Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)

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Er sprach etwa fünf bis zehn Minuten zu uns, sagte uns ohne vorherige Vorbereitung, was ihm bei unserem Anblick in den Sinn kam; er war dabei kaum bestrebt, uns Respekt vor irgendeiner höheren Macht einzuflößen, er wollte vielmehr unserer Jugend und erwartungsvollen Strebsamkeit ein aufmunterndes Wort sagen, das uns über Schwierigkeiten hinweghelfen sollte.

»Zivilisation«, pflegte er zu uns zu sagen. »Werdet hier tüchtig und kräftig und geht dann hinaus, um die Welt zu zivilisieren.«

Das war der Zweck der Imfielder Schule. »Zivilisation« war sein Lieblingswort; ich glaube, ich habe es sechsmal so oft aus seinem Munde gehört wie »Christentum«. Die Theologie war seinem Geiste ein Spiel, ein ziemlich müßiges Spiel. Er war für die Wiedervereinigung der ganzen Christenheit im Interesse der Zivilisation und setzte große Hoffnungen auf die heiligen Männer, die in der Troitzko-Sergijevskaja Lavra bei Moskau hausten und niemals zur gemeinen Wirklichkeit herabstiegen. Er wünschte einen Austausch orthodoxer und anglikanischer Priester. Seine Neigung, eingebildete Ähnlichkeiten zu sehen, war weit größer als seine Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen. Unter dem langen Haar und Bart eines russischen Priesters vermochte er sich sehr gut die Mentalität eines sanftmütigen englischen Hilfsgeistlichen vorzustellen. Er glaubte, daß der russische Landadel binnen kurzem dem englischen gleichen und ein Parlament in St. Petersburg errichten werde. Er stand mit mehreren Kadetten in Briefwechsel. Und der Streitpunkt zwischen dem lateinischen und dem griechischen Glaubensbekenntnis, die sehr wesentliche Meinungsverschiedenheit nämlich betreffs Filioque, galt ihm, so fürchte ich, nur als Wortklauberei.

»Im Grunde sind wir alle gleich«, sagte er, als er mich zur Konfirmation vorbereitete. »Man darf Formen und Formeln nicht zu wichtig nehmen. Es gibt nur eine Wahrheit auf der Welt, und alle guten Menschen kennen sie.«

»Darwin und Huxley?« wandte ich ein.

»Sind beide gute Christen im wahren Sinne des Wortes«, erwiderte er. »Das heißt nämlich, ehrliche Menschen. Kein Glaube ist gesund, wenn er sich nicht in die frische Luft wagt, sich Bewegung verschafft, sich um und um dreht und gelegentlich auch einmal auf dem Kopfe steht.«

An Huxley, diesem Athleten des Geistes und durch und durch rechtschaffenen Mann, haben die Bischöfe im Oberhaus viel verloren, versicherte er mir. Jedermann würde sein Wort vor dem so manchen Bischofs gelten lassen. Aus der Tatsache, daß Wissenschaft und Religion zwei Seiten der Medaille der Wahrheit seien, folge keineswegs, daß sie in Gegensatz zueinander stünden, und unbewußt ein Christ zu sein, bedeute vielleicht die Quintessenz des wahren Christentums.

»Wer da meint, er stehe«, zitierte mein Onkel, »sei auf der Hut, daß er nicht falle.«

Alle Menschen meinten im Grunde dasselbe, und jeder sei im innersten Herzen gut. Manchmal aber vergäßen sich die Leute. Oder verstünden nicht recht, wie die Schwierigkeiten des Daseins zu erklären seien. Wenn der Ursprung des Bösen meinem Onkel nicht viel Kopfzerbrechen bereitete, so brachte ihn die sittliche Lässigkeit seiner Mitmenschen doch mitunter aus der Fassung, glaube ich. Er pflegte beim Frühstück mit seiner Frau, Miss Duffield und mir Zeitungsnachrichten zu besprechen, und unterhielt sich mit den Tischgästen, die wir häufig hatten, über Verbrechen, über das unbegreifliche Verhalten kläglich gottloser Individuen, Mörder, Betrüger und dergleichen.

»Ach, ach«, pflegte er beim Frühstück auszurufen. »Das ist nun wirklich schimpflich.«

»Was ist denn schon wieder geschehen?« fragte Tante Dorcas.

»Was ich nicht begreifen kann, ist die gottlose Torheit solch eines Menschen«, meinte er.

Miss Duffield lehnte sich in Bewunderung auf ihrem Stuhl zurück und wartete, die Tante jedoch frühstückte weiter.

»Muß da dieser arme, alberne, wirrköpfige Kerl seine Frau vergiften. Versichert sie auf eine ansehnliche Summe – wodurch man auf die ganze Sache aufmerksam wurde – und gibt ihr dann Gift. Noch dazu sind drei nette kleine Kinder da. Als bei der Gerichtsverhandlung davon die Rede ist, wie sehr die Frau litt und daß sie ihr Schicksal beklagte, bricht der arme Teufel in Tränen aus. Der bedauernswerte Narr! Blödheit! Er steckte sein Lebtag in Geldsorgen … Ein Jammer!«

»Die Frau aber hat sterben müssen«, meinte Tante Dorcas.

»Wenn einer in solche Not gerät, verliert er jeden Sinn für das wahre Wertverhältnis. Ich habe das als Richter so oft mit eigenen Augen angesehen. Keinerlei Zuversicht mehr, kein Lebensmut und schließlich ein moralischer Zusammenbruch. Höchstwahrscheinlich wollte er ursprünglich nur zu Geld kommen, weil er es nicht ertragen konnte, seine Frau darben zu sehen. Und dann wurde das Verlangen nach Geld übermächtig in ihm. Er mußte sich um jeden Preis Geld verschaffen und vergaß darüber seine Frau und Kinder.«

Miss Duffield nickte zum Zeichen des Verständnisses und der Erbauung heftig mit dem Kopfe, Tante Dorcas aber schien noch nicht überzeugt.

»Was aber willst du mit dem Mann anfangen, mein Lieber?« meinte sie. »Man kann ihn doch nicht freisprechen, damit er hingeht und jemanden anderen vergiftet.«

»Du kannst ja nicht wissen, ob er das tun würde«, erwiderte mein Onkel.

»Christus würde ihm verziehen haben«, sagte Miss Duffield leise – die Stimme versagte ihr fast.

»Er müßte wohl gehängt werden«, meinte der Onkel, der sich intensiv mit der Frage meiner Tante auseinandersetzte. »Ja, er muß gehängt werden. (Dieser Bückling ist ausgezeichnet. Ich glaube, das sind die besten Bücklinge, die wir seit langem gehabt haben.)«

Er betrachtete die Sache von allen Seiten. »Ich würde ihm wohl seine Sünde verzeihen, nicht aber die Strafe erlassen. Nein. Um der Schwachen willen, die so leicht der Versuchung erliegen, muß er gehängt werden, ich gebe es zu. Ja. Er muß gehängt werden.« Er seufzte tief. »Jedoch im Geiste der Zivilisation. Verstehst du, es sollte jemand zu ihm gehen und ihm klar machen, daß es eine Strafe ohne Gehässigkeit ist, daß wir erkennen, welch arme, sündige, der Versuchung ausgesetzte Wesen wir alle sind, kein bißchen besser als er, kein bißchen, Sünder einer wie der andere; daß er aber gerade deshalb sterben muß. Denn der Gedanke an die unvermeidliche Strafe rettet so manche. Daher stirbt er trotz des schmählichen Todes, den er nun auf sich nehmen muß, ebensosehr zum Heil der Welt wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld. Das sollte man ihm klar machen … Ich wünschte, es stünde nicht der Tod durch den Strang auf seinem Verbrechen. Der Henker ist barbarisch. Ein Schierlingsbecher wäre weit zivilisierter, ein besonnener Zeuge, der dabei sitzt, und eine freundliche Stimme, die tröstenden und stärkenden Zuspruch leistet.«

»Wir werden so weit kommen«, sagte mein Onkel. »Fälle dieser Art werden immer seltener – in dem Maße eben, als wir toleranter werden und unser System sich bessert. Je zivilisierter wir werden, desto weniger Sorge, Kummer und Hoffnungslosigkeit wird es geben – desto weniger Ärmlichkeit, aus der solche Krisen entstehen. Aber auch weniger Strafen, wie wir sie jetzt verhängen. Es wird alles besser. Wenn du erst so alt sein wirst wie ich, Arnold, wirst du erkennen, daß alles stetig besser wird.«

Er blickte auf seine Zeitung, schüttelte traurig den Kopf und schien unentschlossen, ob er weiter lesen sollte.

Nein, er hatte einstweilen genug von der Zeitung. Er stand zerstreut auf, schritt zum Büfett und nahm sich noch einen Bückling …

Er behauptete immer wieder, daß er während der ganzen Zeit seiner richterlichen Tätigkeit niemals einen wirklich schlechten Mann noch eine wirklich schlechte Frau verhört habe, sondern nur unwissende, in moralischer Hinsicht beschränkte und hoffnungslos verwirrte Geschöpfe. Der innere Widerspruch in seinem Wesen ist mir heute klar. Die Theologie, zu der er sich von Berufs wegen bekannte, war auf die Lehre vom Sündenfall aufgebaut, und er leugnete diesen Sündenfall jeden Tag. Was bedeutete Sünde für ihn? Die Sünde wich seiner Meinung nach vor der Zivilisation. In der Vergangenheit mochte es wirklich gottlose Sünden gegeben haben, doch war solches Unkraut so lange niedergehalten worden, daß es jetzt nur mehr sehr selten, wirklich nur mehr ganz selten vorkam. Die praktischen Belehrungen, die er erteilte, waren nicht vom Gedanken der Sünde, sondern von dem des unabsichtlichen Irrtums durchdrungen. Deshalb predigte er nicht. Die Menschen aufzuklären, dünkte ihn weit besser.

Er lehrte mich, das Leben nicht zu fürchten. Furchtlos, ja völlig unbekümmert um die dunkelsten Ecken zu biegen. Die Wahrheit zu sagen und den Teufel zu beschämen. Den verlangten Preis wortlos und ohne Feilschen zu bezahlen. Man mochte dann und wann betrogen werden, mochte da und dort auf Roheit stoßen, im großen und ganzen aber würde man nicht verraten werden, wenn man den Menschen traute, sich ihnen anvertraute. Auch ein Hund beißt einen ja nur, wenn man ihm droht, ein Pferd schlägt nur dann aus, wenn man es erschreckt. Nur wer herausforderndes Mißtrauen oder einladende Furcht an den Tag legt, wird angegriffen. Solange die Bewegungen eines Menschen klar und selbstverständlich sind, wird selbst ein Hund ihn nicht beißen. Hätte man meinem Onkel vorgehalten, daß es nicht nur Hunde, sondern auch Tiger und Wölfe auf der Welt gebe, so würde er erwidert haben, man treffe diese letzteren in einer zivilisierten Welt so selten an, daß man ihnen keine Beachtung zu schenken brauche. Wir lebten in einer zivilisierten Welt, die täglich zivilisierter werde. Praktisch betrachtet, seien Übel, die man nicht beachtet, so gut wie ausgerottet. Es geschähen wohl Unglücksfälle, und zwar nicht nur solche materieller, sondern auch solche moralischer Art, doch gebe es genug anständige Menschen und genug guten Willen, daß man die bösen Zufälle außer acht lassen und unbewaffnet umhergehen könne. Ein Mensch, der eine Waffe bei sich trug, galt meinem Onkel als Raufbold oder als Feigling. Er konnte es nicht leiden, wenn einer Vorsichtsmaßregeln irgendwelcher Art gegen seine Mitmenschen gebrauchte. Deshalb haßte er Kassenregister. Er haßte es, wenn einer die Leute aushorchte, haßte Geheimnistuerei und Irreführung. Jedes Geheimnis war ihm eine Verdunkelung des Daseins, jede Lüge eine Sünde.

 

Die Menschen sind gut, solange sie nicht bedrängt, gereizt, hintergangen, bedrückt, erschreckt oder in Furcht versetzt werden. Die Menschen sind wirklich Brüder. Dies klarzulegen und überzeugend zu lehren, und vor allem es selbst zu glauben und danach zu handeln, galt meinem lieben Onkel als Zivilisation. Man müsse die ganze Welt zivilisieren, dann werde jeder glücklich sein.

Dank seinen Lehren und seinem überzeugenden Beispiel wurde ich, was ich, wie ich hoffe, trotz der entsetzlichen Abenteuer, die ich erlebt habe, und trotz der Furchtsamkeit und anderer niedriger Züge meines Wesens heute noch bin: ein wirklich zivilisierter Mensch.

Ich hörte in jenen glücklichen Tagen des Viktorianischen Zeitalters, die ich im Hügellande von Wiltshire verlebte, nur wenig von den Kriegen und sozialen Konflikten, die drohend über uns schwebten. Der letzte große Krieg war der deutsch-französische gewesen, und mein Onkel behauptete, daß die aus ihm entsprungenen Feindseligkeiten mit jedem Jahre geringer werden. Daß Deutschland und England jemals gegeneinander Krieg führen würden, war seiner Meinung nach in Anbetracht der Gesetze der Blutsverwandtschaft ausgeschlossen. Es heiratet keiner seine Großmutter, noch weniger aber wird er es sich einfallen lassen, gegen sie zu kämpfen, und unsere Königin war die Großmutter der Welt im allgemeinen und die des deutschen Kaisers im besonderen.

Revolutionen dünkten meinen Onkel noch unwahrscheinlicher als Kriege. Der Sozialismus galt ihm als ein sehr nützliches Mittel, um einer gewissen Härte, einer gewissen arithmetischen Voreingenommenheit von Fabrikanten und Geschäftsleuten entgegenzuwirken, die ihre Ursache in der sozialen Unerfahrenheit dieser Menschen hatten. Aus Unwissenheit taten sie Unrecht. Er gab mir Ruskins ›Unto this Last‹ zu lesen, später auch ›News from Nowhere‹ von William Morris. Ich stimmte den Ideen dieser Bücher begeistert zu und blickte in gelassener Zuversicht einer Zeit entgegen, da jedermann sie verstehen und gelten lassen würde.

3
Der Rektor erkrankt und stirbt

In der Schule trat mir kaum Schlimmeres entgegen als im Heime meines Onkels. Ich habe seither oft sagen gehört, daß Schuljungen zuweilen besonders bösartige Geschöpfe und die Public-Schools in Großbritannien mitunter wahre Lasterhöhlen seien. Ein gut Teil dieses Geredes ist, dessen bin ich sicher, aufgebauschter Unsinn; in Imfield gab es jedenfalls nur sehr wenig oder gar keine Verderbtheit. Wir hatten die Wißbegier, die unserem Alter entsprach und befriedigten sie, ohne viel Aufhebens davon zu machen; gleich allen Knaben scherzten wir zuweilen über gewisse Dinge, die, spröde und aufreizend, hinter unseren gesellschaftlichen Konventionen lauern. Gott hat es in seiner unerforschlichen Weisheit für richtig befunden, gewisse Seiten des Lebens zu einem fortlaufenden Kommentar menschlicher Würde zu machen, und jedes jugendliche Gemüt erlebt in seinem Bestreben, das Weltall zu erfassen, eine Phase des entsetzten Staunens und des heilsamen Gelächters.

Von einigen solchen durchaus erklärlichen Schrullen und Zerknitterungen des Gemüts abgesehen, wuchs ich einfach, sauber und gesund heran. Ich erwarb mir die gute Kenntnis dreier Sprachen, die ich seither kaum verwertet habe, und auch sonst ein ausreichendes Wissen und wurde ein tüchtiger Cricketspieler. Ich ritt ein bißchen und versuchte mich im primitiven Tennis jener Zeit. Meine Glieder streckten sich, mein Haar und meine Haut wurden heller. Wer mich im weißen Flanellanzug auf dem Wege zum Tennisplatz in Sir Willoughby Denby’s Park getroffen hätte, würde ebensowenig vermutet haben, daß meine Mutter halb portugiesischer, halb syrischer Abstammung mit einem Spritzer Madeirablut gewesen war, wie er daran gedacht hätte, daß die Urahnen der Blettsworthys ein Fell und einen Schwanz besaßen. In so starkem Maße hatte die Assimilationskraft des Heimatlandes der Blettsworthys auf mich eingewirkt und mich zivilisiert.

Ich wuchs sauber, zuversichtlich und vertrauensvoll zum jungen Manne heran, und wenn ich den unangenehmen Tatsachen nicht ins Auge blickte, so lag das hauptsächlich daran, daß es in jenem lieblich grünen und friedlichen Teile von Wiltshire keine so unangenehmen Tatsachen gab, die sich meinem Blicke aufgedrängt hätten. Auch als ich schließlich nach Oxford in das Lattmeer College kam, erlebte ich weder dort noch auf dem Wege dahin eine bedeutsame Erschütterung. Meine Tante Constance hatte sich erbötig gemacht, die Kosten meines Universitätsstudiums zu tragen. Sie starb bald darauf und hinterließ mir ihr ganzes kleines Vermögen; allerdings mußte ich ihrer Gesellschafterin eine jährliche Rente auszahlen, die den größten Teil der Zinsen verschlang. Aus dem bestürzten Mißtrauen der beiden Damen gegen mich war eine ehrliche und offen eingestandene Zuneigung geworden, da ich mich unter meines Onkels Sorgfalt gleich einer Blume im Sonnenschein entfaltet hatte. Das Testament wurde gemacht, nachdem mein Vater im Betschuanaland getötet worden und ich als völlig unbemittelte Waise zurückgeblieben war. Er fiel in einer ziemlich verwickelten und niemals völlig aufgeklärten Affäre, in der der Burenkrieg, seine umstrittene Heirat mit der Tochter eines angesehenen Betschuanen und die Schürfrechte in gewissen, seinem angeblichen Schwiegervater gehörigen Gebieten eine Rolle spielten. Er hat weder seine Anwesenheit innerhalb der Kampflinie der Buren, wohin ihn eine mit seinem stets komplizierten, aber, wie ich glaube, niemals unehrenhaften Privatleben verbundene Mission geführt hatte, noch seine allezeit dunkle Suche nach Gold klarzulegen vermocht. Wir jedoch glaubten damals, daß er für König und Vaterland auf die zu Kriegszeiten übliche Weise sein Leben verloren hätte.

Der Burenkrieg hinterließ keinen schmerzlichen Eindruck in meinem knabenhaften Gemüt. Er war ohne Zweifel der zivilisierteste Krieg der Geschichte, wurde mit Zurückhaltung und auf ritterliche Art ausgefochten, war ein Krieg der weißen Rasse, der in gegenseitiger Hochachtung und allgemeinem Händeschütteln endete. Früher oder später werden die meisten Menschen Waisen, und wenn ein übrigens schon lange vergessener Vater, wie wir meinten, in ehrlichem Kampfe den Heldentod erleidet, so stellt das eine recht zufriedenstellende Form des herkömmlichen Verlustes dar.

Auch der Heimgang der Königin Victoria warf keinen dauernden Schatten auf mein Gemüt. Eine große Epoche schien damit zum Abschluß gelangt zu sein, und ich war nur wenig darüber erstaunt, daß sowohl der ›Punch‹ als auch die Anglikanische Kirche unverändert bestehen blieben. Aber sie blieben bestehen; allmählich erkannte jedermann, daß fast alles unverändert weiterging, ein wenig traurig vielleicht, aber nicht hoffnungslos verwitwet; König Edward trat an Victorias Stelle, ein nun schon gesetzter, aber immer noch sehr liebenswürdiger Mann, und das Gefühl der Beständigkeit aller Dinge wurde durch den Tod der Königin nur gestärkt.

Das Leben in Lattmeer festigte meinen Glauben an die Zivilisation des Weltalls. Ich fühlte mich nicht nur sicher, sondern auch privilegiert. Ich gewann Interesse am Wassersport und ruderte als Vierter im College-Boot. Ich schwamm ausgezeichnet. Ich glättete mein Haar mit Pomade und trug einen Mittelscheitel. Ich schmückte mich mit fröhlichen Farben. Meine purpurrot und blaßgelb gestreifte Strickjacke wurde nur von wenigen übertroffen. Ich lernte Weine voneinander unterscheiden. Ich schloß Freundschaften, unter denen sich einige durch Vertraulichkeit und Innigkeit auszeichneten. Ich verliebte mich in die Tochter einer Trafikantin, einer Witwe, deren Laden in nächster Nähe des Lattmeer College lag. Ich eignete mir sogar das nicht sehr große Ausmaß an klassischer Bildung an, dessen man zur Erlangung eines akademischen Grades bedarf. Auch nahm ich, ohne mich jedoch besonders hervorzutun, an den Bestrebungen der Oxford University Dramatic Society teil.

Ich hatte in jenen Tagen allen Grund, glücklich zu sein, und blicke heute auf sie zurück, wie ein lebenslänglich Gefangener an die Zeit denken mag, da er als freier und unbescholtener Mensch fröhliche Ferientage genoß. Das Erbe meiner Tante, deren Vermögen nicht sehr groß, aber doch ganz ansehnlich gewesen war, ersparte mir den pekuniären Druck, unter dem die meisten jungen Männer zu leiden haben. Ich ertrug den Tod ihrer ehemaligen Gesellschafterin, durch den der gesamte Zinsertrag des Geldes für meinen persönlichen Gebrauch frei wurde, mit mannhafter Seelenstärke, und genoß die guten Gaben Gottes voll des Vertrauens auf ihren Bestand. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß all dies hoffnungsreiche Glück nur eine glänzende Folie der dunklen Erfahrungen sein sollte, die sich nunmehr über mich herabsenkten.

Der erste große Schatten fiel über mein junges Leben, als meine Tante und mein Onkel kurz nacheinander starben. Mein Onkel begann früher als seine Frau zu kränkeln, starb aber nach ihr. Ich weiß nichts über die wahre Natur seiner Krankheit und glaube auch nicht, daß sie jemals klar erkannt worden ist. Die Berufsausbildung und Organisation der englischen Ärzte bewirken zwar, daß sie Würde an den Tag legen, ein bequemes Leben führen und anständig auftreten, scheinen sie aber nicht zu guten Diagnostikern zu machen. Eine Erkrankung des Blinddarms, der Niere, der Leber, der Milz, des Magens, des Nervensystems oder der Muskeln, sowie irgendwelche geheimnisvolle Infektionen wurden von dem behandelnden Arzt als mögliche Ursachen des Unbehagens und der Krankheit meines Onkels erwähnt, doch hütete sich der Mann vor einer allzu genauen Feststellung, die ihn hätte kompromittieren können. Der Totenschein nannte Herzschwäche in der Folge einer Erkältung als Todesursache. Spezialisten wurden nicht zugezogen; wahrscheinlich wären zu viele gleichzeitig vonnöten gewesen, so daß das Reisegeld für die ganze Schar die Mittel meines Onkels überschritten hätte. Die Behandlung eines Kranken in solcher Entfernung von London wurde in der Hauptsache davon bestimmt, wie weit sich der Arzt an offenkundig ähnliche Fälle in seiner Praxis erinnerte; im übrigen waren die vorhandenen Hilfsmittel der Ortsapotheke maßgebend.

Mein Onkel ertrug erhebliche Leiden mit Mut; die Hoffnung auf Genesung erhielt ihn lange Zeit aufrecht. Als er einmal nachts von heftigen Schmerzen befallen wurde, war er sehr gerührt darüber, daß der Arzt, den wir herbeiriefen, aus seinem warmen Bette aufstand und nicht weniger als zwei Meilen im Regen zurücklegte; er entschuldigte sich, daß sein Leiden so unerklärlich sei und sich noch dazu zu so ungünstiger Zeit äußere. Er empfand es, glaube ich, als ein Unrecht, daß er keine einfache, leicht erkennbare und zu einer bestimmten Tageszeit auftretende Krankheit hatte und einen ehrlichen Freund in eine schwierige Lage brachte. »Ihr Ärzte«, sagte er, »seid das Salz der Erde. Was würden wir ohne euch anfangen?«

Meine Tante starb an einer Lungenentzündung, der Folge einer Erkältung, die sie bei der Pflege ihres Gatten übergangen hatte; er wurde seines Verlustes zwei oder drei Tage lang nicht gewahr.

Fast bis zuletzt glaubte er, daß er durchkommen würde. »Ich bin ein zäher alter Kerl«, sagte er immer wieder; so erteilte er mir keinerlei letzte Lehren über die Welt; und als er schließlich begriff – wenn er es überhaupt wirklich begriff –, daß seine Frau tot war, verfiel er in Stillschweigen. »Fort«, wiederholte er leise, als man ihm auf seine Frage, wo sie sei, taktvoll mit diesem Worte geantwortet hatte. »Fort, Dorcas fort«, seufzte er und sagte nichts mehr über sie. Er schien sich in sich selbst zurückzuziehen und nachzudenken. Er starb die dritte Nacht darauf unter dem Beistand der Pflegerin unseres Dorfes.

Gegen das Ende vergaß er alle Schmerzen, die ihn in einem sanften Delirium noch quälen mochten. Er schien mit dem Gotte, dem er stets gedient hatte, in der Welt umher zu wandern und dabei noch klarer zu sehen als jemals zuvor.

»Das Wunder der Blumen, das Wunder der Sterne«, flüsterte er, »das Wunder des menschlichen Herzens. Warum sollte ich auch nur einen Augenblick lang daran zweifeln, daß all das zum Guten beiträgt? Warum sollte ich zweifeln?«

Dann sagte er plötzlich, ohne irgendwelchen Anlaß: »Mein ganzes Leben lang bin ich umhergegangen und habe niemals über die Schönheit von Kristallen und Edelsteinen gestaunt. Blinde Undankbarkeit. Hab das alles als selbstverständlich hingenommen. Alles Gute als selbstverständlich und jede notwendige kleine Prüfung als Last.«

 

Es verging geraume Zeit, bis er wieder zu sprechen begann. Da hatte er Edelsteine und Kristalle bereits vergessen. Er verfiel in ausgesprochen einseitige Betrachtungen. »Es gibt keine Bürde, die man nicht ertragen könnte. Manchmal ist es vielleicht schwer … Keine wirkliche Ungerechtigkeit.«

Seine Stimme erstarb, etwas später hörte ich ihn jedoch wieder flüstern.

Meine letzte Erinnerung an ihn ist, daß inmitten der Stille des von einer Lampe erleuchteten Zimmers plötzlich seine Stimme erklang und meinen Namen nannte. Er muß meiner gewahr geworden sein, während ich in der Tür stand. Die Fenster seines Schlafzimmers waren so weit wie möglich offen, trotzdem verlangte es ihn nach mehr Luft. »Frische Luft«, wiederholte er. »Viel frische Luft. Bring alle Menschen in die frische Luft hinaus; alles in die frische Luft. Dann wird alles gut sein.«

»Laß die Fenster offen. Laß immer die Fenster offen. Ganz weit offen – ganz weit …«

»Und fürchte dich vor nichts, denn Gott ist hinter allem, wie seltsam es auch sein mag.«

»Hinter allem …«

Sein Ausdruck wurde gespannt. Gleich darauf sanken seine Augenlider herab, und er beachtete mich nicht mehr. Sein Atem wurde schwer, wurde langsamer, trocken und rasselnd.

Sehr lange war dieses geräuschvolle Atmen zu hören. Nie werde ich es vergessen. Es setzte aus, hob wieder an, und hörte dann auf. Der gespannte Gesichtsausdruck verschwand. Die Augen öffneten sich langsam und betrachteten die Welt ruhig, aber sehr starr.

Ich wartete, den Blick starr auf ihn gerichtet, daß er spreche, aber er sprach nicht. Scheu befiel mich.

»Onkel!« flüsterte ich.

Die Pflegerin zupfte mich am Ärmel.

Als ich am Morgen zu ihm gerufen wurde, war sein Antlitz schon eine heitere Maske, deren Augen für immer vor der Welt verschlossen blieben; gütig noch, aber nunmehr mit unaussprechlichen Dingen befaßt. Das Marmorbildnis im Mittelschiff der Kirche zu Salisbury ist das getreue Ebenbild des Toten, selbst in den gefalteten Händen.

Ich hatte ein heftiges Verlangen, zu ihm zu sprechen und vieles zu sagen, was ich hatte sagen wollen, aber ich sah nun, daß zwischen ihm und mir keine Worte mehr gewechselt werden konnten.

Niemals ist etwas so sehr von Abwesenheit durchtränkt gewesen wie seine Anwesenheit an jenem sonnenhellen Morgen. Ich saß an seinem Bett und betrachtete die teure Maske, die mir so vertraut gewesen und nun schon so fremd geworden war, betrachtete sie lange Zeit und dachte dabei an zehntausend Dinge, die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf und hinab. Ich empfand Schmerz über meinen Verlust und war doch auch, ich erinnere mich dessen, niederträchtig froh, selbst am Leben zu sein.

Allmählich aber begann eine ungewohnte Kälte in der Herzgegend, zu ruhig und zu tief, um Furcht zu sein – alle anderen Eindrücke zu überragen. Ich versuchte, ihr zu entrinnen. Ich ging ans Fenster, und der Sonnenschein auf dem Rasen des Hügellandes schien etwas von dem frohen Zauber, den er bis dahin besessen hatte, verloren zu haben. Da waren das vertraute Dach des Hintergebäudes, die graue Steinmauer des Hofes, die Pferdekoppel mit dem alten, ausgedienten Pony, die Hecke und der steile Abhang des Hügels. Alles war da, aber es war nicht dasselbe.

Die Kälte, die ich beim Anblick des toten Antlitzes empfunden hatte, wurde nicht geringer, sondern größer, als ich aus dem Fenster auf die gewohnte Landschaft blickte; sie war offenbar keine physische Empfindung; war nicht eine Kälte des Herzens, sondern der Seele, war ein ganz neues Gefühl, das Gefühl, allein und ohne Hilfe in einer Welt zu stehen, die ganz anders sein mochte, als sie mir schien.

Ich wandte mich wieder meinem Onkel zu: Ein unbestimmtes Gefühl, etwas wie der Wunsch, gegen die Möglichkeit solch einer Veränderung Einspruch zu erheben, regte sich in mir.

Noch einmal ergriff mich das Verlangen, zu ihm zu sprechen, doch ich erkannte, daß ich nichts zu sagen hatte.