinaus berühmt, viele Henkelkrüge konnte sie gegen bunt gewebte Stoffe und manchmal auch gegen ganze Kleidungsstücke eintauschen. Immer wieder wurde sie auch zu Kranken gerufen, denn sie war eine Mittlerin und stand somit auf derselben Rangstufe wie der Häuptling des Dorfes. Der wurde allerdings immer nur für ein Jahr gewählt, während sie von den Göttern als Mittlerin zwischen ihnen und den Menschen dauerhaft auserkoren worden war.

Vor langer Zeit, sie war damals noch eine heranwachsende Frau und hatte gerade erst ihre ersten Blutungen erlebt, war sie am See zum Fischen gewesen und eingeschlafen. Ein Schwan kam auf die Schlafende zu und begann leicht an ihren Fußzehen zu knabbern. Sie erlebte diese Berührung des Tieres als würde sie zärtlich liebkost, sie stöhnte wohlig, wollte weiter träumen. Beim Erwachen jedoch sah sie einen großen weißen Schwan vor sich stehen, der ihr direkt in die Augen blickte. Das Erstaunlichste war, dass sie verstehen konnte, was er zu ihr sagte.

„Du und ich – wir sind eines! Obwohl wir in verschiedenen Gestalten leben. Wenn ich am Himmel fliege, sehe ich die Welt und alle verborgenen Dinge. Ich sehe nicht nur, was die Menschen tun, ich kenne auch ihre Absichten und geheimen Gedanken. Ich kann bis zu Göttern hoch am Himmel oben fliegen und ihnen berichten. Sie tun mir ihre Absichten kund und sie geben mir Aufträge, die ich den Menschen zu vermitteln habe. Ich komme Dich wieder besuchen - und Du kannst mich jederzeit rufen“, krächzte der weiße Schwan, nahm Anlauf und hob sich hoch in die Lüfte.

Erschrocken und verwirrt blieb die junge Frau am Ufer zurück. ʼSoll ich eine Mittlerin werden?ʼ fragte sie sich.

Alle wussten, dass Krankheiten nicht von ungefähr kamen, dass sie immer von den Göttern gesandt waren. Vielleicht zur Strafe für ein Vergehen, für ein vergessenes Opfer oder vielleicht auch aufgrund eines bösen Zaubers. Da nichts auf der Welt ohne Grund geschah, mussten die Götter befragt werden. Ohne deren Anweisung bliebe jede Heilung nur vorgetäuscht, die Krankheit würde sonst über kurz oder lang wieder in den Körper zurückkehren.

Der Schwan besuchte sie immer wieder und forderte sie auf, von dem alten Schamanen ihres Dorfs die geheimen Dinge des Lebens zu lernen. Anfänglich eher widerwillig tat der alte Mann dies, freute sich aber bald, da das wissbegierige Mädchen schnell lernte. Sie lernte den Gebrauch von Weidenrinde, um Schmerzen zu lindern, von Beinwell und Kamille bei Verletzungen und Entzündungen, von Odermenning bei Durchfall und vieles andere mehr. Auch lehrte ihr der alte Schamane die Wirkung und die richtige Dosierung von verschiedenen Pilzen und von Schlafmohn, um in eine andere Welt zu treten und zu ihrem Totem, dem Schwan zu werden.

Im Lauf der Zeit wurde die Schwänin zu einer geachteten Schamanin. Sie heilte mit Erfolg Knochenbrüche, in dem sie die gebrochene Extremität mit Holzschienen ruhig stellte, sie behandelte die Entzündungen der Atemwege mit Inhalationen von Efeudämpfen und die Atemnot mit Extrakten von Weißdorn. Auch die Erkrankungen der Frauen und der alten Männer wusste sie mit großem Einfühlungsvermögen und den passenden Kräutern, Wickeln und Dämpfen zu kurieren. Die Leute im Dorf und auch in den anderen Siedlungen nannten sie bald nur noch voller Respekt die Schwänin.

Die Heilungen folgten einem vorgeschriebenen Ritual. In einem Haus mit steinernem Boden wurde der Kranke auf ein Lager aus Heu gelegt. Ein Feuer brannte in der Mitte der Hütte, in dem auch seltene Kräuter, Tierknochen und Vogelfedern verbrannt wurden. Die Schwänin saß dicht neben dem Kranken und blies auf ihrer aus einem Schwanenknochen gefertigten Flöte unaufhörlich dieselben Melodien. Danach rauchte die Schwänin einen mit zerriebenem Mohn versetzten Stängel aus Schilfgras und blies den Rauch dem Kranken ins Gesicht. Dann saugte sie aus seinem Bauch und seiner Brust kleine Steine heraus, spuckte sie ins Feuer, wo sie unter lautem Geprassel verbrannten. Die Schwänin sprang über und um ihren Patienten, schlug die Arme wie ein Vogel auf und nieder und krächzte wie ein Schwan, so dass sie in der dunklen und verrauchten Hütte von einem wahren Schwan bald nicht mehr zu unterscheiden war.

Jetzt konnte sie Kontakt zu den Göttern aufnehmen, ihnen vom Schicksal ihres Patienten berichten und Anweisungen der Götter erhalten, die genau und sofort umzusetzen waren. Es konnte sein, dass der Patient ein großes Opfer bringen musste für eine bestimmte Gottheit, gegen die er sich vergangen hatte, oder dass er das Dorf für eine Weile meiden musste. Es konnte aber auch sein, dass die Schwänin ihn verletzen musste, seinen Körper mit einem Stein aus scharfem Feuerstein zu öffnen hatte. Oft flossen aus diesem Schnitt Eiter oder andere übel stinkende Flüssigkeiten. Die Zeremonien dauerten üblicherweise die ganze Nacht und gingen bis zur Erschöpfung aller Beteiligten. Denn nur bei vollkommener Aufgabe seiner irdischen Person konnte ein Schamane den Kontakt zu den Göttern herstellen.



Auch die Schamanin hatte einen Mann genommen und drei Kinder bekommen, wobei eines gleich bei der Geburt und das zweite – noch ohne einen Namen erhalten zu haben – schon wenige Wochen nach der Geburt gestorben waren. Ihr drittes Kind hatte die gefährlichen ersten Monde überlebt. Der kleine Junge wurde den Göttern und allen Dorfmitgliedern bei einem Fest zu seinen Ehren vorgestellt und hatte bei dieser Gelegenheit seinen Namen bekommen: Gilger. Sein linkes Bein war in seiner Beweglichkeit ein wenig eingeschränkt, dieses Hüftleiden fiel zunächst nur der Mutter auf.

Gilger wuchs zufrieden und glücklich in der kleinen Dorfgemeinschaft auf, wo sein Vater Rodo und die Schwänin ein paar Ziegen und Schafe hielten. Gilger liebte diese Tiere. Er genoss ihren Geruch und mochte es gerne, wenn die Tiere sich an ihm rieben. Dies erzeugte wohlige Gefühle in ihm.

Mit der Zeit lernte er die einzelnen Tiere nach ihren Eigenheiten zu unterscheiden. Als er größer geworden war, arbeitete er als Hütejunge. Diese Arbeit gefiel ihm, denn dabei hatte er Muße und konnte unbehelligt auf seiner Flöte spielen. Wenn sein Vater ihn aufforderte, begleitete er ihn auch zur Jagd, aber lieber war er draußen bei der Herde, bei den friedlichen Tieren. Häufig schlief er nachts unter freiem Himmel bei den Ziegen und Schafen, ihm schien, als funkelten die Sterne draußen auf den Weiden strahlender als in ihrem Dorf.

Ziegen und Schafe hatten verschiedene Besitzer, wurden aber gemeinsam in Herden gehalten. Die Tiere waren sehr wertvoll, denn außer der Wolle lieferten sie Fleisch, Fett, Leder, Sehnen, Knochen und nach dem Lammen auch Milch. Ihre Weiden lagen oft weit entfernt von den Dörfern. Hirten bewachten sie und schützten die Herden vor Raubtieren. Im Frühsommer wurden die Tiere ins Dorf getrieben, wo ihre wenige harte Wolle geschoren wurde. Winters blieben sie in Pferchen in der Nähe des Dorfes. Wenn die Weiden von Schnee bedeckt waren, gab man ihnen Laubheu zum Fressen. Dazu mussten im Sommer viele Zweige von Laubbäumen geschnitten und getrocknet werden. Schließlich musste das Laubheu bis zum nächsten Austrieb reichen.

Ohne ersichtlichen Grund wurde Gilgers Vater krank. Er begann zu husten, Blut zu spucken, wurde immer schwächer und konnte schließlich nicht mehr gehen. Die Schwänin und Gilger versorgten ihn aufopferungsvoll in seiner Hütte, brachten ihm die leckersten Speisen und Getränke. Trotz vieler aufwändiger Zeremonien hatte die Behandlung der Schwänin keinen Erfolg. In diesem Fall versagten sich ihr die Götter. In ihrer Not rief die Schwänin auch andere Schamanen zu Hilfe, doch auch die konnten nicht den bösen auf Gilgers Vater liegenden Zauber bannen. Blutspuckend und bis auf Haut und Knochen abgemagert verstarb Rodo. Gilgers Vater hatte diese Welt verlassen und sich auf die lange Reise zu den Göttern begeben. Gilger vermisste seinen Vater sehr.

Da es nun an ihm lag, ab und an Fleisch nach Hause zu bringen, musste er jagen lernen. Er hatte nie gerne gejagt und deshalb auch nicht richtig aufgepasst, wenn sein Vater ihn in der Jagd unterwies. Um seine Bogenschusstechnik zu verbessern, übte er immer wieder mit Pfeil und Bogen, wenn keiner ihn sehen konnte. Mit dem großen Bogen seines Vaters zu schießen war nicht einfach, allein ihn zu spannen kostete viel Kraft. Dann begannen seine Arme zu zittern, was seine Zielgenauigkeit deutlich minderte.

Bei seinen Übungen schoss er auf eine Zielscheibe, die er in den Formen einer Frau in eine große Buche ritzte. Oft stellte er sich dabei die Mädchen vor, die sich wegen seines hinkenden Gangs über ihn lustig machten. Insbesondere die kichernde Maluga war sein bevorzugtes Zielobjekt. Allmählich wurde er ein besserer Schütze, er zielte auf die Stirn von Maluga, auf ihre Brüste, ihren Bauch und am liebsten noch etwas tiefer. Wenn sein Pfeil diese Stelle seiner Zielscheibe traf, stieß er einen Freudenschrei aus. Schließlich hatte er seine Treffsicherheit soweit verbessert, dass er mit Aussicht auf Erfolg auf die Jagd gehen konnte. Gelegentlich brachte er ein kleines oder krankes Reh, eine Ente oder einmal sogar einen Biber mit nach Hause.

Die Schwänin war inzwischen eine der anerkanntesten Heilerinnen im weiten Umkreis geworden. Die Kranken kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Zu ihren Zeremonien kamen Männer und Frauen mit chronischen Wunden, mit Potenzstörungen, Leistungsschwäche und Kurzatmigkeit. Menschen, die in tiefer Dunkelheit und Traurigkeit lebten, Frauen, die keine Kinder gebären konnten, Kinder mit Durchfall und Hautauschlägen, mit Eiterbeulen und mit Knochenbrüchen. Für sie alle erhob sich die weiße Schwänin unter Aufgabe ihrer eigenen irdischen Identität in große Höhen empor, um mit den Göttern die Angelegenheit des Kranken zu besprechen und ihre Anweisungen zu hören.

Eines Tages wurde eine junge Frau zu ihr gebracht. Maluga war erst vor Kurzem von ihrem ersten Knaben entbunden worden. Nun hatte sie eine entzündete Brust, außerdem Fieber und sie stöhnte vor Schmerzen. Die Schwänin untersuchte Maluga, gab ihr einen Sud aus Weidenrinde, band die entzündete Brust hoch. Weil dies der kranken Frau aber keine große Linderung verschaffte, flößte sie ihr auch eine genau bemessene geringe Menge an Mohnsaft ein. Maluga fiel daraufhin in tiefen Schlaf, am nächsten Morgen ging es ihr nur wenig besser. Deshalb mussten nun in einer speziellen Zeremonie die Götter um Rat gefragt werden.

 

Die Schwänin tanzte um den Körper der jungen Frau, immer wilder tanzte sie und plötzlich trug sie ihr weißes Federkleid. Sie bewegte sich wie ein Vogel und begann zu fliegen, bis hinauf zum Sitz der Götter flog sie, um deren Rat zu erhalten.

„Ein vergifteter Pfeil durchdrang ihre Brust,“ sprachen die Götter. „Wer hat auf diese unschuldige junge Frau geschossen?“ fragte die Schwänin mit gesenktem Kopf. Denn nie wagte sie es, den Göttern ins Gesicht zu blicken. Die geflüsterte Antwort der Götter ließ ihr Gesicht und sogar ihren Schnabel bleich werden. Der weiße Schwan kehrte zurück in die Hütte, zu ihrer Patientin und ihrem Helfer. „Sie wurde durch einen magischen Pfeil verletzt.“

„Ein Pfeil fliegt nie von selbst, immer gibt es einen Schützen. Wer sollte auf diese junge Frau schießen?“ fragte der Helfer.

Noch halb in Trance flüsterte die Schwänin mit versagender Stimme: „Die Götter sagten, es sei Gilger gewesen, mein Sohn.“ Sie hämmerte mit beiden Fäusten auf Maluga ein, sah mit irrem Ausdruck ihren Helfer an. „Was machen wir nur?“ fragte die Schwänin mit krächzender Stimme. „Wir können Gilger doch nicht…“ Ihr Helfer aber hörte sie schon nicht mehr.

„Menschen, die Pfeile auf andere Dorfbewohner schießen, haben in unserer Siedlung nichts verloren. Bist Du denn ganz sicher, dass Du auch alles richtig verstanden hast?“ Der Häuptling blickte streng auf den Helfer der Schwänin, fragte mehrmals nach und formte seine Gedanken langsam zu Worten: „Der Sohn der Schwänin hat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und deshalb ist Maluga erkrankt, das hat die Schwänin selbst gesagt. Wenn es die Götter ihr selbst mitgeteilt haben, dann kann daran wohl kein Zweifel bestehen.“

Er wiegte bedächtig seinen Kopf, stützte ihn in beide Hände und atmete langsam aus. Hatte er nicht gehört, dass Gilger seine Pfeile auf Zielscheiben schoss, die Frauen abbildeten? Das hatte ihn bisher nicht gestört, doch jetzt sah die Sache anders aus. Ihm oblag es, Schaden vom Dorf abzuwehren, dessen Schutz ihm von seinen Bewohnern und den Göttern anvertraut worden war. Woran also noch zweifeln? „Gilger hat seinen Platz in unserer Dorfgemeinschaft verwirkt!“ sprach der Häuptling laut und bestimmend. „Nehmt ihn gefangen und bring ihn gefesselt zu mir!“



In dieser Nacht konnte die Schwänin nicht schlafen. Sie wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. ʼGilger darf nicht sterben, er ist noch so jung, Es war doch keine böse Absicht, als er auf Maluga als Zielscheibe in den Baum ritzte. Erst kürzlich hatten die Götter ihren Mann sterben lassen. Und jetzt Gilger? Wofür wollen sie uns strafen?ʼ

Die Schwänin erhob sich und eilte auf die kleine Anhöhe, von wo sie auf ihren geliebten See sehen konnte. Der schon zu drei Vierteln volle Mond spiegelte sich silbern im ruhigen Wasser. Zwei Schwäne nahmen Anlauf im Wasser, hoben schwerfällig ab in die Luft und flogen hoch und höher. Sie flogen über den Wald und ihr Dorf. Seufzend schaute sie ihnen nach, bis sie aus ihrem Gesichtskreis verschwanden.

In drei Tagen wird der Mond gerundet sein, in drei Tagen wird der Dorfrat sein Urteil fällen. Was konnte sie schon erwarten? Hatte sie doch selbst in jener denkwürdigen Sitzung den Ratschluss der Götter mitgeteilt. Maluga war inzwischen wieder wohlauf. Wofür sollte Gilger jetzt noch sühnen? Die Schwänin streckte sich, schüttelte ihren Kopf. Dann besann sie sich auf ihre Stärken. Sie konnte sich völlig geräuschlos bewegen, beinahe fliegen. Und sie hatte die schärfsten Messer, mit denen auch die dicksten Stricke rasch durchschnitten werden konnten.

Die Schwänin musste sehr vorsichtig sein, denn der fast volle Mond verbreitete ein helles Licht. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Dorfbewohner schliefen, schlich sie zu dem an einen Pfosten gebundenen Gilger. Rasch schnitt sie seine Fesseln durch und drückte ihn kurz an ihre Brust. So schnell sie konnten, flüchteten sie aus ihrem Dorf. Sich an den Händen fassend, passierten sie den Durchgang im Erdwall, bald schon hatte sie das Dunkel des Waldes verschluckt. Kein Dorfbewohner hatte etwas bemerkt.

Leise führte die Schwänin ihren Sohn durch dichtes Unterholz bis zu einem Bach. In diesem wateten sie eine lange Strecke, so dass selbst Hunde ihre Spur verlieren würden. Endlich kamen sie zu einem kleinen Platz, wo die Schwänin schon tags zuvor an einem Baum zwei Tragegestelle mit allem Notwendigen aufgehängt hatte, das für eine längere Reise gebraucht wurde: In Gilgers Tragegestell hatte sie Messer und Beile, Schnüre und aus Wolle gewebte Kleider gepackt, selbst Gilgers Flöte hatte sie nicht vergessen. In ihren Sack hatte die Schwänin eine kleine Notapotheke mit Weidenrinde und Birkenporlingen gesteckt sowie ein Päckchen mit gelber Tonerde, das sie Okra nannte und für rituelle Zeremonien benutzte. Außerdem hingen an einem Ast ein Bogen und ein Köcher mit mehreren Pfeilen, in einem Sack waren Fladenbrote, und gedörrter Fisch. Gilger stopfte gierig das Brot und den Fisch in sich hinein und trank in großen Zügen. Die Schwänin schaute ihrem Sohn zu und freute sich, dass es ihm so gut schmeckte. Sie hingegen wollte weder essen noch trinken.

Immer weiter dem Bach folgend, marschierten sie die ganze Nacht weiter, bis sie im Morgengrauen eine kleine Höhle fanden. Dort aßen sie den Rest ihrer Vorräte und ruhten sich für ein paar Stunden aus. Gilger war sofort eingeschlafen, in tiefen Zügen atmete er ein und aus. Die Schwänin jedoch fand keinen Schlaf. ʼHatte sie richtig gehandelt? Hatte sie sich an den Göttern versündigt? Würden sie und Gilger dies zu büßen haben? Jetzt schon bald oder sehr viel später erst?ʼ Diese Gedanken quälten sie sehr. Ihr Körper war todmüde, doch ihr Geist fand keine Ruhe. Sie fürchtete nicht so sehr, dass die Dorfbewohner sie finden könnten. Viel mehr ängstigte sie sich vor der Rache der Götter, der sie nicht entgehen konnten.

Knackende Geräusche weckten sie aus einem schweren Traum. Gilger war aufgestanden, hatte trockenes Holz gesammelt, das er jetzt klein brach, um damit ein Feuer zu machen. Fröstelnd und schweißgebadet stand sie auf und setzte sich zu ihrem Sohn ans wärmende Feuer.

„Was ist mit Dir?“ fragte Gilger und nahm sie in den Arm. „Du hast Fieber, Du wirst doch jetzt nicht krank werden.“

Die Schwänin hüllte sich fest in ihre Kleider und zog ihren Fellumhang eng um sich. Der Kräutertee, den Gilger für sie gekocht hatte, wärmte sie. Sie trank ein paar Schlucke, essen konnte sie aber nicht. „Wir müssen weiter...“, sagte sie nur, stand auf, packte ihr Bündel und legte schon die ersten Schritte zurück. Gemeinsam marschierten sie in eine ungewisse Zukunft.

Seit Tagen wanderten sie an einem großen Fluss entlang. Ansiedlungen von Menschen umgingen sie weiträumig, vermieden Begegnungen und Gespräche mit fremden Menschen. Die Schwänin wurde immer schwächer, nur noch kurze Wegstrecken bewältigte sie. Sie war verstummt, lebte in ihrer eigenen Welt. Von der Umgebung und selbst von ihrem geliebten Sohn nahm sie kaum mehr Notiz. Sie ließ sich von ihm führen und tat widerspruchslos alles, was er von ihr verlangte. Müden Schrittes schleppte sie sich voran. Sie aß nicht mehr, selten trank sie noch etwas Wasser.

Eines Morgens stand sie nicht mehr auf. Abgezehrt bis auf die Knochen konnte sie nicht mehr, und sie wollte auch nicht mehr. „Was soll ich nur machen mit Dir?“ klagte Gilger. „Du hast mich vor dem Tod in unserem Dorf gerettet, und nun willst Du hier sterben. Wozu das alles?“