Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)

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Mr. Blettsworthy vergißt sich vollkommen

Meine eingehende, persönliche Erzählung muß nun einem unbestimmten Bericht Platz machen. Die Ereignisse der folgenden sechs Wochen haben so gut wie gar keine Spuren in meinem Gedächtnis zurückgelassen. Ich konnte niemals feststellen, was aus meinem Rad wurde, noch wie ich nach Oxford gelangte. Ich kam nämlich spät am Abend in meine Wohnung in Carew Fossetts zurück, und zwar in einer Droschke, den Kopf sachgemäß verbunden.

Dann scheine ich eine Woche oder sogar noch länger in Oxford verblieben zu sein. Ich oblag meinen geschäftlichen Angelegenheiten auf eine sehr unzulängliche Art. Ich erfuhr, daß Graves die gesamte ihm von mir zur Verfügung gestellte Summe behoben und einen Posten bei einer Handelsgesellschaft an der Goldküste angenommen hatte. Er schrieb mir, wenn ich nicht irre, einen Brief, in dem er Entschädigung und Rückzahlung versprach und etwas wie Bedauern ausdrückte. Höchstwahrscheinlich schrieb er mir, aber ich glaube nicht, daß ich den Brief noch habe. Mr. Ferndyke scheine ich von dem Treubruch meines Partners und meinen geschäftlichen Nöten nicht in Kenntnis gesetzt zu haben. Das Eingeständnis war mir wohl zu demütigend, nachdem ich kurz vorher so große Zuversicht an den Tag gelegt hatte. Ich zog vielmehr einen schäbigen kleinen Oxforder Anwalt ins Vertrauen, der sich hauptsächlich mit den Wettrennangelegenheiten der Studenten befaßte. Er traf etliche recht voreilige und unvorteilhafte Verfügungen betreffs der Aktiva unserer Gesellschaft. All dies ist völlig aus meinem Gedächtnis entschwunden. Zweimal oder auch noch öfter versuchte ich, wenn ich nicht irre, Olive Slaughter allein zu sehen; sie mochte ihrer Mutter gesagt haben, daß sie sich vor mir fürchte, jedenfalls schlugen meine Versuche fehl. Ein schrecklicher Verband über dem einen Auge mag meiner äußeren Erscheinung etwas Bedrohliches gegeben haben. Ich bilde mir ein, daß mich etliche Anfälle heftiger Wut überkamen, doch zweifle ich, daß das in Anwesenheit von Menschen geschah. Ich habe nur eine ganz schwache Erinnerung daran. Zu einer Klage wegen Nichterfüllung des Eheversprechens kam es nicht.

Niemand wußte genau, wie und wann ich Oxford verließ. Ich beschritt meinen einsamen Weg, und nur meine Wirtin vermißte mich. Mr. Ferndyke beglich später meine Mietschuld und holte auch meine Sachen. Drei Wochen lang lassen sich meine Unternehmungen nicht verfolgen. Am Ende dieses Zeitabschnittes wurde ich in einer Hinterstraße eines der äußeren Bezirke von Norwich gefunden, und zwar um drei Uhr früh von einem Polizisten. Ich war von Straßenschmutz bedeckt, hatte keinen Hut und keinen Penny in der Tasche und fieberte stark. Ich hatte wohl unmäßig viel getrunken, Narkotika zu mir genommen und mich offenbar in schlechter Gesellschaft befunden. Ich roch intensiv nach Äther. Ich hatte meinen Namen völlig vergessen, wußte nicht im geringsten, wer ich war, und trug keinerlei Papier bei mir, wodurch meine Identität hätte festgestellt werden können. Von der Polizeiwache brachte man mich ins Armenhospital; dort fiel es einer klugen Schwester auf, daß meine Kleider maßgeschneidert waren, sie untersuchte die innere Rocktasche und fand das Etikett eines Oxforder Schneiders, das meinen Namen und den meines College trug; durch diesen engen Kanal eröffnete sich aufs neue eine Verbindung mit meinen verlorenen und vergessenen Lebensumständen. Inzwischen blieb ich im Bette liegen, hörte nicht auf meinen Namen, war krank und zu apathisch, um zu genesen.

Langsam, aber stetig gelangte ich wieder zum Bewußtsein meiner selbst. Wann das war, weiß ich nicht mehr zu sagen. Ich bewahre den unbestimmten Eindruck, daß ich in eine höhere Klasse des Hospitals verlegt wurde, wo ich es bequemer hatte, und daß ich mich freute, als mir der Besuch Mr. Ferndykes angekündigt wurde. Ich erinnerte mich seines Namens als zu einem liebenswürdigen Menschen gehörig, meines eigenen jedoch konnte ich mich noch immer nicht entsinnen. Die erste Äußerung der wiederkehrenden Lebenskraft in mir war eine Welle der Abneigung gegen die mich betreuende Krankenschwester, ein geschwätziges Geschöpf mit dünnem flachsblondem Haar, das von Feindseligkeit gegen zwei bestimmte Männer erfüllt war und die Namen dieser beiden in einem aufreizenden Kehrreim zu ihren Reden unablässig wiederholte; »Hall Dane« und »Hall Caine« klang es immer wieder von ihren Lippen, während sie ihren Pflichten nachging. Hall Caine war, wie ich schließlich feststellte, der bekannte Romanschriftsteller; eine seiner Heldinnen hatte Anstoß bei ihr erregt, und zwar Gloria Storm, die von Leidenschaft zerrissene Krankenschwester. Hall Dane erkannte ich mit größerer Schwierigkeit als Lord Haldane, der den Status der Militärkrankenschwestern abgeändert hatte. Ich lag da und haßte sie, und plötzlich fiel mir ein Besuch des Lord Haldane in der »Union« ein. Dabei erinnerte ich mich einiger Sätze in einer Rede, die Lyulph Graves gehalten hatte – ich sah Lyulph Graves, wie er sich von dem Sitze neben mir erhob, um zu sprechen.

Ich war Arnold Blettsworthy vom Lattmeer College! Nun sammelten sich die Erinnerungen, den Schülern einer Klasse vergleichbar. Sie begaben sich auf ihre Plätze, nickten, schrien Namen, riefen einander zu …

Am nächsten Tag kam der alte Ferndyke, rosig, die Brille auf der Nase und besorgt. Sein rundes, glattrasiertes Gesicht ist in meiner Erinnerung überlebensgroß und wirkt überpersönlich.

Es ist, als ob ich ihn durch ein Vergrößerungsglas gesehen hätte. Das Gesicht ist ebenso gütig wie das meines Onkels, zeigt aber einen weltlichen Sinn, der meinem Onkel völlig fremd war. Eine Falte über dem einen Augenlid geht ein bißchen abwärts und läßt die randlosen Augengläser etwas schief scheinen. Sein Haar ist oberhalb des einen Ohres ein wenig angegraut und so glatt und ordentlich wie das Fell einer Katze. Er betrachtet mich, während er spricht, wie einer, der an schwierige Verhandlungen mit Menschen gewöhnt ist.

»Neurasthenie«, sagt er tröstend. »Eine Reihe von Mißgeschicken. Das kann jedermann geschehen. Sie haben sich unterkriegen lassen. Daran ist nichts, was Sie bedauern, nichts, dessen Sie sich schämen müßten.«

Er schien seine rosige linke Hand zu Rate zu ziehen. »Ich könnte Ihnen allerlei aus meiner eigenen Jugend erzählen«, fuhr er fort, als wollte er mir ganz außerordentliche Eröffnungen machen. »Zufälligerweise verschwor sich das Glück aber nicht wider mich. Die Hoffnung trügt nur zu leicht … In irgendeiner Form machen wir alle solche Erfahrungen, mein lieber Mr. Blettsworthy. Gewöhnlich auf eine etwas weniger heftige Art. Sie hat es ganz unversehens getroffen, aber es bleibt uns Menschen in einem solchen Falle nichts anderes übrig, als uns zusammenzureißen und unseren besten Traditionen und unserem wahren Selbst gemäß weiterzuleben.«

»Das will ich tun«, sagte ich.

»Ich möchte gern Ihre Weisungen entgegennehmen. Was soll nun geschehen?«

»Wollen Sie mich nicht beraten?« bat ich.

»Gewiß, sehr gerne«, erwiderte er. »Vor allem machen Sie sich keine Sorge über den Stand Ihrer Angelegenheiten in Oxford. Überlassen Sie es uns, darin Ordnung zu schaffen. Das wird sich alles regeln lassen. Mr. Graves und der überzogene Betrag sind weg. Schreiben Sie das ab. Der Mann wird nicht gut enden, auf welche Art, das sei Gott überlassen. Was die andere Schwierigkeit anbelangt – nun ja, die Mutter scheint Vernunft annehmen zu wollen, besonders jetzt, da sie denkt, Sie seien bankrott. Machen Sie sich auch über diese Geschichte keine Sorge. Sie sind aber für den Augenblick entwurzelt. Sie hängen in der Luft. Das Leben wird Ihnen leer und zwecklos vorkommen, wenn Sie nach Oxford oder nach London zurückgehen. Ergo dessen: Gehen Sie nicht nach Oxford oder nach London. Gehen Sie ins Ausland, und kommen Sie mit neuen Perspektiven nach England zurück. Reisen Sie. Das scheint mir der beste Rat, den ich Ihnen geben kann. Machen Sie eine Reise um die Welt. Nicht mit einem großen Passagierdampfer und ohne in Luxushotels zu wohnen, sondern auf eine menschlichere Art und Weise. Auf Frachtdampfern und auf dem Rücken eines Maultieres. Ich glaube, daß Ihnen eine solche Reise sehr gut tun wird – sehr gut tun wird. Denken Sie an die Fülle von Reisemöglichkeiten, die Ihnen, wenn Sie sich ostwärts wenden, von hier bis Kalifornien zur Verfügung stehen. Das wäre doch ein sehr interessantes Unternehmen, und vielleicht könnten Sie später sogar darüber schreiben.«

»Wie Conrad«, meinte ich.

»Warum nicht?« entgegnete Mr. Ferndyke, ohne Freude darüber zu verraten, daß ich an seinem Köder anbiß; auch schien er nicht daran zu zweifeln, daß ich ebenso gut wie Conrad schreiben können würde. »Sie werden ein sehr gesundes Leben führen. Ihre Nerven werden sich erholen. Sie werden Ihre harmlose Krankheit überwinden. Und ich glaube, ein gut Teil der notwendigen Vorbereitungen kann Ihnen erspart werden. Romer von der Schiffsreederei Romer & Godden ist Ihr Vetter zweiten Grades. Sie haben ihn auf einer Hochzeit kennengelernt, und er hat Sie gerne gehabt. Die Schiffe fahren da- und dorthin, fahren so gut wie überall hin, und wenn auch nur wenige davon Passagiere aufnehmen, so kann die Firma Sie doch auf irgendeinem als Sekretär oder Zahlmeister oder meinetwegen auch als Frachtaufseher unterbringen. Sie kann Sie nach allen Ecken und Enden der Welt schicken. Sie werden Handel und Wandel kennenlernen, werden Abenteuer, wirkliche Abenteuer erleben, etwas vom britischen Weltreich und viel von der ganzen Welt sehen. Den Oberlauf der Themse kennen Sie nun schon lange genug – dort ist sie ein Fluß für Knaben. Nun müssen Sie zum Unterlauf, der in die weite Welt hinausführt. Dort müssen Sie von neuem beginnen. Ihre Jugend ist vorbei. Was liegt aber weiter daran, Mr. Blettsworthy? Ziehen Sie aus, und werden Sie ein Mann.«

Mr. Ferndyke hielt plötzlich inne, hustete und wurde rot. Er hatte sich von der Rhetorik hinreißen lassen. Seine Augen waren ein wenig feucht, zumindest bildete er es sich ein. Er nahm seine Augengläser ab, putzte sie und setzte sie genauso schief wie vorher wieder auf.

 

»Mit einem Wort, Mr. Blettsworthy«, fuhr er munter fort, »ich rate Ihnen zunächst zu einer schönen und recht langen Seereise. Ihre Angelegenheiten sind in Unordnung geraten. Aber es bleibt Ihnen immer noch so viel übrig, um unabhängig leben zu können. Es wird alles seine Ordnung finden.«

DAS ZWEITE KAPITEL

erzählt, wie Mr. Blettsworthy in See sticht, schildert seine Reise und berichtet ferner, wie er Schiffbruch erleidet und auf einem treibenden Wrack zurückbleibt, wie Wilde erscheinen und ihn gefangennehmen.

8
Mr. Blettsworthy wählt ein Schiff

In Mr. Ferndykes Anwesenheit war ich fast wieder der Blettsworthy, der ich vor meiner Enttäuschung gewesen war; als ich aber nach einer zweiten Unterredung in London, während welcher sein Vorschlag weiter ausgeführt und schließlich von mir angenommen wurde, aus seinem Büro durch die hübsche Gegend von Lincoln’s Inn in die belebte Chancery Lane hinausschritt, fühlte ich mich als ein höchst unsicheres und schwankendes Wesen, das nur zu sehr des Trostes bedurfte. Der Widerhall harten Gelächters und andere häßliche Erinnerungen aus den Tagen meiner anonymen Lasterhaftigkeit lagen mir im Sinn; ich hatte etwas von der Niedrigkeit meiner Mitmenschen erfahren und etwas auch von den dunklen Abgründen in meiner eigenen Brust. Mr. Ferndyke hatte mir bei dieser zweiten Unterredung genau zwanzig Minuten seiner Zeit geschenkt, dann hatte er nach der Uhr gesehen und mich höflich verabschiedet. Er war hilfsbereit, aber er konnte mir nur vorübergehend helfen. Ich brauchte einen Freund. Ich brauchte einen Freund, der der Darlegung meiner Nöte unermüdlich und mit tröstenden Erklärungen gelauscht hätte.

»Das Meer! Die weite Welt! Die Menschheit!« Das waren schöne Worte, aber ich wünschte, daß ich eine bessere Antwort darauf gegeben hätte, wünschte, daß ich imstande gewesen wäre, eine bessere Antwort darauf zu geben.

Ich hätte zum Beispiel sagen können: »Sie haben recht, Sir. Und Sie können sich auf einen Blettsworthy verlassen: er wird sich bewähren.«

Seltsam, wie man so treffliche Antworten zu ersinnen vermag, ohne sie in Wirklichkeit geben zu können.

Der junge Romer, der kaum zehn Jahre älter war als ich selbst, gefiel mir gut. Auch er half mir, soviel es die ihm zur Verfügung stehende Zeit erlaubte. In seinem Fall war das nahezu ein halber Tag. Er sprach von Schiffen, die da- und dorthin fuhren, sprach von ihrem Ruf und ihren Leistungen. Er fragte mich, ob er mir Empfehlungsbriefe an Leute in den Anlegehäfen geben solle. Es würden zumeist nur Geschäftspartner sein, sagte er, doch würde ich vielleicht an dem einen oder dem andern Gefallen finden. Er ging eine Liste mit mir durch. Ob ich etwa den Amazonasstrom aufwärts bis Manaos fahren wolle? Das könnte ich sehr bald tun. Sehr interessant sei auch die Linie nach den Kanarischen Inseln und dann nach Brasilien hinüber und hinunter nach Rio. Oder – ja – wir können uns die Kanarischen Inseln auch schenken. Oder ich könnte ostwärts reisen. Eine große Ladung von Glasflaschen, billigen Nähmaschinen, Zelluloidpuppen, Bronzefiguren, Petroleumlampen, Nähgarn, patentierten Medikamenten, Kindernahrung und deutschen Uhren gehe nach Burma. Wie ich über Burma dächte? Vielleicht wolle ich in seinem Vorzimmer anhand der Liste einen Atlas studieren?

Die ganze Welt sich vorzunehmen und sie wie eine Speisekarte durchzugehen, war herzerfrischend, gab einem ein herrliches Überlegenheitsgefühl.

Schließlich einigten wir uns auf den »Golden Lion«, der zunächst nach Pernambuco und Rio gehen sollte.

9
Mr. Blettsworthy sticht in See

Wie viele Tausende von Menschen müssen das Gefühl der Befreiung mit mir geteilt haben, das mich befiel, als ich auf dem zitternden Deck des »Golden Lion« stand und nach den Ufern von Kent und Essex blickte, die an mir vorüberglitten und sich ferne bis gegen das große London hinzogen, das ich nunmehr hinter mir gelassen hatte. Mir war an jenem Abend, als ob ich aus einem engbegrenzten Leben in die Freiheit und das Abenteuer hinausträte, und ich vermeinte, daß der Mann, den ich in mir entdecken sollte, durch die salzige Flut, auf der ich ihn suchte, nur um so tüchtiger werden müsse.

Das weite flache Gebiet der belebten Hafendocks zu beiden Seiten, in welchem Häuser, Gasthöfe und Kirchen zwischen Schiffen und Barken auf dem Wasser zu schwimmen scheinen, war verschwunden; wo die Fähre von Tilbury nach Gravesend hinüberkeucht, tauchten vereinzelt kleine gelbe Lichter auf, die bald sehr zahlreich wurden; nun war die große Stadt selbst nichts weiter mehr als ein rußiger Fleck unterhalb des Abendrots; an der einen Seite zogen die Sandbänke der Canvey-Inseln vorbei, auf der anderen die sanft gewellten Hügel von Kent. Die Bläue des Zwielichts wurde immer düsterer. Glitzernd erschienen die zur See gerichteten Häuser von Southend, sein langer Pier zeigte auf uns und bald danach gegen London hin. Die Badeorte von Kent, Lichtpunkte am Saum des Nachthimmels, kamen heran und zogen vorbei. Funkelnde Leuchtaugen, gelb und rot, die in bedeutungsvollem Rhythmus aufblinkten, verloschen und wieder aufblinkten, und weit ausgreifende weiße Strahlen wiesen uns den Weg, schlossen sich hinter uns zusammen, wichen zurück und versanken. Dann waren nur mehr in weiter Ferne einige vor sich hinsinnende Schiffe sichtbar, die ohne Rücksicht auf uns, selbstsüchtig nur zu eigenem Schutze, ihre Lichter angesteckt hatten. Wir waren allein auf hoher See.

Ich hatte an jenem Abend das Gefühl, daß ich ins Weite hinausgelangt sei, während ich in Wahrheit zum ersten Mal im Leben ein Gefangener war.

Die Literatur aller Völker, insbesondere aber die englische, geht von der Annahme aus, daß In-See-Stechen ins »Freie« hinausgelangen heißt. In Wirklichkeit aber ist man nirgends auf der Welt im »Freien«, außer auf den Straßen und Wegen eines Landes, in dem wohlwollende Menschen wohnen. Man läßt nicht nur die Lichter und die Menge hinter sich, sondern auch den weiten Raum, in dem man sich bewegen kann, die Ereignisse und die wechselnde Umgebung. Nichts bleibt einem zuletzt als die Nacht – die leere Nacht. Man geht nach unten, kommt wieder herauf, schreitet auf dem engbegrenzten Deck auf und ab und vermeint, die Unendlichkeit auszukosten. Dann sucht man die Kajüte auf und legt sich schlafen. Die beginnende Morgendämmerung sickert in die Dunkelheit und gibt dem Licht der schaukelnden Öllampe eine trüb gelbliche Farbe.

Man starrt rings um sich, ehe man sich seiner neuen Umstände bewußt wird. Man erkennt seine erst halb ausgepackten Sachen. Alles befindet sich in einer geheimnisvoll schwankenden Bewegung und neigt sich langsam bald zu einem herüber, bald wieder von einem weg. Der Himmel draußen und der Horizont nehmen an diesem langsamen und endlosen Tanz teil. Man steht auf und zieht sich taumelnd an, dann stolpert man die Treppe hinauf auf das Deck und hält sich an der Reling fest. Wasser. Unermeßliche Wasserflächen um und unter einem, und droben feuchte, bewegte Luft; das sind die riesenhaften unsichtbaren Mauern, die dich – du weißt es nur noch nicht – einkerkern. Jedes Gefängnis auf dem Festlande hat zumindest doch eine, wenn auch verschlossene Pforte in die Welt hinaus; dieses Gefängnis aber bedarf keiner Schlösser, um dich völlig gefangenzuhalten.

Mr. Ferndyke hatte es gewiß gut gemeint, als er mich aufs Meer hinausschickte. Er hatte sich, davon bin ich überzeugt, ein sehr richtiges Urteil über mich gebildet, vom Meer aber wußte er nichts. Er glaubte der Gewohnheit und der Überlieferung gemäß, daß eine Seereise, insbesondere auf einem eigentlich nicht für Passagiere bestimmten Schiffe, an und für sich ein schönes und erhebendes Erlebnis sei. Auch mein Onkel wäre dieser Meinung gewesen. Britannien beherrscht die Wogen und wird von den Wogen beherrscht, und die verwundete Seele eines Briten, der Böses erlebt hat, flüchtet zum Meer wie ein Kind zur Mutter. Meereswinde streichen über unsere Insel hin, und es ist ein besonderer Vorzug Englands, nirgends hundert Meilen von den erlösenden Fluten entfernt zu sein. Alle Blettsworthys, heißt es, kehren instinktiv immer wieder zum Meere zurück. Sobald wir bei Sturm auf Deck stehen, fühlen wir uns glücklich und zu Hause. Ich gab mir alle Mühe, mich glücklich und zu Hause zu fühlen, aber ich mußte erst seefest werden. Immerhin hielt ich mich an der Reling fest, wiegte den Kopf von einer Seite zur andern und summte den Kehrreim eines Seemannsliedes vor mich hin – des einzigen Seemannsliedes, das ich kannte. Ich erinnere mich der Worte noch heute, denn ich merkte plötzlich, wie ganz besonders schlecht sie zu meinen Umständen paßten, und brach inmitten des Kehrreims ab.

»Seht, da steht sie und winkt ihrem Hans am Meer,

Und jeden Tag, wenn ich fort bin, wird sie schaun nach mir.

Die Liebste eines Seemanns muß ihm leuchten wie ein Stern,

Ho hoi, ihr Jungens, ho hoi!«

Ich brummte dieses für meinen Zustand so unpassende Lied vor mich hin, um meine Zweifel zu verscheuchen. Denn Zweifel hatten mich bereits befallen. Auch wollte ich mich der Art und Weise meiner neuen Gefährten anpassen, die, wie ich aus Büchern wußte, ganz gewiß besonders männliche Männer sein mußten; abgebrühte Männer; äußerlich hart und zähe, im Inneren aber zart und gemütvoll. Der nicht sehr liebenswürdige Empfang, den mir der Kapitän am Abend vorher hatte zuteil werden lassen, eine gewisse Gemeinheit und Heftigkeit seiner Rede – es hatte sich zwischen ihm und dem Steuermann ein Wortwechsel entsponnen, als das Schiff den Fluß hinuntermanövrierte – waren ohne Zweifel nur die rauhe Schale dieser prächtigen menschlichen Frucht.

Unser Kielwasser zog als ein langer Streifen hinter uns her und verlor sich in der Ferne, und der Rauch strömte weit leewärts. Am Steuerrad im Brückenhaus war ein Mensch teilweise sichtbar, auf dem Vorderdeck konnte ich Kopf und Rücken eines anderen unterscheiden; sonst war weit und breit keiner von meinen Schiffskameraden zu entdecken. Auf- und niederwogendes Wasser, ein graublauer Himmel, und nichts außer uns.

So also sieht es, überlegte ich, mit einigen wenigen Veränderungen des Himmels und der Gewässer auf drei Vierteln der Erdkugel aus. Das ist das wahre Gesicht des Planeten Erde. Landschaft ist die Ausnahme. Es war gut, sich darüber klarzuwerden. Die armen zusammengepferchten Menschen auf dem Festlande wenden drei Vierteln unserer Welt den Rücken. Ich glaubte dieses Verhalten tadeln zu müssen.

Ich bemühte mich, die aufrechte Männlichkeit meiner fünf Genossen auf diesem losgelösten Bruchstück der Menschenwelt voll zu schätzen. Denn fünf Seelen waren nun rings um mich für unbestimmte Zeit die einzigen Lebewesen meiner Art. Von der übrigen Schiffsmannschaft sah ich, Vett, unseren flinken kleinen Steward, ausgenommen, bis zu unserer Landung in Pernambuco so gut wie nichts.

Manchmal begegnete ich einem Heizer, wenn er frische Luft schöpfte, manchmal sah ich einige Leute, die unter der Aufsicht des Zweiten Offiziers irgendeine mir unverständliche Arbeit verrichteten; zuweilen hörte ich, wie eine Konzertina emsig, aber vergeblich bemüht war, die Melodie eines Schlagerliedchens zu spielen und alsbald plötzlich und offenbar gewaltsam unterbrochen wurde; und an schönen Abenden beobachtete ich die Matrosen, die in kleinen Gruppen auf dem Vorderdeck saßen und dabei plauderten oder nähten; das war alles, was mich in unserer kleinen Musterauswahl der menschlichen Gesellschaft an die unteren Klassen gemahnte. Zwischen ihnen und uns war eine strenge Scheidewand. Es galt als selbstverständlich, daß ihre Gefühle und Gedanken durchaus anders seien als unsere. Wir sechs waren aus edlerem Holz geschnitzt und standen auf einer höheren Ebene. Wir sprachen nur wenig und zurückhaltend mit ihnen. Es war, als ob irgendein heftiger Streit bloß oberflächlich beigelegt worden wäre und jederzeit wieder aufflammen könnte, falls jener Druck geringer würde. Wenn ich im Mittelschiff umherspazierte, hatte ich das Gefühl, daß die dunkle Pforte des Vorderdecks mich beobachtete und schlau abschätzte; und ich empfand es in meiner damaligen Verfassung als unangenehm, beobachtet und abgeschätzt zu werden.

Mein besonderer Gemütszustand zu jener Zeit bewirkte ohne Zweifel, daß ich den fünfen, denen man meine Gesellschaft aufgezwungen hatte, ein überkritischer und schwieriger Gefährte war. Meine heitere und unerfahrene Jugend, die mit der besten Meinung von den Menschen ins Leben hinausgestürmt war, hatte eine niederschmetternde Enttäuschung erlebt. Nun war ich nur schlecht imstande, meine Mitmenschen gelten zu lassen. Ich hatte das Vertrauen zu ihnen verloren. Ich mißtraute ihnen und fürchtete sie auch ein wenig. Ich wollte den Mut nicht verlieren, wollte mich nicht in mich selbst zurückziehen, aber ich fühlte mich im Zusammensein mit anderen bedrückt, und deshalb hatten meine Versuche, mich herzlich und kameradschaftlich zu geben, etwas Gekünsteltes. Und der Alte war mir von allem Anfang an nicht wohlgesinnt, wahrscheinlich, weil ich mich der äußeren Form nach nicht ganz richtig ihm gegenüber benahm, möglicherweise auch, weil er meine Anwesenheit auf seinem Schiff als Last empfand.

 

Er war ein untersetzter Mensch mit breitem Gesicht, rötlichem Haar, hellen Augenbrauen und einem bitteren Zug um den Mund. Seine kleinen grau-grünen Augen blickten mich giftig an.

»Das ist das drittemal, daß ich einen blinden Passagier auf diesen verdammten Kasten kriege«, sagte er, als Midborough, der Zweite Offizier, dessen Fürsorge mich der junge Romer im Dock anvertraut hatte, mich ihm vorstellte. Und er wandte sich ab und beachtete mich nicht weiter.

Auch als er das zweitemal von mir Notiz nahm, wandte er sich nicht unmittelbar an mich. »Vett«, hörte ich ihn plärren, als sich meine Gedanken eben dem Kaffee gewidmet hatten – Vett war der Steward. »Haben Sie unseren Supergentleman gerufen?«

Ziemlich bestürzt über diese Anfänge, machte ich mich daran, meine neuen Beziehungen so angenehm wie möglich zu gestalten. Es drehte sich offenbar alles um den Kapitän. Der Ingenieur hätte von Rechts wegen ein Schotte sein müssen, war jedoch in Wirklichkeit ein Riese von ausgesprochen semitischem Typus, mit krausem, schwarzem Haar, einer dicken Unterlippe und einem Akzent, den er offenbar am Unterlauf der Themse gelernt hatte. Der Erste Offizier war ein mageres, kleines, nachdenklich und grau aussehendes Individuum; man hörte ihn nur selten knappe Bemerkungen äußern; er stocherte häufig in den Zähnen herum und stimmte dem Kapitän in allem und jedem zu, meist noch ehe dieser seinen Satz zu Ende gesprochen hatte. Midborough, der Zweite Offizier, war nordischen Typs, blondhaarig, grobknochig und blaß; gegen den Kapitän verhielt er sich sehr vorsichtig, eine Vorsicht, die bei Rudge, dem jungen Dritten Offizier, an Angst grenzte. Da ich sah, welche hervorragende Rolle der Kapitän spielte, beging ich den Fehler, mich zu häufig und zu ausschließlich an ihn zu wenden; man muß nämlich einen Kapitän ebenso wie eine Majestät die Gesprächsthemen selbst wählen lassen. Angst vor meiner eigenen Schüchternheit mag meinem Benehmen etwas Unehrerbietiges gegeben haben. Ich hätte das Verhalten der anderen beobachten und es ihnen dann gleichtun sollen.

Da ich überdies sehr jung war und außer Wiltshire und Oxford kaum etwas von der Welt kannte – meine unseligen Tage der Lasterhaftigkeit hatte ich bereits aus meinem Gedächtnis verbannt –, mußte ich, wenn ich überhaupt sprechen wollte, meine eigene Person, Oxforder Angelegenheiten und das wenige, was ich über Bücher, Sport und Theaterstücke wußte, zum Gegenstand meiner Mitteilungen machen. Oder ich mußte über die Blettsworthys reden. Meine Absicht war, mich selbst darzustellen, um dadurch meine Gefährten zu ähnlichen Geständnissen zu veranlassen; heute sehe ich ein, daß ihnen vieles, was ich sagte, beschränkt und egoistisch vorgekommen sein muß.

»Haben Sie sich jemals fürs Bogenschießen interessiert, Kapitän?« fragte ich.

Der Kapitän hielt einen Augenblick im Essen inne und gab dann einen Laut von sich, der halb wie ein kurzes, scharfes Jappen, halb wie das Wort »was?« klang.

»Bogenschießen«, wiederholte ich.

Der Kapitän legte Messer und Gabel hin und betrachtete mich sehr ernst. Die Pause, die, wie ich zu fühlen begann, einen fragenden Charakter hatte, zog sich in die Länge.

Endlich brach der Steuermann das Stillschweigen. »Das gibt es wirklich«, sagte er. »Ich habe einmal ein Bogenschießen in Folkestone gesehen. Die Kerle haben riesenhafte Schießscheiben, aber nicht einmal die treffen sie. Es ist rätselhaft, wie sie da danebenschießen können.«

»Es ist ein Riesenspaß«, meinte ich, »auf einem grünen Rasen an einem sonnigen Tage.«

»Wenn man nichts anderes zu tun hat, vielleicht«, sagte der Ingenieur.

»Man wird in die Tage Robin Hoods und seiner fröhlichen Gefährten zurückversetzt«, führte ich weiter aus, »in das alte England und das goldene Zeitalter.« Dann ging ich zu persönlichen Erinnerungen über. »Einige Professorenfrauen in Oxford schießen außerordentlich gut.«

Daraufhin hatte niemand mehr etwas über die Kunst des Bogenschießens zu sagen, und es entstand wieder eine lange Pause. Ich wollte eben den Kapitän fragen, ob er sich für Liebhaberaufführungen von Theaterstücken interessiere, als er selbst das Stillschweigen brach, indem er eine die Schiffsladung betreffende technische Frage an den Steuermann stellte. In der Hoffnung, ich würde an dem Gespräch teilnehmen können, hörte ich aufmerksam zu, doch wenn das Thema in der besonderen Absicht, mich auszuschließen, gewählt worden wäre, hätte es mich nicht besser zum Stillschweigen zu bringen vermocht.

»Was sind die Schotte, von denen Sie sprechen?« warf ich schließlich ein.

Niemand antwortete mir.

Ich war einige Tage lang heftig bemüht, annehmbare Gesprächsthemen zu finden und mich zu einer vernünftigen Vertraulichkeit durchzuringen, schließlich verließ mich aber der Mut. Ich mochte tun, was ich wollte, die fünf Männer wollten nichts von mir wissen. Meine linkischen Versuche wurden immer schwächer, und am Ende gab ich sie ganz auf. Ich wurde in immer stärkerem Maße ein stummer Zuhörer, der den weisen Aussprüchen des Kapitäns, der Meinung des Steuermanns, den Äußerungen des Ingenieurs und den zustimmenden Sätzen der beiden jüngeren Offiziere lauschte. Doch waren die fünf von einer so tiefen Verachtung gegen mich erfüllt, und meine Gesellschaft war ihnen so lästig, daß sie mich nicht einfach still dasitzen ließen, sondern sarkastische Bemerkungen, Anspielungen und Sticheleien ersannen, die mich verletzten und in Verlegenheit brachten. Der Ingenieur erfand eine herrliche Beleidigung. Er hatte mich zuerst »Mister« genannt; dann verschluckte er die zweite Silbe des Wortes immer mehr und sprach mich schließlich ganz deutlich als »Miss« an. Der Kapitän entwickelte in seinen freundlicheren Augenblicken, das heißt gewöhnlich gegen das Ende einer Mahlzeit, eine Neigung zu zotigen Bemerkungen, die den Ingenieur offenkundig entzückten und zur Nachahmung reizten, während die jüngeren Männer ehrerbietigen Beifall zollten. Der Steuermann hingegen saß steif da und ließ weder Billigung noch Mißbilligung merken. »Ich fürchte, wir schockieren Sie, Miss Blettsworthy«, sagte der Ingenieur als Kehrreim nach jedem guten Witz.

Ich nahm einen Anlauf.

»Nicht im geringsten«, versicherte ich, als der Techniker seinen Satz zum hundertsten Male wiederholte. »Ich kannte einen schmutzigen alten Kerl in einem Oxforder Wirtshaus, der es sehr wohl mit dem Kapitän aufgenommen, ja, ihn sogar noch übertroffen hätte.«

Daraufhin verstummte der ganze Kreis. »Das kann ich nicht glauben«, sagte der Steuermann schließlich, als wollte er den Grund sondieren.

»Dieser alte Knabe kannte eine Unmenge Limericks«, berichtete ich. »Das waren Limericks.«

Ich hatte seinerzeit wirklich verschiedene unanständige Witze gehört und gab nun einige der übelsten zum besten. Niemand wagte zu lachen, und der Kapitän blickte mich über seine Serviette hinweg starr an.

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