Der Luftkrieg

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Der Luftkrieg
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H. G. Wells

Der Luftkrieg

Inhaltsverzeichnis

I. Vom Betrieb und von der Familie Smallways

I

II

III

IV

V

VI

2. Wie Bert Smallways in Schwierigkeiten geriet

I

II

III

IV

V

3. Der Ballon

I

II

III

IV

V

4. Die deutsche Luftflotte

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

5. Die Schlacht im Nordatlantik

I

II

III

IV

V

VI

VII

6. Wie der Krieg über New York kam

I

II

III

IV

V

VI

7. Die »Vaterland« kampfunfähig

I

II

III

IV

V

VI

VII

8. Weltkrieg

I

II

III

IV

V

9. Auf der Ziegeninsel

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

10. Amerika

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Epilog

Impressum

I.
Vom Betrieb und von der Familie Smallways
I

Der Betrieb da droben«, sagte Mr. Tom Smallways, »geht immerzu weiter. Sollt's nicht glauben, daß er überhaupt noch weitergehen könnte!« sagte Mr. Tom Smallways.

Es war lang vor Beginn des Luftkriegs, daß Mr. Smallways diese Bemerkung machte. Er saß auf dem Zaun am Ende seines Gartens und betrachtete die großen Gaswerke von Bun Hill mit Augen, in denen sich weder Beifall noch Tadel spiegelte. Über den zusammengedrängten Gasometern erschienen drei fremdartige Gebilde, dünne, schwerfällig schaukelnde Blasen, die schlapp hin und her schwankten und größer und größer wurden – Ballons, die eben für den Samstagnachmittagsaufstieg des südenglischen Aeroklubs gefüllt wurden.

»Jeden Samstag steigen sie«, sagte sein Nachbar, Mr. Stringer, der Milchmann, »'s ist kaum ein paar Tage her, da war ganz London auf den Beinen, um 'nen Ballon steigen zu sehen. Und heut hat jedes elende Nest im Land seine Wochenausflüge – will sagen: -aufflüge! Reinewegs 'ne Rettung für die Gasgesellschaften!«

»Letzten Samstag hab' ich drei Fuhren Kies von meinen Kartoffeln weggekarrt«, sagte Mr. Tom Smallways. »Drei Fuhren, die die da droben runtergeschmissen haben – als Ballast! Die Hälfte von den Pflanzen war kaputt und die andere Hälfte verschüttet.«

»Damen steigen auch mit auf, sagen sie.«

»Heißen's ja wohl Damen!« meinte Mr. Tom Smallways. »Na, mein Begriff von Damen ist das nicht – in der Luft rumfliegen und den Leuten Kies auf die Köpfe schmeißen! Ich jedenfalls bin nicht gewöhnt, so was Damen zu nennen – so oder so!«

Mr. Stringer nickte beifällig mit dem Kopf, und eine Weile noch schauten sie nach den schwellenden Klumpen mit einem Ausdruck, der sich aus Gleichgültigkeit in Mißbilligung verwandelt hatte.

Mr. Tom Smallways war Grünkramhändler von Beruf und aus Liebhaberei Gärtner. Jessika, seine kleine Frau, besorgte den Laden; und der Himmel hatte ihn für eine friedvolle Welt, leider aber keine friedvolle Welt für ihn erschaffen. Er lebte in einer Welt voll eigensinnigen und unaufhörlichen Wechsels und noch dazu in einem Teil derselben, wo die Wirkungen dieses Wechsels schonungslos aufdringlich waren. Sein eigener Grund und Boden, den er bebaute, war voller Unbestand; sogar seinen Garten hatte er nur in Jahrespacht – ein Riesenplakat, das ihn nicht etwa als Garten, sondern als günstigen Bauplatz anpries, überschattete ihn. Er war Gartenbauer auf Kündigung – das letzte Stückchen Erdreich in einem von lauter neuen, städtischen Gegenständen überfluteten Distrikt. Er tröstete sich so gut er konnte mit dem Gedanken, daß die Dinge nun bald am Wendepunkt angelangt sein müßten.

»Sollt's nicht denken, daß es überhaupt noch weitergehen könnte!« sagte er.

Mr. Smallways' greiser Vater konnte sich Bun Hills noch als eines idyllischen kentischen Dorfs entsinnen. Er war bis zu seinem fünfzigsten Jahr Kutscher bei Sir Peter Bone gewesen; dann hatte er so sachte angefangen, ein bißchen zu saufen und war Omnibuskutscher geworden, was bis zu seinem achtundsiebzigsten vorhielt. Darauf zog er sich vom Geschäft zurück. Er hockte in seiner Ecke am Kamin, ein verschrumpelter, uralter Rosselenker, von oben bis unten vollgepfropft mit Erinnerungen und stets auf der Lauer nach etwaigen unvorsichtigen Zuhörern. – Er wußte noch von dem verschwundenen, längst zu Bauplätzen aufgeteilten Herrengut Sir Peter Bones zu erzählen und wie dieser Magnat die ganze Gegend regiert hatte, solang sie noch Gegend war; er wußte von Treib- und Parforcejagden zu berichten, von Viererzügen auf den Landstraßen und wie »da, wo jetzt die Gaswerke sind«, ein Kricketplatz war und wie der Kristallpalast entstand. Der Kristallpalast war sechs Meilen von Bun Hill entfernt, eine große Fassade, die im Morgenschein glitzerte, sich nachmittags als klarer, blauer Umriß vom Himmel abhob und nachts ein unerschöpfliches Gratisfeuerwerk für die ganze Bevölkerung von Bun Hill bildete. Dann war die Eisenbahn gekommen und danach Villen über Villen; dann die Gas- und Wasserwerke und ein großes, häßliches Meer von Arbeiterhäusern; dann die Drainierungsanlage; das Wasser verschwand aus dem Otterbourne und machte aus dem Fluß einen entsetzlichen Graben. Dann ein zweiter Bahnhof, Bun Hill Süd, und mehr und mehr Häuser, mehr Läden, mehr Konkurrenzläden mit Spiegelglas-Schaufenstern, ein Schulhaus, Steuern, Omnibusse, Straßenbahnen, die direkt bis London gingen, Fahrräder, Automobile, immer mehr Automobile und eine Volksbibliothek. –

 

»Man sollt's nicht denken, daß es noch weiter gehen könnte!« sagte Mr. Tom Smallways, der inmitten dieser Wunder heranwuchs.

Aber es ging weiter. Von Anfang an hatte der Grünkramhandel, den er in einem der kleinsten von den alten, übriggebliebenen Dorfhäusern am Ende der Hauptstraße aufgetan hatte, ein unterdrücktes Aussehen, ein Aussehen, als verstecke er sich vor etwas, das hinter ihm her war … Als man das Pflaster der Hauptstraße legte, wurde diese so nivelliert, daß man in den Laden drei Stufen herunter mußte. Tom versuchte nach besten Kräften, nur von seiner eigenen, trefflichen, aber beschränkten Zucht von Gemüsen und Obst zu verkaufen; aber der Fortschritt zwang ihm die Dinge geradezu ins Schaufenster, französische Artischocken, Aubergines, ausländische Äpfel – Äpfel aus New York, aus Kalifornien, aus Kanada, aus Neuseeland, »schon recht von außen, aber nicht, was ich einen englischen Apfel nenne!« sagte Tom –, Bananen, fremdartige Nüsse, Weintrauben, Mangos.

Die Automobile, die nach Norden und Süden vorübereilten, wurden immer gewaltiger und dominierender, sausten immer rascher und stanken immer ärger; große, rasselnde Motorlastwagen erschienen an Stelle der verschwindenden Pferdefuhrwerke und lieferten ihre Kohlen und Pakete ab; Motoromnibusse verdrängten die Pferdeomnibusse, sogar die kentischen Erdbeeren, die nachts nach London gebracht wurden, verfielen dem Maschinenwesen, rasselten, statt, wie bisher, zu knarren und büßten durch Fortschritt und Benzin an Aroma ein.

Und dann schaffte der junge Bert Smallways sich ein Motorrad an …

II

Bert, muß man wissen, war ein fortschrittlicher Smallways. Nichts spricht beredter von dem rücksichtslosen Umsichgreifen von Fortschritt und Ausdehnung in unserer Zeit, als daß sie sogar ins Blut der Smallways drangen. Noch ehe er die Kinderschuhe auszog, zeigte sich in dem jungen Smallways etwas Vorgeschrittenes, Unternehmendes. Noch ehe er fünf war, war er einen ganzen Tag lang verloren gewesen, und noch vor seinem siebenten Jahr wäre er fast im Reservoir der neuen Wasserwerke ertrunken. Mit zehn nahm ein ganz wirklicher Schutzmann ihm eine ganz wirkliche Pistole ab. Und er lernte rauchen – nicht mit Pfeife und Löschpapier und Schilfrohr, wie seinerzeit Tom, sondern mit einem Penny-Paket amerikanischer Boys of England-Zigaretten. Noch ehe er zwölf war, standen seinem Vater die Haare zu Berge über seine Ausdrucksweise, und er verdiente in diesem Alter durch Packträgerdienste an den Bahnhöfen und Austragen des Bun Hiller Wochenblattes wöchentlich drei Schilling und mehr, die er in allerhand Kleinkram, humoristischen Bilderbogen, Karikaturblättern, Zigaretten und ähnlichen Begleiterscheinungen einer vergnügungssüchtigen und aufgeklärten Lebensführung anlegte. All dies ohne irgendwelche Beeinträchtigung seiner literarischen Studien, die ihn in außergewöhnlich jugendlichem Alter bis zur siebenten und obersten Klasse der Schule emportrugen. Ich erwähne diese Dinge nur, damit auch nicht der geringste Zweifel darüber aufkommen kann, aus welcher Art Stoff Bert gemacht war.

Er war sechs Jahre jünger als Tom; und eine Zeitlang – als Tom mit einundzwanzig Jahren Jessika heiratete, die dreißig war und sich während ihrer Dienstzeit ein bißchen was erspart hatte – machte man den Versuch, ihn im Grünkramhandel nutzbringend zu verwenden. Aber Berts starke Seite war es nicht, sich nutzbringend verwenden zu lassen. Er haßte das Graben, und wenn man ihm einen Korb Waren zum Austragen übergab, erwachte in ihm unwiderstehlich der Wandertrieb; der Korb wurde sein Ränzel, und es schien ihn wenig anzufechten, wie schwer er war oder wohin er ihn trug, solang er ihn nur nicht an den Ort seiner Bestimmung brachte. Marktschreierei füllte die ganze Welt, und er strolchte hinterdrein mitsamt seinem Korb … Also trug Tom seine Waren selber aus und suchte Arbeitgeber für Bert, die von dieser poetischen Ader in dessen Natur nichts wußten. Bert gelangte nacheinander in den Vorhof einer ganzen Reihe von Berufen – Warenhausportier, Apothekerlehrling, Doktor-Laufbursche, Gasarbeitergehilfe, Adressenschreiber, Milchwagenfuhrmann, Golfjunge und schließlich Gehilfe in einer Fahrradhandlung. Hier fand er augenscheinlich den fortschrittlichen Zug, nach dem seine Natur begehrte. Sein Brotherr war ein seeräuberhaft veranlagter junger Mensch namens Grubb, mit einem schwärzlichverschmierten Gesicht bei Tag und einer Tingeltangelader bei Nacht, der von einer Patent-Fahrradkette träumte; für Bert war er geradezu das Ideal eines gerissenen Lebemanns. Er hatte die verwahrlostesten und unsichersten Räder in ganz Südengland zu vermieten und führte die hieraus entstehenden Meinungsverschiedenheiten mit erstaunlicher Verve. Bert und er arbeiteten sich gut miteinander ein; Bert wurde beinah zum Kunstfahrer – meilenweit vermochte er Räder zu fahren, die unter jedem anderen schon nach einer Minute zusammengebrochen wären – fing an, sich nach den Geschäftsstunden das Gesicht zu waschen und verausgabte sein überschüssiges Geld für auffallende Krawatten und Kragen, Zigaretten und Stenographiestunden in der Bun Hiller Fortbildungsschule.

Ab und zu besuchte er Tom und war dabei so glänzend von Erscheinung und Konversation, daß Tom und Jessie, denen beiden ein angeborenes Bedürfnis anhaftete, vor Menschen und Dingen Respekt zu haben, gewaltig zu ihm emporschauten.

»Er ist ein Draufgänger, der Bert!« sagte Tom. »Er weiß doch 'ne ganze Menge!«

»Wollen hoffen, daß er nicht zu viel weiß!« sagte Jessika, die einen ausgeprägten Sinn für Beschränkung hatte.

»Es sind eben Draufgängerzeiten«, sagte Tom. »Neue Kartoffeln – und noch dazu englische! Nächstens haben wir sie im März, wenn das so weiter geht. So was ist mir doch noch nicht vorgekommen! Hast du seine Krawatte gesehn gestern abend?«

»Sie paßt nicht zu ihm, Tom. Es ist eine Krawatte für einen Gentleman. Er und alles andere passen nicht dazu. Sie steht ihm nicht …«

Bald darauf schaffte sich Bert einen Radfahranzug, Mütze, Abzeichen usw., an. Und ihn mit Grubb nach Brighton (und zurück) radeln zu sehen – Köpfe gesenkt, Lenkstangen nach unten, Rücken gekrümmt –, war geradezu eine Offenbarung aller Möglichkeiten im Smallwaysschen Blut!

Draufgängerzeiten!

Der alte Smallways hockte am Feuer und schwatzte von der Größe früherer Tage, vom alten Sir Peter Bone, der seinen Viererzug in vierundzwanzig Stunden nach Brighton und zurück fuhr, von den weißen Zylinderhüten des alten Herrn, von Lady Bone, deren Füße nie den Erdboden traten, außer wenn sie im Garten spazierenging, und von den großen Ringkämpfen zu Crawley. Er redete von roten Jagdröcken und schweinsledernen Gamaschen, von den Füchsen im Ringgrund, wo jetzt die Landesirrenanstalt errichtet war, von Lady Bones Mullkleidern und Krinolinen. Niemand hörte auf ihn. Die Welt hatte sich einen neuen Gentlementyp geschaffen, einen Gentleman von höchst ungentlemanhafter Energie, einen Gentleman in verstaubtem Wachstuch, in Automobilbrille und wunderbaren Kopfbedeckungen, einen Stank verbreitenden Gentleman, einen sausenden, eleganten Buschklepper, der unablässig die Landstraßen entlang vor dem Staub und Stank flüchtete, den er unablässig verbreitete. Und seine Dame, so wie man sie in Bun Hill kannte, war eine wetterharte Gottheit, so frei von Verweichlichung wie eine Zigeunerin und für schnellste Eilfahrt gekleidet oder vielmehr verpackt.

So wuchs Bert auf, voll von Idealen des Schnellverkehrs und kühner Unternehmung, und wurde, soweit er überhaupt etwas wurde, eine Art Fahrradmechaniker der »Nur-auf-Probe«- und »Obenhin«-Branche. Nicht einmal ein hundertundzwanziger Rennrand genügte ihm mehr, und eine ganze Zeitlang quälte er sich – vergeblich – in einem Tempo von zwanzig Meilen die Stunde auf Straßen ab, die der mechanische Verkehr nur immer staubiger und überfüllter gestaltete. Aber schließlich häuften sich seine Ersparnisse, und seine Chance kam. Das Abzahlungssystem überbrückte die finanzielle Lücke, und eines hellen und denkwürdigen Sonntagmorgens radelte er sein neues Besitztum durch den Laden auf die Straße, bestieg es unter dem Rat und der Beihilfe Mr. Grubbs und töfftöffte hinaus in den Dunst der verkehrsgemarterten Chaussee, um sich – eine weitere willkürliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit – den landschaftlichen Reizen Südenglands einzureihen.

»Nach Brighton!« sagte der alte Smallways, indem er seinem jüngsten Sohn vom Wohnzimmerfenster über dem Laden aus mit zwischen Stolz und Mißbilligung geteilten Gefühlen nachsah. »Als ich in seinem Alter war, bin ich noch nicht einmal in London, nirgends, nicht mal südlich über Crawley hinaus, überhaupt nirgends gewesen. Damals reiste überhaupt niemand. Außer was Herrschaften waren. Jetzt sind immer alle überall; das ganze Land – hol's der Geier – fliegt auseinander! Nach Brighton! – Ja freilich! – Wer kauft noch Gäule?«

»Du kannst nicht sagen, ich wär' je in Brighton gewesen, Vater!« sagte Tom.

»Ist auch gar nicht nötig«, sagte Jessika scharf. »Herumlottern und dein Geld vertun –!«

III

Eine ganze Weile beschäftigten die Möglichkeiten des Motorrads Berts Geist derart, daß er der neuen Richtung, in der die strebende Menschenseele Betätigung und Auffrischung fand, gar keine Beachtung schenkte. Er merkte nicht, daß der Typ Motorrad, genauso wie der Typ Fahrrad, sich einbürgerte und das Abenteuerliche der Erscheinung verlor. Tatsache ist, so seltsam dies auch erscheinen mag, daß der erste, der diese neue Entwicklung bemerkte, Tom war. Aber seine Gärtnerei lehrte ihn den Himmel beobachten; und die Nachbarschaft der Bun Hiller Gaswerke und des Kristallpalastes, von dem aus unaufhörlich Aufstiege stattfanden, ferner das Auswerfen des Ballastes auf seine Kartoffeln – all das im Verein trug dazu bei, seinem widerstrebenden Geist die Tatsache aufzudrängen, daß die Göttin des Wandels ihre aufreizende Tätigkeit dem Himmel zulenkte. Der erste große Sturmlauf in Aeronautik begann.

Grubb und Bert hörten zuerst davon in einem Tingeltangel; dann wurde es ihrem Gehirn durch den Kinematographien eingeprägt, dann ward Berts Phantasie durch eine Fünfzigpfennig-Ausgabe des klassischen aeronautischen Werks von Mr. George Griffith »Der Wolkensegler« entflammt, und so bemächtigte sich die Sache nach und nach der beiden.

Das Augenfällige war in erster Linie die Zunahme der Ballons. Sie fingen an, den ganzen Himmel über Bun Hill unsicher zu machen. Besonders an Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen konnte man kaum eine Viertelstunde nach dem Himmel schauen, ohne irgendwo einen Ballon zu entdecken. Eines schönen Tags, als Bert mit dem Motorrad nach Croydon fuhr, hielt ihn der Aufstieg eines riesigen, polsterförmigen Ungetüms vom Rasenplatz des Kristallpalastes aus auf und nötigte ihn abzusteigen und zu beobachten.

Es sah aus wie ein Keilkissen mit einer gebrochenen Nase; darunter, verhältnismäßig klein, war ein starres Rahmenwerk, das einen Menschen trug, eine Maschine mit einer Schraube vorn, die sich rasch drehte, und einer Art Steuer aus Segelleinen hinten. Das Rahmenwerk sah aus, als ziehe es den widerstrebenden Gaszylinder hinter sich her, etwa wie ein flinker, kleiner Terrier, der der Gesellschaft einen scheuen, gasgeschwollenen Elefanten präsentiert. Das kombinierte Ungetüm bewegte sich wirklich vorwärts und steuerte. Es stieg ungefähr 1000 Fuß in die Höhe (Bert hörte die Maschine), segelte nach Süden davon, verschwand über den Hügeln, erschien dann wieder als kleine blaue Silhouette, die jetzt sehr rasch vor einer sanften Südwest-Brise herflog, fern im Osten, kehrte dann zurück zu den Türmen des Kristallpalastes, umkreiste sie, wählte eine Stelle für den Abstieg und versank vor Berts Blicken.

 

Bert seufzte tief auf und wandte sich wieder seinem Motorrad zu. Und dies war nun der Beginn einer ganzen Reihenfolge von seltsamen Erscheinungen am Himmel – Zylinder, Kegel, birnenförmige Ungetüme, zuletzt ein wunderbar glitzerndes Ding aus Aluminium, das Grubb, in einer unklaren Ideenverbindung mit Panzerplatten, für ein Kriegsluftschiff zu halten geneigt war.

Darauf folgten wirkliche Flugexperimente.

Das waren jedoch keine Experimente, die von Bun Hill aus zu sehen waren; es waren Experimente, die auf Privatgrundstücken oder anderen eingeschlossenen Plätzen unter günstigen Bedingungen vor sich gingen und die bis zu Grubb und Bert nur durch Vermittlung von Fünfpfennig-Zeitungen oder Kinematographen-Vorstellungen durchdrangen. Immerhin drangen sie äußerst eindringlich durch; und wenn in diesen Tagen irgendwer irgendwen an einem öffentlichen Ort in lautem, überzeugtem und überzeugendem Ton sagen hörte: »Es muß ja kommen!«, so war zehn gegen eins zu wetten, daß vom Fliegen die Rede war. Und Bert holte sich einen Kistendeckel und malte in korrektem Plakatstil folgende Inschrift, die Grubb dann ins Fenster stellte: »Herstellung und Reparatur von Aeroplanen.« Bert war selbst ordentlich bestürzt darüber – es hieß doch eigentlich sein Geschäft mächtig leicht nehmen! –, aber die meisten Nachbarn, besonders die Sportmenschen unter ihnen, zollten der Sache vollsten Beifall. Jedermann redete vom Fliegen, jedermann wiederholte wieder und wieder: »Es muß kommen!« Und dann – nun ja – kam es nicht. Irgendwie hatte es Haken. Fliegen taten sie – das war ja richtig. Fliegen – in Maschinen, schwerer als Luft. Aber immer verkrachte die Geschichte. Manchmal war's die Maschine, manchmal war's der Aeronaut, gewöhnlich waren's alle beide. Maschinen, die Flüge von drei oder vier Meilen machten und heil wieder herabkamen, stiegen das nächste Mal zu jähem Verderben auf. Es schien geradezu unmöglich, daß man sich auf die Dinger verlassen konnte. Der Wind warf sie um; die Luftströmungen über der Erde warfen sie um, ein flüchtiger Gedanke im Gehirn des Luftschiffers warf sie um … Und sie selber warfen um … ganz einfach.

»Die Stabilität ist's … die ist dran schuld«, sagte Grubb, seine Zeitung nachbetend. »Sie kippen und kippen und kippen, bis sie sich zu Tod gekippt haben!«

Die Experimente hörten nach zwei erwartungsreichen Jahren voll ähnlicher Erfolge nach und nach auf. Das Publikum und die Zeitungen waren der kostspieligen fotografischen Aufnahmen, der optimistischen Berichte und des ewigen Kreislaufs von Triumph, Niederlage und Schweigen überdrüssig. Das Fliegen steckte ganz im Sumpf, sogar das Ballonfahren hörte bis zu einem gewissen Grad auf, wenn es auch immer noch ein recht populärer Sport blieb und man auch weiterhin fortfuhr, von der Werft der Bun Hiller Gaswerke Kies einzuladen, um ihn dann auf Rasenplätze und Gärten verdienstvoller Leute wieder abzuladen. Es kamen ein halb Dutzend trostvoller Jahre für Tom – wenigstens was das Fliegen betrifft. Aber es war dies zugleich die große Zeit der Entwicklung der einschienigen Eisenbahn, und seine Sorge wurde von den höheren Regionen nur abgelenkt durch die dringendsten und drohendsten Anzeichen eines Wechsels am unteren Himmel …

Schon verschiedene Jahre war von einschienigen Bahnen die Rede gewesen. Aber das eigentliche Unglück begann erst, als Brennan der Royal Society seinen gyroskopischen Einschienen-Waggon vorführte. Es war die große Ausstellung von 1907; und die berühmte Ausstellungshalle war viel zu klein für die Vorführung. Tapfere Militärs, hervorragende Prediger, Schriftsteller von Verdienst, vornehme Damen drängten sich in dem engen Raum, stießen sich gegenseitig die aristokratischen Ellbogen in die sonst so geheiligten Rippen und schätzten sich glücklich, wenn sie »nur wenigstens ein ganz kleines Stückchen von der Bahn« zu sehen bekamen. Und der große Erfinder erklärte, zwar ungehört, aber sehr überzeugend, seine Erfindung und ließ sein gehorsames kleines Modell der Zukunftseisenbahn Steigungen auf und ab, um Kurven herum, über sich biegende Drähte laufen. Und es sauste dahin auf seiner einen Schiene, mit seinen zwei hintereinanderstehenden Rädern, ganz einfach und brav, hielt an, drehte um, blieb stehen – alles ohne die geringste Abweichung. Immer blieb es – unter einem Sturm von Applaus – in seinem erstaunlichen Gleichgewicht. Schließlich zerstreute sich das Publikum unter lebhaften Erörterungen, inwieweit es wohl ein Genuß wäre, einen Abgrund auf einem Drahtseil zu überqueren. »Und wenn nun das Gyroskop stillsteht!« Die allerwenigsten von ihnen ahnten auch nur zum zehnten Teil, was die Brennansche Einschienen-Bahn für die Sicherheit der Eisenbahnen und das ganze Aussehen der Welt überhaupt bedeuten sollte!

Wenige Jahre später begriffen sie es schon eher. In kurzer Zeit fand kein Mensch mehr etwas dabei, einen Abgrund auf einem Drahtseil zu überqueren, und das Einschienensystem verdrängte Straßenbahnen, Eisenbahnen, überhaupt jede Art von mechanischer Fortbewegungsanlage. Wo das Terrain billig war, lag die Schiene auf der Erde; wo es teuer war, hob sie sich auf Eisenpfeilern in die Höhe und ging oben darüber weg. Ihre raschen, bequemen Wagen eilten überall hin, übernahmen alles, was früher auf teuer und schwerfällig erbauten Verkehrsanlagen auf der Erde geleistet worden war.

Als der alte Smallways starb, fand Tom nichts Bezeichnenderes von ihm zu sagen, als: »Wie er ein Junge war, gab's überhaupt noch nichts Höheres als Schornsteine – keinen einzigen Telegraphendraht, kein Kabel in der Luft!«

Der alte Smallways ward unter einem dichtverschlungenen Netz von Drähten und Drahtseilen zu Grabe getragen; denn Bun Hill wurde nicht nur eine Art von Unterzentrale für Stromverteilung – die staatliche Stromverteilungs-Gesellschaft errichtete Transformatoren und eine Zentralstation neben den alten Gaswerken-, sondern auch ein Knotenpunkt der Vorort-Einschienenbahn. Außerdem hatte jeder Kaufmann am Platz und überhaupt fast jedes Haus eigenes Telefon.

Die Einschienenbahnträger gehörten bald zu den aufdringlichsten Erscheinungen im städtischen Straßenbild. Sie waren meist von starker Eisenkonstruktion, etwa wie spitz zulaufende Gerüste, und leuchtend blaugrün angestrichen. Einer erhob sich gerade vor Toms Haus, das neben diesem Koloß noch bescheidener und unscheinbarer aussah. Und ein zweiter Riese stand just in der Ecke des Gartens, der noch nicht überbaut und unverändert war, abgesehen von zwei Plakaten, deren eines eine Zweieinhalb-Shilling-Uhr und deren anderes ein Nervenstärkungsmittel anpries. Nebenbei waren diese beiden fast horizontal angebracht, um den oben vorübersausenden Einschienenbahn-Passagieren besser ins Auge zu fallen, und dienten Tom auf diese Weise ganz prächtig als Dächer für einen Werkzeugschuppen und eine Pilzkultur. Tag und Nacht sausten die Züge von Hastings und Brighton oben vorüber – lange, breite, bequem aussehende Wagen, die bei Dunkelheit strahlend erleuchtet waren. Und während sie so des Nachts vorüberflogen, wie flüchtige Flammen und dumpfdrohendes Grollen, wirkten sie auf der Straße da drunten wie ein ununterbrochenes Sommergewitter mit Donner und Blitz.

Bald war auch der Kanal überbrückt – eine Reihe von großen eisernen Eiffelturm-Pfeilern, die die Einschienenbahn in einer Höhe von hundertfünfzig Fuß über dem Wasser trugen, mit Ausnahme der Mitte, wo sie sich höher erhoben, um den Verkehr der Londoner und Antwerpener Dampfer und der Hamburg-Amerika-Linie nicht zu behindern.

Schwere Motorwagen begannen auf zwei hintereinanderstehenden Rädern einherzulaufen, eine Tatsache, die Tom aus irgendeinem Grunde entsetzlich aufregte und ihn noch auf Tage hinaus, nachdem der erste am Laden vorübergefahren war, schwermütig stimmte …

All diese gyroskopische und Einschienen-Entwicklung beanspruchte naturgemäß einen erheblichen Teil der öffentlichen Aufmerksamkeit; auch die überraschenden Goldfunde an der Küste von Anglesea, die eine submarine Forscherin, Miss Patricia Giddy, gemacht hatte, riefen gewaltige Aufregung hervor. Miss Giddy hatte an der Universität zu London ihr Examen in Mineralogie und Geologie bestanden, und während sie nach einer kurzen Erholungspause, die sie zur Agitation für das Wahlrecht der Frauen verwendete, an einer Arbeit über die goldhaltigen Klippen von Nordwales schrieb, war ihr plötzlich der Gedanke aufgestiegen, daß möglicherweise diese Riffe unter dem Wasser auszubeuten wären. Sie unternahm es, mit Hilfe des von Dr. Alberto Cassini erfundenen Unterseebohrers sich von der Wahrheit ihrer Voraussetzung zu überzeugen. Und durch eine ihrem Geschlecht eigene glückliche Mischung von Überlegung und Spürsinn fand sie schon bei ihrem ersten Abstieg Gold und kam nach dreistündigem Tauchen mit ungefähr zwei Zentnern Erz empor, das Gold in dem noch nie dagewesenen Prozentsatz von 17 Unzen pro Tonne enthielt. Aber so unendlich interessant auch die ganze Geschichte dieser unterseeischen Goldgräberin ist – wir müssen sie auf ein andermal verschieben; für jetzt möge die einfache Bemerkung genügen, daß eben in die darauffolgende Zeit des großen Steigens der Preise, des Kredits und der Spekulation das Wiederaufleben des Interesses am Fliegen fiel.