Die Gewalt des Sommers

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Die Gewalt des Sommers
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Gunter Preuß

Die Gewalt des Sommers

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Manchmal …

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

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24.

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30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

Nachtrag

Anhang

Glossar

Impressum neobooks

Manchmal …

war es, als schliche etwas Böses durchs Lager. Es hatte kein Gesicht, keine Gestalt und doch war es da. Es war zwischen ihnen, aber auch in ihnen. Etwas Bedrohliches breitete sich aus. Es sagte lautlos voraus, dass das, was ihr bisheriges Leben bestimmt hatte, zu Ende gehen würde.

Gewiss hat es in der damaligen DDR andere Pionierferienlager gegeben, in denen es anders zuging. Und doch sieht der Autor sein Szenario der Wahrheit näher, als manchen Schauplatz der Wirklichkeit.

1.

Die Zugfahrt von Leipzig zur Insel Rügen würde wohl niemals ein Ende finden. Eingekeilt zwischen Menschenleibern, umwoben von muffig-süßlichem Geruch toter Blumen, dachte der Junge, dass er dem Gefühl von Enge wohl nie entkommen würde. Soweit er sich zurückerinnerte, hatte es ihn bis auf wenige Augenblicke der Losgelöstheit immer begleitet.

In Berlin mussten die Reisenden den Zug verlassen. Uniformierte kontrollierten die Abteile. Erst nach einer halben Stunde durften sie wieder zusteigen. Die Jungen hatten Spaß am Gewühl und Gejohle. Die Alten schimpften und verschafften sich rempelnd ihren Sitzplatz. Ein paar Haltestellen später wurde die Diesellok aus inländischer Produktion gegen ein rumänisches Fabrikat getauscht. Gleich waren Spottnamen zu hören, wie „Ceausescus Rache“ und „Karpatenschreck“. Je weiter sie in Richtung Norden fuhren, umso langsamer kam der Zug voran. Obwohl als Schnellzug ausgeschrieben, hielt er inzwischen an jeder Kleinstadt. Ein rothaariger Student, der vor seiner Freundin fortwährend prahlte, wollte wissen, dass es auf der Strecke einen Unfall gegeben hatte. An einem Bahnübergang sei ein Lastwagen in den Waggon eines Güterzugs gerast. Der Schaffner spräche von Verletzten und Toten.

Die Zugfahrt erinnerte Boris an Berichte von Erwachsenen, die ihre Reise an die See in den Fünfziger- und Sechzigerjahren als höchst langwierig und umständlich beschrieben hatten. Er hatte auf eine Fahrt mit E-Lok und Doppelstockwagen in nicht so bedrängender Enge gehofft.

Wenn der Zug nach all den Aufenthalten wieder anruckte, wurde das jedes Mal mit großem Hallo begrüßt. Die Jungen und Mädchen, die mit Boris ins Ferienlager fuhren, waren ihm zu laut und aufgedreht. Ihre Gesichter glänzten fiebrig, es gab Gespött und Zänkerei, Witze wurden erzählt, deren Pointe in übermütigem Gelächter unterging. Die Abteile waren überfüllt, Kleinkinder lagen im Gepäcknetz, junge Leute machten sich einen Spaß, an den Haltestellen durch die Fenster zu- oder auszusteigen. In den Kurven ratterten und knirschten die Waggons. Manchmal warf es die Fahrgäste durcheinander oder schüttelte sie, als würde der Zug über Kopfsteinpflaster fahren. Dann bremste er wieder schrill, von einem Signal oder Haltepunkt aufgehalten. Die Lok surrte wie ein überdimensionales Insekt, die Luft, selbst Gegenstände vibrierten, der Diesel roch nach faulen Eiern. Aufbrüllend wie ein geschundenes Tier setzte sie sich endlich wieder in Bewegung.

In Stralsund mussten sie umsteigen. Diesmal zog die fabrikneuen Wagen, allgemein beklatscht, eine der gewaltigen Dampfloks, die weitgehend aus dem Verkehr genommen waren. Boris stand in dem mit Menschen und Gepäck verstopften Gang, hielt seinen Kopf aus dem heruntergezogenen Fenster und ließ sich vom Fahrtwind den rußigen Dampf, den die Lok kurz und heftig auspaffte, ins Gesicht blasen. Die Pfiffe, die der Koloss hin und wieder ausstieß, klangen dem Jungen lustlos in den Ohren. Er fühlte sich müde, ja alt, jedenfalls älter als die in den Abteilen lärmenden Jungen und Mädchen und ihnen nicht zugehörig. Er wünschte, krank zu sein und sich in seinem Bett verkriechen zu können. Wenn er die brennenden Augen schloss, beunruhigte ihn Annas Blick. Vor ein paar Tagen hatte die Großmutter ihn immer wieder angesehen und, wenn er aufschaute, weggeblickt. Obwohl er die Antworten fürchtete, hatte er Fragen gestellt. Über Nacht dann war ihm in wirren Träumen das Bild seiner Mutter verloren gegangen. Am Morgen hatte er es in seine Gedanken zurückzwingen wollen. Er hatte sich Fotos angesehen und sie zu zeichnen versucht. Aber die Mutter blieb hinter einer Schattenwand verborgen.

Zehn Stunden waren sie nun unterwegs und noch immer nahm die Fahrt kein Ende. Boris sehnte sich bereits jetzt in das Auendorf zurück. Lerchau lag eingebettet in der Tieflandbucht zwischen Leipzig und Halle. Dort war alles überschaubar, ob er sich nun in seinen Tagträumen als Vogel in die Lüfte schwang oder als Frosch an den Boden drückte und zum Himmel aufschaute. Ihm fehlte Brunos schwere Hand auf der Schulter, sein schaukelnder Gang und der ihm anhaftende Geruch nach Tabak und saurem Schweiß. Vor allem aber vermisste er Annas besorgten Blick, ihr Augenzwinkern, wenn sie sich ertappt fühlte und ein Lächeln über ihr gebräuntes Gesicht huschte. Die Großeltern gaben ihm das Gefühl, etwas wert zu sein, mehr als ihr selbst gebautes Haus, vielleicht sogar mehr als ihr eigenes Leben.

Der Junge sah die kommenden Wochen wie ein endlos weites Feld vor sich liegen. Er wusste nicht, wie er da hinüberkommen sollte.

2.

Als sie auf der Insel den Zug verlassen konnten, waren sie steif und müde.

Dann endlich, nach langem Fußmarsch, den von Anna gepackten Rucksack geschultert, stand der Junge vor dem Meer. Sekundenlang war er wie geblendet. In diesem Augenblick schien sich alles, was eben noch in unzähligen Teilen durcheinanderwirbelte, vereinigt zu haben. Er ballte die Hände gegen dieses Sausen und Schwirren in ihm. Wieder im Gleichgewicht, riss er die Augen auf und trank gierig die Weite, das Grün und das Blau. Das alles hatte er so noch nie gesehen. Sein Blick reichte bis zum fernen Horizont. Nur ein in Grautönen fein überlagerter Strich, den wohl kein Mensch so zeichnen konnte, trennte Meer und Himmel voneinander.

 

Die Jungen, die selbst in den abseits gelegenen „Lehmlachen“ im heimatlichen Auenwald nie nackt badeten, rissen sich die Sachen vom Leib, rannten mit Geschrei ins Wasser und sprangen kopfüber in die rhythmisch heranrollenden Wellen. Die Mädchen zierten sich, sie beratschlagten kichernd. Als das erste schließlich im Badeanzug ins Wasser rannte, schlüpften auch die anderen flink in ihre Badeanzüge und Bikinis und rannten kreischend hinterher.

Die Lehrer und Betreuer sahen amüsiert dem Badevergnügen zu. Sie hätten wohl gern mitgetan, doch sie waren einander noch wenig bekannt und warteten erst einmal ab.

Der Pionierleiter kam lachend heran und blieb neben Boris stehen, der, noch immer fasziniert vom Anblick der See, zurückgeblieben war. Lothar Womacka war Mitte zwanzig, ein ehemaliger Spitzensportler, der im Amateurboxen zum Olympiakader gehört hatte. Die Schüler nannten ihn „Ali“, nach dem schwarzen Boxgenie Muhammad Ali, was er sich gern gefallen ließ.

„Beeindruckend, was?“

Ali schattete mit einer Hand seine Augen ab und schaute aufs Meer. Durch seine gerade und straffe Haltung wirkte er geradezu übermächtig. Wenn Boris neben ihm stand, bemerkte er überrascht, dass Ali nicht so groß war, wie er ihn immer vor Augen hatte. Der Junge machte sich unwillkürlich kleiner.

„Dein erstes Mal, stimmt.“

Ali stellte den Koffer ab, der mit Abziehbildern von Ländern Osteuropas beklebt war, und nach kurzem Zögern auch den großen Vogelkäfig. In ihm hüpfte „Sandra“, ein selten gewordener Kolkrabe, schwerfällig von Stange zu Stange und krächzte, dass es wie sattes Rülpsen klang.

Nun setzte auch Boris seinen Rucksack ab. Er drehte sein Gesicht weg und wischte mit dem Jackenärmel darüber. Gern hätte er mal losgeheult. Das Gespött der Jungen fürchtete er nicht. Aber Alis Verachtung hätte er nicht ertragen. Er nickte eifrig, als Ali verschwörerisch sagte: „Kriegen wir hin, versprochen.“

„Ja“, sagte Boris. „Ja, klar.“

Ali lachte, da lachte auch Boris, der Pionierleiter ging in Boxerstellung und schlug eine linke und rechte Gerade am Kopf des Jungen vorbei.

„Wie wir das hinkriegen, immer!“

„Ja, Ali! Ja!“

3.

Das Zeltlager befand sich unweit dem kleinen Fischerdorf Dranske, etwa fünfzehn Kilometer von Kap Arkona, dem nördlichsten Punkt der Republik, entfernt. Der dunkle Wald aus hochgewachsenen Kiefern und Fichten und vereinzelt stehenden mächtigen Buchen war stellenweise etwa zweihundert Meter breit und zog sich an der steil abfallenden Küste hin. Größere Geländeabschnitte waren von hier stationierten Grenztruppen besetzt und für Einheimische und Urlauber streng gesperrt. In einem frei zugänglichen Waldstück und anschließender Heide hatte eines der über die Insel verstreuten Pionierlager seinen Platz.

Es war früher Morgen und der dritte Tag, an dem der Junge nun hier war. Die Kinder und Betreuer schliefen noch in den Zelten, als Boris sich ruckartig aufsetzte. Er war wieder in diesem alten Haus gewesen, durch unzählige Zimmer geirrt und Treppen hoch und runter gestiegen. Das alte Holz hatte zu ihm gesprochen, um ihn war es dunkel und doch konnte er sehen, in einem abgewetzten Plüschsessel lag an der Rückenlehne ein eingedrücktes Kissen, eine Schlafdecke war zurückgeschlagen. Er hatte gewartet, war die Treppen hoch und runter gelaufen, von Zimmer zu Zimmer gegangen, er wartete ...

Seine drei Zeltgenossen schliefen noch fest. Der stämmige Kalinke, der keiner Rauferei aus dem Weg ging, hatte den Kopf auf seine Boxhandschuhe gebettet. Neben ihm hatte sich der lang aufgeschossene Horst eingerichtet. Um seine Augen zuckte es, als sollte ihnen auch im Schlaf nichts entgehen. Der Dickwanst Ralph Malisch hatte ein abwehrendes Lächeln im blassen Gesicht.

Die drei Jungen, die Boris aus Lerchau kannte, erschienen ihm verändert. Sie hatten andere Gesichter bekommen, waren sich manchmal nur noch entfernt ähnlich. Auch die anderen Jungen und Mädchen, ob nun aus seiner Klasse oder aus einer anderen, waren anscheinend nicht mehr dieselben. Sie saßen ja in den Klassenzimmern zusammen, trafen sich nach der Schule im Dorf und liefen sich hier und da über den Weg. Auf der Insel, beim gemeinsamen Essen, zu den Ausflügen und beim Baden im Meer, erlebte er sie anders. Er achtete auf ihre Stimme, hörte sie atmen und las aus ihren Gesichtern, was ihm sonst verborgen geblieben war. Auch er selbst versetzte hin und wieder einen von ihnen in Erstaunen. Dabei meinte er, sich wie sonst auch zu verhalten. Er war neugierig geworden. Manchmal war ihm danach, einem Jungen oder Mädchen, wer gerade in seiner Nähe war, Fragen zu stellen, um mehr von ihm oder ihr zu erfahren. Vor allem aber war er neugierig auf sich selbst. Manchmal hatte er das Gefühl, als hätte er es tatsächlich mit einem anderen zu tun.

Boris öffnete mit klammen Fingern die verschnürte Zeltplane. Er rutschte auf den Knien nach draußen, atmete gierig ein und verharrte. Es war keine Nacht mehr, aber auch noch nicht Tag, es waren die Minuten, wo sich beide umarmten, um gleich darauf wieder voneinander Abschied zu nehmen. Der fast einen halben Meter große Kolkrabe, dessen Käfig vor Alis Zelt an einem Pfahl hing, drehte ihm den Kopf zu und schüttelte sein wie mit dunkelblauem Lack überzogenes Gefieder.

Die frühen Morgenstunden waren Boris nicht unbekannt. Die Großeltern standen täglich früh auf, obwohl sie inzwischen beide in Rente waren. Bruno arbeitete täglich noch ein paar Stunden im Möbelkombinat. Auch Anna war bislang halbtags in der Küche des Drehmaschinenwerks beschäftigt. Die beiden waren von jeher gewohnt in aller „Herrgottsfrühe“, welche Anna für die „segensreichste Zeit des Tages“ hielt, aufzustehen. Für Boris war es auch mit dem Schlaf vorbei, wenn in der Küche die Dielen knarrten und er bald darauf aus Stall und Hof Grunzen, Gackern und Meckern hörte. Dreimal in der Woche kehrten um diese Zeit auch die Düsenjägerstaffeln der Sowjets, die um Mitternacht im Tiefflug das Dorf überquert hatten, zu ihrem Fliegerhorst in die Dübener Heide zurück.

Hier an der Küste war der Morgen ganz anders, irgendwie weiter und scheinbar lautlos. Dann die Frische der Luft, der intensive Geruch nach Harz, der sich klebrig auf der Zunge ablagerte. Das wabernde blaue Licht vom Meer. Die schaukelnden Wipfel der Fichten, die ihn, den Kopf im Nacken, in ein beruhigendes Gefühl regelmäßigen Pendelns versetzten.

Eine Singdrossel flötete aus eng ineinander verhakten Wildrosenbüschen. Ein kleiner Vogel, wohl ein Zaunkönig, den Boris nur von Abbildungen kannte, flog schnurrend aus den Büschen am Boden entlang, setzte sich auf eine Leine mit aufgehängten Badesachen und sang rollend. Da erwachte eine Blaumeise aus dem Schlaf. Nach einem lockenden „sit sit“ ließ sie es glockenhell klingeln, was von hier und da erwidert wurde.

Der Junge zog hastig den Trainingsanzug aus und die Badehose an. Er rannte barfuß den mit Wurzeln überzogenen Waldweg bis zur Steilküste, schlüpfte unter einem Absperrband durch und stand am Rand der Klippe. Die Tage zuvor war er die Stufen hinuntergegangen, die Jungen hatten „Feigling!“ gerufen. Es hätte ihm nichts ausgemacht sozusagen blind zu springen, denn die Steilküste stand zum Meer hin etwas über, wobei das darunterliegende Stück nicht einzusehen war. Das Gehabe der Jungen war ihm einfach zu angeberisch und die Geheimnistuerei der Mädchen zu albern. Sie sprachen manchmal über ihn. Er tat, als hörte er es nicht. „Lach doch mal“, hatte ein Mädchen aus der Gruppe gerufen. Er hatte sich abgewandt. Seinen Schwur, nicht zu lachen, bis er das Gesicht der Mutter wiederfand, würde er nicht brechen. Auch der Vater war weg. Der war drüben. Für Boris war er gestorben. „Mit einem Toten lässt sich leichter leben als mit einem Lebenden, der nicht mehr da ist.“ Das sagte Bruno, bekräftigt mit einer wegwischenden Handbewegung, wenn Anna manchmal vorsichtig auf ihren Sohn zu sprechen kam.

Zu dieser Stunde erschien Boris das Meer grenzenlos. Sein kühles Blau erweckte den Anschein, als sei es noch unberührt. Boris verlangte es danach, einzutauchen und sich bis auf den Grund sinken zu lassen. Er trat ein paar Schritte zurück, sprintete los und sprang mit zum Kinn angezogenen Knien weit hinaus. Er landete weich in einer Sandkuhle, stieß sich gleich wieder ab, dass er wie auf einer Rutsche in Schussfahrt zum Strand hinunterglitt. Wieder auf den Füßen, musste er rennen, bis dann das Wasser ihn in Hüfthöhe abbremste.

Sein Schrei, den er so lange zurückgehalten hatte, schreckte ein paar Möwen auf. Sie hoben von den morschen Buhnenpfählen ab und kreisten schimpfend über ihm. Ihr „Krrjäh“ war ihm vertraut, als wäre er unter ihnen aufgewachsen, er hatte es eben nur lange nicht gehört. Das Meer, das ihn wie mit kühlen Händen anfasste, erinnerte an einen alten Freund, der früher, in längst vergessener Zeit, mit ihm gespielt hatte. In diesem Moment war ihm die Welt näher als sonst. Sie erschien ihm kleiner und leichter zu verstehen. Zugleich aber war sie unendlich größer und unentdeckt.

Langsam tauchte er ins Wasser ein und schwamm unter seiner Oberfläche, bis es ihn zum Auftauchen zwang. Das Ufer war weit weg, er fühlte sich gut aufgehoben hier draußen, begann zu planschen, drehte sich im Kreis, tauchte, bis ihm die Luft ausging, und genoss es, steil an die Oberfläche zurückzuschießen und mit aufgerissenem Mund einzuatmen.

Als er wieder in der Tiefe war, kam etwas auf ihn zu geschwommen. Er dachte an einen sich in die Ostsee verirrten Delfin, an eine Robbe; schließlich sah er, dass es ein Mensch war.

Sie tauchten gleichzeitig auf. Es war Ali, den Boris trotz der Taucherbrille und der Wäscheklammer auf den Nasenflügeln gleich erkannte. Sie schwammen nebeneinander zum Ufer zurück. Boris glich seine Schwimmbewegungen denen von Ali an, die ruhig und kräftig waren. Die letzten hundert Meter forderte Ali ihn mit einem Kopfnicken heraus. Sie kraulten, doch so sehr der Junge sich anstrengte, sein Kontrahent erreichte knapp vor ihm das Ufer.

Sie schüttelten sich wie Hunde. „Nicht schlecht, Kämpfer“, sagte Ali. „Mach was aus dir, sag ich doch, aber immer.“

Boris nickte. Zu dem, was der Pionierleiter sagte, konnte man nur nicken. Auch die anderen Jungen, mochten sie noch so aufsässig sein, widersprachen ihm nie. Bei Ali erschien alles, was manchmal so kompliziert und nur schwer zu ertragen war, verblüffend einfach. Er erklärte die Welt als Boxring: „Gibt nur dich und deinen Gegner. Den hast du zu besiegen. Durch k. o., möglichst. Kann dir kein Kampfgericht den Sieg nehmen, stimmt.“

Ali ließ sich vornüber auf den Sand fallen, pumpte exakte Liegestütze, und der Junge tat es ihm nach. Boris hatte sich früher nichts aus Sport gemacht. Es war ihm sinnlos erschienen, sich anzustrengen und zu schwitzen, ohne zu wissen, wofür. Doch dann war er aus der Stadt ins Dorf und an der neuen Schule in Alis Pioniergruppe gekommen. Ali hatte ihm kraftvoll die Hand geschüttelt, ihn mit taxierenden Blicken umkreist, dann auf die Schulter geklopft und gesagt: „Untrainiert. Ausbaufähig, schätze ich. Ein Kämpferherz, mal sehen. Zum Boxtraining, komm mal. Kalinke sagt dir, was Sache ist. Pünktlich, klar.“

Boris´ Muskeln zitterten, ein pressender Druck war hinter seiner Stirn, ein Würgen im Hals. Nicht aufgeben, dachte er verbissen. Niemals aufgeben.

„Siebenundzwanzig, achtundzwanzig“, zählte Ali die Liegestütze laut mit, und rief, während er selbst scheinbar mühelos weiter pumpte: „Nicht schlappmachen, du hörst! Neunundzwanzig! Dreißig! Noch einen! Einunddreißig! Noch zwei: Zweiunddreißig! Dreiunddreißig! Einer geht noch! Vierunddreißig!“

Als dem Jungen die Arme wegknickten und sein Gesicht auf dem feuchten Sand lag, rügte der Trainer: „Schwach, bei siebenunddreißig standest du, stimmt. Zum letzten Sparring, Kalinke, hat dich in die Mangel genommen, keine Überraschung.“

Ali schaffte neunzig Liegestütze. Er schüttelte seine Arme und Beine aus, setzte sich neben Boris in den Sand und sagte: „Sage dir, was ein Mann wissen muss, klar.“

„Ja“, sagte Boris. „Klar doch.“

„Also“, sagte Ali. „Der alte kubanische Fischer, Santiago, hab erzählt, von ihm, du weißt.“

„Ja“, sagte Boris. „Das hast du.“

Der Junge erinnerte sich an die Geschichte, die Ali an einem Pioniernachmittag geradezu andächtig wiedergegeben hatte, als wäre er dabei gewesen. Boris hatte sich das Buch dann ausgeliehen. Der alte Mann war vierundachtzig Tage vergeblich zum Fischfang aufs Meer gefahren. Er schlief in seiner armseligen Hütte und lebte von dem, was die Nachbarn ihm abgaben. Am fünfundachtzigsten Tag fuhr er mit seinem kleinen Boot wieder hinaus und harpunierte endlich den großen Fisch. Drei Tage und Nächte kämpfte er mit dem Schwertfisch. Und als er zu siegen glaubte, jagten ihm die Haie seinen Fang ab.

 

„Der Hemingway, lässt Santiago sagen, was Sache ist. Das zählt, nur das.“

„Ja, Ali, sag´s mir.“

Aber der Mensch darf nicht aufgeben. Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben.“

Alis Blick tastete den eigenen durchtrainierten Körper ab, als wollte er sich bestätigen, dass er einem Kampf auf Leben und Tod gewachsen war. Er nickte, schlug eine kurze Gerade knapp am Kinn des Jungen vorbei, und rief: „Deckung, Mann. Muss im Schlaf sitzen, muss sie. Der Gegner, schläft nicht, wenn er was drauf hat. Der Gegner, du weißt wer?“

„Das weiß ich“, beeilte sich der Junge zu antworten. Er schmeckte fauligen Fisch, Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, ihn fröstelte. „Aber immer, Ali.“

Ali wies mit ausgestrecktem Arm aufs Meer hinaus. „Drüben, uns gegenüber, ist Schweden. Links Dänemark. Scharf links Westdeutschland. Denk nicht, dass die da drüben pennen, niemals. Heißt wie? Also.“

„Vorwärts und nie vergessen“, sagte der Junge schneidig. „Wessen Straße ist die Straße? Wessen Welt ist die Welt? Wir oder die? Seid bereit!“

Der Pionierleiter nickte und lachte. Sie schwiegen, der Junge fror, er spannte die Muskeln an. Ali pfiff leise einen Schlager. Hinter ihnen war die Sonne schnell aufgestiegen - als würde vom Land her eine blutrote Fahne auf der grünen Wasseroberfläche ausgerollt.

„Was stimmt nicht, was?“, fragte Ali unvermittelt.

Boris duckte sich, er wollte antworten, fand aber kein Wort.

„Geht schon“, sagte Ali. „Muss gehen.“

„Meine Mutter“, sagte Boris schließlich. „Sie ist ...“

„Weiß“, sagte Ali. „Tut weh, weiß.“

„Sie ist – weg.“

„Weg?“

„Aus meinem Kopf. Einfach weg. Ich meine, ich kriege sie nicht mehr - zusammen. Ihr Bild – nur noch ein dunkler Fleck ...“

Ali nickte. „Klar“, sagte er nach kurzem Schweigen. Er nickte abermals, sagte fest: „Kriegen wir hin, geht schon.“

„Ja“, sagte Boris. „Ich weiß.“

Ali wusste anscheinend über alles Bescheid, was das Geschehen in der Schule und darüber hinaus betraf. Manchmal fragte einer der Jungen scherzhaft, ob er vielleicht hellsehen könne. Ali sagte lachend, dass kleine graue Männlein ihm ab und zu was zuflüstern würden.

Boris hatte den Großeltern von Alis erstaunlichen Fähigkeiten erzählt. Die hatten sich angesehen. Anna wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Bruno meinte, Boris solle nur einfach seine Sache machen und nicht rumreden. Gahlich, einer aus der Zehnten, ein Punk, der sich nach einem Indianerstamm „Mohawk“ nannte und mit seinem farbenprächtigen Irokesenschnitt wie ein Gockel über den Schulhof stolziert war, hatte gesagt, dass die „kleinen grauen Männlein“ bei der „Stasi“ seien. Die würden den Leuten hinterherschnüffeln. Mohawk war für die Erweiterte Oberschule vorgesehen, verließ dann aber überraschend am Ende der zehnten Klasse die Schule. Es wurde getuschelt, keiner wusste wirklich was. Die Lehrer waren froh, dass Mohawk nicht mehr das „Gesamtbild“ störte, bald war er vergessen.

Boris hatte dem Pionierleiter gleich vertraut, er war beeindruckt von seinem sicheren Auftreten. Ali besaß noch immer den Ruf eines fairen Boxers. An der Schule erzählte man sich Geschichten aus seiner aktiven Zeit. Für die Teilnahme an einem internationalen Turnier sollte er sogar einem nach ihm rangierenden Boxer den Vortritt gelassen haben. Weil er ihm mehr Chancen für den Titelgewinn eingeräumt hatte. Ali meinte, der Einzelne sei nur so viel wert, wie er der Gemeinschaft von Nutzen war. Er war stark und zäh, eben ein Kämpfer, er sagte von sich selbst, er sei hart, aber gerecht, und wer mit ihm ginge, würde unter den Siegern sein.

Sie saßen ein paar Minuten schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet. Die eben noch rot glitzernde Oberfläche färbte sich golden, dann hellgrün. Selbst Ali, der sonst immer etwas anpacken und bewegen musste, saß reglos. Boris vergaß ihn, auch die Großeltern, die Mutter, das Dorf, sich selbst, einfach alles. Er hatte die Augen geschlossen und spürte das Streicheln des Windes. In ihm summte zärtlich eine Frauenstimme.

Wie von weit her kam Boris zu sich. Jungen aus dem Zeltlager sprangen schreiend in die Sandkuhle und kamen zum Strand heruntergerutscht.