Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)

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5
Zwischenspiel mit Mrs. Slaughter

Die Phasen, die ich in den Tagen nach meiner Entdeckung durchlebte, sind für meine Geschichte gewiß von Wichtigkeit – ich fühle das und will sie so eingehend wie möglich schildern. Es fällt mir aber durchaus nicht leicht. Meine Erinnerungen sind außerordentlich ungleichmäßig: bald klar, detailliert und so scharf, als beträfen sie Dinge von gestern und nicht solche, die mehr als zwanzig Jahre zurückliegen; bald verschwommen, verzerrt, unbestimmt und von Gedächtnislücken unterbrochen. Ich kann in der Auswahl, die mein Gehirn da getroffen hat, weder einen Sinn noch ein System entdecken. Ich kann nicht erklären, warum ich mich meines Erwachens an dem erwähnten Morgen in allen Einzelheiten entsinne. Ich möchte, wenn das nicht zu spitzfindig ist, geradezu sagen, daß in die Erinnerung an jenen Morgen auch das Bild der Ereignisse vom Vorabend eingebettet ist. Ich erinnere mich also nicht unmittelbar daran, daß ich Graves eine Glasflasche an den Kopf geworfen habe, sondern ich entsinne mich der Erinnerung an diese Tat und der Verwunderung darüber, die mich am folgenden Morgen befiel.

Vielleicht haben sich mir jene Stunden des Wachseins deshalb so stark eingeprägt, weil sie der erste in einer langen Reihe ähnlicher Gemütszustände waren. Es war, als ob das ganze Weltall, mich inbegriffen, sich verändert hätte, als ob das Selbst, das ich bis dahin gekannt hatte, ein Traum in einer Traumwelt gewesen wäre und nun die Wirklichkeit begonnen hätte. Die Morgendämmerung kam, aber sie brachte einen neuartigen, einen freudelosen Tag. Die emporsteigende Sonne ergoß ihr warmes Licht in mein Zimmer, doch dieses Licht hatte keine Seele. Die Vögel sangen, bald darauf ratterte ein Karren durch die Straße, und ein Junge pfiff, ich aber wußte, daß die Vögel nichts weiter waren als zwitschernde Maschinen, daß der Karren eine nutzlose Fahrt unternahm und der Junge trotz aller ahnungslosen Unbekümmertheit dem Tode und der Verdammnis verfallen mußte.

Ich brütete über der unlöslichen Frage, warum ich den Sinn meines erwachenden Lebens an eine geistlose und gewöhnliche Halbjungfrau gekettet hatte und an einen Gefährten, der sich als Schurke erwiesen haben würde, wenn er nicht, ehe seine Schurkerei sich hatte voll betätigen können, ein eitler und genußsüchtiger Narr gewesen wäre. Noch größeres Kopfzerbrechen bereitete mir die Frage, wie ich mein kopfloses Selbst von diesen beiden schlecht gewählten Gefährten loslösen sollte.

Völlig unvereinbar jedoch mit dem Hauptstrom meiner Gedanken war etwas enger Begrenztes und dabei Machtvolleres. Ohne Beziehung zu den anderen Erinnerungen schwebte mir der Körper Olive Slaughters vor, wie ich ihn halb entblößt auf das Bett geworfen hatte, und ich sah den seltsamen Ausdruck ihres Gesichtes wieder, das mich anstarrte, während ihr Widerstand erlahmte. Ich verachtete sie, haßte sie auf eine gewisse Art, doch rief dieses Bild zugleich ein so heftiges Verlangen in mir wach, wie ich es noch nie empfunden hatte. Welch ein Idiot war ich doch gewesen, von ihr abzusehen und wegzugehen! Wie soll ich den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gedankenströmen schildern, die gleichzeitig und äußerst lebhaft mein Gehirn durchfluteten? Es war, als ob ich, ein junger Wilder, stillschweigend vor mich hinbrütete, indes ein alter Herr von Zeit und Raum, Vorherbestimmung und freiem Willen sprach.

Ein Teil meines Gehirnes schmiedete Pläne, wie ich nach Oxford zurückkehren und mich der munteren Olive Slaughter bemächtigen könnte, und dachte nicht im geringsten an die möglichen Folgen eines solchen Beginnens; mein ganzes übriges Wesen fragte immer wieder, ich weiß nicht mehr in welcher Form, was mit meiner Seele geschehen sei und warum meine Welt zusammengestürzt war. An Graves dachte ich nur wenig und voll verächtlichen Hasses. Ich dachte nicht so sehr daran, daß er mich mit Olive Slaughter, sondern daß Olive Slaughter mich mit ihm betrogen hatte. Daneben regte sich unklar, aber lebhaft ein heftiger Vorwurf in mir: daß irgendwie ich selbst der Betrüger war, daß ich mit den beiden – ob vor oder nach meiner Entdeckung, wußte ich nicht recht – mich selbst betrogen hatte.

Welches Selbst aber?

Mein Gemüt unterlag seltsamen Schwankungen. Ich erhob mich und schleuderte ihr Bild, das auf meiner Kommode stand, gegen das Kamingitter. Das Glas krachte, zerbrach aber nicht. Dann hob ich das Bild wieder auf und stellte es auf seinen Platz zurück. »Wart nur, du«, sagte ich und teilte ihr in den gemeinsten Ausdrücken mit, was ich ihr antun wollte.

Dann erinnere ich mich daran, daß ich auf meinem Rad in der warmen Morgenluft nach Oxford fuhr. Offenbar hatte ich gefrühstückt, mit meiner Hauswirtin gesprochen und die Zeit bis halb elf oder elf irgendwie hingebracht, doch sind all diese Einzelheiten aus meinem Gedächtnis gelöscht. Wahrscheinlich hatte ich auch eine bestimmte Absicht im Sinn, als ich nach Oxford fuhr, doch erinnere ich mich nur an eines klar: Es fiel mir beim Fahren auf, daß das Laub der Bäume sich ein wenig rot und gelb zu färben begann, und ich fragte mich, ob das einen frühzeitigen Herbst bedeute oder die Folge einer langen Reihe heißer, trockener Tage sei.

Graves hatte gepackt und war verschwunden. Unsere Raumpflegerin hatte ihn, als sie am Morgen gekommen war, nicht mehr angetroffen. Sie wunderte sich sehr, und zwar ganz besonders über das zerbrochene Geschirr, das nasse Bett, in dem niemand geschlafen hatte, und drei Haarnadeln, die sie auf dem Fußboden gefunden hatte. Ich legte ein nicht allzu heftiges Interesse an den Tag. Mochte das die Frau mit Graves ins reine bringen.

»Wenn er zurückkommt, wird uns das Mr. Graves wohl erklären«, sagte ich.

Dann befahl ich – wenn ich nicht irre – unserem Botenjungen, die Läden der Schaufenster wieder herunterzulassen. Unser Personal hatte sich nämlich wie allmorgendlich versammelt. Ich zahlte die Leute aus. Was mir unter den Eindrücken dieser Stunde am deutlichsten vor Augen schwebt, ist die Tatsache, daß die Blumen, die ich im Laden zurückgelassen hatte, in einer großen Vase auf den Mitteltisch des Lesezimmers gestellt worden waren. Ich überlegte flüchtig, wer das getan haben mochte. Die Auszahlung des Personals zeigt wohl, daß ich mich bereits entschlossen hatte, den Plan mit den Buchläden völlig aufzugeben. Vermutlich gingen die Leute sehr verwundert weg. Ich kann mich nach so langer Zeit weder an ihre Gesichter noch ihre Namen erinnern. Ich muß etwas wie eine düstere Würde zur Schau getragen haben, die weder Fragen noch Gespräche zuläßt. Schließlich waren alle fort. Ich ließ die Blumen in der Vase – mochten sie darin verwelken –, trat aus dem Laden, blieb einen Augenblick stehen, um die Passanten in der sonnenhellen Straße zu betrachten, und warf dann die Tür hinter mir zu. Mein Rad stand mit dem Pedal auf den Randstein gestützt.

Plötzlich gewahrte ich Mrs. Slaughter weit unten in der Straße: Sie eilte unter Gebärden, die meine Aufmerksamkeit fesseln sollten, auf mich zu.

Noch heute kann ich das Gefühl des Abscheus nachempfinden, das ihr Anblick in mir erweckte. Ein Gefühl des Abscheus und der Bestürzung war es. Mrs. Slaughter hatte ich vergessen.

Mein Rad stand da, aber eine Flucht wäre unwürdig gewesen.

»Auf ein Wort nur, Mr. Blettsworthy, auf ein Wort nur«, sagte sie, als sie vor mir stand.

Sie war kleiner als Olive und hatte eine ganz andere Hautfarbe. Olives Goldblond zeigte in ihrem Haar einen rötlichen Stich, und die helle Farbe des sommersprossigen Gesichtes stand in stärkstem Gegensatz zu dem warmen Elfenbeinton, der Olives Teint auszeichnete. Sie hatte kleine braune Augen anstatt der blauen Olives und war erhitzt und ein wenig atemlos. Sie trug ihr schwarzes Ladenkleid und hatte sich offenbar in großer Hast einen Hut aufgesetzt. Vielleicht hatte ihr einer meiner entlassenen Angestellten im Vorübergehen von meiner Anwesenheit erzählt. Vielleicht hatte sie schon früher am Tage, ehe ich noch zurückgekehrt war, im Laden vorgesprochen.

Ich betrachtete sie einen Augenblick lang, ohne zu sprechen, und ließ sie dann stillschweigend in den verdunkelten Laden treten.

Sie hatte sich etwas wie eine Rede zurechtgelegt und sprach im Tone einer freundlichen und vernünftigen Ermahnung. »Was ist denn nur zwischen Ihnen und Olive los?« fragte sie. »Was soll all das Gerede, daß ihr die Verlobung lösen und euch nie mehr wiedersehen wollt? Worüber habt ihr euch denn gestritten? Ich kann kein Wort aus ihr herauskriegen, nur daß Sie böse auf sie sind und die Hand gegen sie erhoben haben. Die Hand gegen sie erhoben haben! Und sie weint sich die Augen aus dem Kopfe! Weint zum Herzzerbrechen! Ich habe nicht einmal gewußt, daß sie gestern abend hier war. Sie ist wie eine Maus zur Haustür hinein und die Treppe hinaufgeschlüpft. Und wie ich heute früh zu ihr ins Zimmer komme, liegt sie im Bett – schluchzend. Sie hat die ganze Nacht geweint.«

Mit solchen Worten offenbarte mir Mrs. Slaughter ihre mütterlichen Sorgen.

Ich tat zum ersten Male den Mund auf: »Ich habe von einer Lösung unserer Verlobung nichts gesagt.«

»Sie behauptet, daß zwischen euch alles aus ist«, erwiderte Mrs. Slaughter mit einer Gebärde des ratlosen Staunens.

Ich lehnte mich gegen den Ladentisch und betrachtete die unschuldige Pracht meiner Blumen, die sozusagen den Sarg meiner toten Wahnvorstellungen schmückten. »Ich glaube nicht«, sagte ich langsam, »daß alles zwischen uns vorbei ist.«

»Das klingt schon besser!« sagte Mrs. Slaughter herzlich. Ich richtete den Blick auf ihr dummes Gesicht und entdeckte zum ersten Male die unendliche Beschränktheit, deren Mütter von Töchtern fähig sind.

»Dann brauchen wir ja von irgendwelchen Schritten wegen Nichterfüllung des Eheversprechens und dergleichen mehr gar nicht zu reden«, fuhr sie fort, indem sie mir ein wohl zurechtgelegtes Gespräch, das ihr nun nicht mehr vonnöten schien, in einem einzigen Satz an den Kopf warf. Ich hatte an die Möglichkeit einer Klage wegen Nichterfüllung des Eheversprechens noch weniger gedacht als an Mrs. Slaughter. Nun betrachtete ich die beiden gemeinsam, und sie schienen mir sehr gut zueinander zu passen. »Nein«, stimmte ich zu, »darüber brauchen wir nicht zu reden.«

 

»Was bedeutet denn das Ganze dann eigentlich?« fragte Mrs. Slaughter.

»Das betrifft nur Olive und mich«, antwortete ich.

Mrs. Slaughter betrachtete mich einige Augenblicke lang, und ihr Gesicht nahm einen kampflustigen Ausdruck an. Sie verschränkte die Arme und warf den Kopf zurück. »Ei, sieh da!« rief sie. »Das geht mich wohl nichts an?«

»Ich glaube nicht.«

»Das Glück meiner Tochter geht mich also nichts an, wie? Ich habe mich abseits zu halten? Während Sie ihr das Herz brechen? Da irren Sie sich, junger Mann!«

Mrs. Slaughter wartete auf eine Antwort. Ich gab aber keine. Ich unterließ es, ihr zu erklären, daß mir das Glück ihrer Tochter nicht am Herzen lag. Mein Stillschweigen verwirrte sie, glaube ich, denn ihre Redegewandtheit beschränkte sich vorwiegend auf die schlagfertige Antwort.

Die Pause zog sich in die Länge. Ich blieb höflich und geduldig. Mrs. Slaughter ordnete ihre äußere Erscheinung durch ein paar rasche Handgriffe und trat dichter an mich heran.

»Nun seien Sie einmal vernünftig, Arnold«, sagte sie in einem Tone salbungsvoller Mütterlichkeit, der es mich als Glück empfinden ließ, eine Waise zu sein. »Wenn Sie und Olive um nichts und wieder nichts streiten, so macht ihr euch ja lächerlich. Sie lieben sie doch. Das wissen Sie ganz genau, und Sie wissen auch, daß sie an niemanden auf der Welt denkt als nur an Sie. Ich weiß ja nicht, um was es geht, aber ich bin überzeugt, daß es nicht der Rede wert ist. Wahrscheinlich handelt es sich um Eifersucht oder so was Ähnliches. Ich kenne solche Geschichten. Habe ich sie doch vor Jahren mit meinem Seligen erlebt. Machen Sie einen Strich durch das Ganze. Denken Sie nicht mehr daran. Da sitzt das Mädel zu Hause und weint sich krank! Gehen Sie zu ihr. Geben Sie ihr einen Kuß und sagen Sie ihr, daß alles gut ist, und in zehn Minuten werdet ihr wieder wie zwei Turteltauben miteinander schnäbeln. Hören Sie auf zu schmollen. Ein Griesgram ist etwas Unausstehliches. Kommen Sie gleich mit mir und bringen Sie die Geschichte in Ordnung, dann haben Sie es hinter sich. Es wird bald Mittag, und ich habe ein Stück Hammelfleisch auf dem Herd. Sie haben mir noch nie die Ehre angetan, in meinem bescheidenen Heim eine Mahlzeit einzunehmen. Tun Sie es heute, und lassen Sie Ihren bösen Trotz fahren. Versöhnen Sie sich mit Olive, und bleiben Sie den Nachmittag bei uns. Oder machen Sie einen kleinen Ausflug mit ihr. Das ist mein wohlgemeinter Rat, Arnold. Ich kann Ihnen keinen besseren geben.«

Sie hielt inne. Hinter ihrer Herzlichkeit war Angst zu erraten.

Schon wollte ich sie mit der Anrede »Meine liebe Frau« tödlich beleidigen, doch ich antwortete wie einer, der sich seine Worte wohl überlegt hat. »Mrs. Slaughter«, sagte ich, »ich kann nur wiederholen, daß die Angelegenheit Olive und mich betrifft. Ich möchte sie mit ihr allein ins reine bringen.«

Mrs. Slaughter wollte mich unterbrechen, ich aber erhob die Stimme. »Und zwar nicht heute. Nicht heute. Es gibt Dinge, die ihre Zeit brauchen, um auszureifen.«

Ihre Miene verdüsterte sich; sie fühlte sich zurückgestoßen. Und sie wurde nun eines Umstandes gewahr, den sie bisher außer acht gelassen hatte. »Warum ist der Laden wieder ganz geschlossen?«

»Er ist aus Geschäftsgründen geschlossen«, erwiderte ich. »Aber auch das ist eine Angelegenheit, die zu besprechen ich jetzt außerstande bin.«

»Und Mr. Graves?«

»Ist nicht hier.«

Das war jedenfalls der wesentliche Inhalt unseres Gesprächs. Sie sagte noch manches andere, aber nichts von Bedeutung, wiederholte manche ihrer Sätze einige Male, und schließlich kehrte sie zu dem Hammelfleisch auf ihrem Herde zurück. Ich scheine danach noch eine lange Zeit untätig im Laden geblieben zu sein.

Dann sehe ich mich vor dem Hause stehen, einen Fuß auf dem Pflaster, das andere Bein über mein Rad geschwungen, bereit aufzusteigen. Ich fragte mich: »Und wohin zum Teufel soll ich nun fahren?«

6
Zusammenstoß im Dunkeln

Ich saß Tee trinkend in dem dunklen, aber von Sauberkeit glänzenden Speisesaal des »Spread Eagle« in Thame, der trotz seiner Kleinheit zu den vorzüglichsten Gasthöfen Englands gerechnet wird. Der Wirt, der immer einen flaschengrünen Anzug mit Messingknöpfen trug, ehrte mich durch sein Gespräch.

»Haben Sie sich jemals verloren?« fragte ich ihn.

»Und einen anderen wiedergefunden?«

»Ich suche einen gewissen Arnold Blettsworthy, der vor etwa sechzehn Stunden verschwunden ist.«

»Wir spielen alle mit uns selbst Verstecken. War Arnold Blettsworthy ein junger Mann voll der Hoffnungen und des Ehrgeizes?«

Ich nickte.

»Solche verschwinden ganz plötzlich.«

»Und kehren sie jemals wieder?«

»Manchmal wohl. Nach längerer Zeit.«

Er seufzte, blickte aus dem langen, tief liegenden Fenster und sah plötzlich etwas, was seiner Fürsorge bedurfte. Er verließ mich mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung. Er kam nicht wieder, und nach einer Weile zahlte ich der Kellnerin und fuhr auf meinem Rad in Richtung Amersham davon. Schüchternheit hinderte mich daran, allzu lange auf ihn zu warten. Ich war traurig, daß er unser Gespräch nicht wieder aufgenommen hatte, denn seine Stimme und sein ganzes Wesen hatten mich angezogen, und er schien meine Sorge zu begreifen. Wäre er aber zu mir zurückgekommen, so hätte ich wahrscheinlich von anderen Dingen gesprochen.

Ich fuhr in die Einsamkeit hinaus.

Ich fuhr ziellos durch den warmen Abend eines Spätsommertages und wandte mich ostwärts, um meine Augen vor dem Sonnenuntergang zu schützen. Ich brütete über einem dunklen Problem, das meine eigene Identität betraf. War Arnold Blettsworthy nichts mehr als der Name und die Hülle mehrerer Wesenheiten, die miteinander in Widerstreit lagen? Ich kannte die Blettsworthyschen Grundsätze von Ehre und gutem Willen, die mir in meinen Schwierigkeiten als Richtschnur hätten dienen sollen. Ich kannte sie genau. Was mich verwirrte, war der Sturm von Begierde in mir, von tierischer Lust, die mit Zorn vermengt sich als das Recht auf Selbstbehauptung aufzuspielen versuchte und alle jene Grundsätze und Vorschriften beiseite schob, als ob sie nichts bedeuteten. Wer war der zornige und lüsterne Egoist, der meinen Willen zu vergewaltigen suchte und ganz erfüllt schien von dem Bilde der entblößten, erschreckten und widerstandslosen Olive? Nicht ich. Ganz gewiß nicht ich. In früherer Zeit nannte man ihn den Teufel – oder einen Teufel. Einen Eindringling, der Macht über uns gewinnt. Verändert es ihn wesentlich, wenn man ihn auf moderne Art als ein zweites Ich bezeichnet? Aber war ich nun Arnold Blettsworthy oder jener andere? Neben dieser Leidenschaft, die mir die Gewalt über mein Tun zu entwinden suchte, drängte sich noch ein schmählicher und verächtlicher fremder Geist in das Wirrsal, der zynische Beobachter, und blies mir bösen Rat ein. »Ein Narr warst du«, hielt er mir vor, »und ein Narr bist du. Ein Narr und Schwächling. Wozu all diese gespielte Empörung? Wenn du das Mädchen haben willst, nimm sie, und wenn du sie haßt, dann laß sie fahren, jedenfalls aber geh so mit ihr um, daß du dabei nicht zu Schaden kommst. Du kannst es so einrichten, daß die Schuld auf sie und nicht auf dich fällt. Ihre Augen haben dir deine Macht über sie verraten. Richte sie zugrunde, und such dann das Weite. Warum sie aber deinen Willen auf solche Art zu versklaven und über dich Schmach und Gefahr zu bringen vermag, kann ich wahrhaftig nicht sagen. Dieser erste flüchtige Blick auf einen warmen und geschmeidigen Körper war offenbar zu viel für dich, mein Junge. Das kommt davon, wenn man eine erregbare Jungfer ist. Was ist daran so wunderbar? Und gibt es keine anderen Weiber auf der Welt? Ich frage dich, gibt es keine anderen Weiber auf der Welt?«

Nicht Landstraßen und Feldpfade entlang, sondern durch das Wirrsal meiner Triebe steuerte ich an jenem Nachmittage. Unter anderem entsinne ich mich einer heftigen Sehnsucht nach meinem Onkel: Hätte ich nur noch einmal mit seinem Geiste Zwiesprache halten können! Hätte ich mir nur seine körperliche Erscheinung und seine Stimme vergegenwärtigen können, dann wären die bösen Gewalten in meiner Brust nur halb so mächtig gewesen. Vielleicht schwebte etwas von ihm noch über den Hügeln von Wiltshire. Doch als ich das Antlitz westwärts wandte, warf mir die untergehende Sonne goldene Speere in die Augen und ließ mich wieder umkehren.

Ob ich betete, fragt ihr mich? Ob mir die Religion meiner Welt eine Hilfe war? Nicht einen Augenblick lang. Ich erkannte klarer als je zuvor, daß ich nur an meinen Onkel glaubte und nicht an den hilfreichen Gott, den seine Güte auf den gleichgültigen Himmel gemalt hatte. Dem Gott meines Glaubensbekenntnisses weihte ich in meiner Not nicht einen Gedanken. Ich hätte mich ebensogut an Sirius wenden können.

Schließlich wurde es dunkel, und meine Radlampe war noch nicht angezündet. Ich fuhr um eine Ecke und entdeckte, etwa einen Meter von mir entfernt, die Rückseite eines Rollwagens, die im Zwielicht matt schimmerte. Er schien zu fahren, und ich wollte ihn überholen, doch dann verkürzte sich seine Rückwand mit verblüffender Schnelligkeit, und ich erkannte zu spät, daß er wendete: Ein Zusammenstoß war nicht mehr zu vermeiden. Ich sehe noch heute, wie meine Lenkstange sich rasch den hölzernen Wagenrädern näherte, fühle, wie ich das Gleichgewicht verlor und einen verspäteten Versuch machte, umzudrehen.

Bis zu diesem Punkte ist meine Erinnerung vollkommen klar. Das Folgende ist aus meinem Gedächtnis völlig verschwunden. Wahrscheinlich prallte ich gegen den Wagen und wurde von ihm umgestoßen. Ich habe darüber niemals Genaueres erfahren können. Jedenfalls verlor ich das Bewußtsein, aber es ist sonderbar, daß meine Erinnerung nicht bis zu dem Augenblicke reicht, da ich bewußtlos wurde. Das Licht geht aus, sozusagen, während ich eben erst mit den Rädern und der Seitenwand des Wagens in Berührung komme.