Die Gewalt des Sommers

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4.

Die Zeit auf der Insel verging in schnell wechselnden Bildern. Am frühen Morgen pickten die Mädchen und Jungen sich wie Vögel aus dem Ei, sie schüttelten ihre Flügel und schon schwangen sie sich in die Lüfte. Am späten Abend landeten sie flügellahm wieder auf dem Erdboden und ließen sich in einen tiefen Schlaf fallen, um am nächsten Morgen das gleiche lustvolle Spiel zu wiederholen.

Mit jedem neuen Morgen fiel mehr Last von Boris ab. Das Gewesene blieb immer weiter zurück. Misstrauisch beobachtete er eine Szene wie aus einem Film über eine vergangene Zeit. Nach dem Waschen und dem Morgenappell fuhr täglich um die gleiche Zeit ein Tafelwagen am Essenszelt vor. Ein mächtiger rotbrauner Ochse ging im Geschirr, die großen Augen ausdrucksleer. Eine Frau mit grimmigem Männergesicht sprang gewandt vom Kutschbock und schlug mit einem Treibstock dem Tier zwischen die Hörner, dass es stehen blieb. In ihrem schmutzig-gelben Overall wirkte sie wie eine Wespe, die schlank und emsig umhersurrte. Sie zog die Milchkannen von der Ladefläche und stellte sie in schnurgerader Reihe vor dem Zelteingang auf. Mit schroffer Gebärde lehnte sie jede Hilfe ab. Wenn sie die leeren Kannen aufgeladen hatte, drosch sie abermals mit dem Stock gegen den mächtigen Schädel des Ochsen. Bevor der anruckte, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, hatte gleich die Zügel fest in der Hand und knallte mit der dünnen Peitsche. Jedes Mal wichen alle Umstehenden instinktiv zurück. Im gemächlichen Trott des Ochsen entfernte sich der Wagen. Einige der Umstehenden rissen nun Witze darüber, dass sie die Milch nicht in den üblichen Beuteln oder Flaschen, sondern frisch aus der Kuh geliefert bekämen. Und was dieser klapprige Ochsenkarren überhaupt solle? Die Bauern hätten doch genug Autos und überhaupt das meiste Moos. Boris schaute dem Gefährt fasziniert, aber auch abwehrend hinterher, bis nur noch das gelegentliche Scheppern der Kannen zu hören war.

Ali ließ sich jeden Tag etwas einfallen, mit dem er seine Schützlinge überraschte. Die Jungen und Mädchen schwammen morgens und abends in der Ostsee, spielten Volleyball, Fußball und Tischtennis. Sie setzten aufs Festland über und besuchten das mittelalterliche Stralsund mit seinen zahlreichen Toren, Kirchen und Türmen. Im Meeresmuseum standen sie stumm vor einem fünfzehn Meter langen Skelett eines Finnwals. Bei einem Bummel durch das Inselstädtchen Sassnitz besichtigten sie im Fischereihafen die nasskalten und dämmrigen Hallen der Fischverarbeitung. Junge und alte Frauen mit weißen Haarnetzen, langen Gummischürzen und in klobigen Stiefeln sortierten die Fische und verpackten sie in Kisten. Die Frauen sprachen, wenn überhaupt, knapp miteinander. Kaum eine sah mal hoch. Auch die Besucher verstummten angesichts der Düsternis, der klammen Luft und des scheinbar unter die Haut gehenden Fischgeruchs. Wieder im Licht sahen sie vom Kai aus sehnsüchtig der Eisenbahnfähre nach dem schwedischen Trelleborg hinterher. Auf dem Jasmunder Bodden setzten sie mit einem Kutter nach Ralswiek über. Hier wurde in einer Bucht zu den Festspielen die „Ballade von Klaus Störtebeker“ aufgeführt. Ali hatte die spannende Geschichte des Seeräubers, der auf Rügen geboren sein sollte, am Lagerfeuer erzählt: Der Störtebeker hatte im Streit seinen Brotherrn erschlagen, war unter Piraten geraten und selbst zum Anführer der legendären Vitalienbrüder geworden. Schließlich hatte man ihn gefasst und enthauptet. Irgendwo auf der Insel sollte er einen Schatz vergraben haben. Für die Boxgruppe war täglich eine Stunde Training angesetzt. Ali sagte, dass er den Jungen den nötigen Schliff geben würde. Der sollte die Muskeln härten, die Lungen dehnen, den Biss schärfen und vor allem das Kämpferherz formen. Der Körper brauche Kultur, vor allem, klar doch.

An einem Tag voller steifer Böen wanderten sie auf den steil zum Meer abfallenden Kreidefelsen über das Nordkap der Insel. An den Ruinen des Walles einer Tempelburg gebot Standke Halt. Der Lehrer ließ wissen, dass sich hier die Jaromasburg mit dem Standbild des slawischen Gottes Swantewit befunden habe. Elfhundertachtundsechzig sei sie vom dänischen König Waldemar I. zerstört worden.

Die nüchternen und nicht enden wollenden Wissenskundgebungen des Geschichtslehrers erzeugten bei den Schülern gähnende Langeweile. Die Jungen lenkten sich mit versteckten Rempeleien und dem Erzählen von Witzen ab. Die Mädchen traten von einem Bein aufs andere, hauchten in die Hände und steckten die Köpfe zusammen. Alle sehnten sich nach einer heißen Suppe aus der Feldküche, die sie im Lager erwartete.

Boris sah hinüber zu einem weitläufigen Gelände, das mit Stacheldraht umzäunt war. Schilder, die das Betreten strengstens untersagten, wiesen auf ein Militärgelände hin. Malisch stand massig neben ihm, nickte zu den beiden Leuchttürmen hinüber, die aus dem Gelände hoch herausragten, und sagte sehnsuchtsvoll: „Von da oben kann man bestimmt große Kähne sehen. Wie sie die Ostsee durchs Kattegat und Skagerrak verlassen. Über die Nordsee in den Atlantischen Ozean. Mit ein bisschen Glück ums Kap Horn. Hinein in den Pazifischen Ozean bis zu den Cookinseln.“

Malisch malte mit eindringlichen Worten die Koralleninseln farbig aus, er erzählte von freundlichen Polynesiern, deren höchster Gott Io war. Sie sollten tatsächlich Kannibalen gewesen sein. Von weiten schneeweißen Stränden sprach er, vom Singsang des Seewindes in hohen Palmen. Von Held Maui, dem es gelungen war, sogar die Sonne vom Himmel zu holen, dass die Tage der Menschen länger wurden.

Boris musterte Ralph Malisch aus den Augenwinkeln. Der blasse Junge wirkte für gewöhnlich wie frisch gebadet. Sein voluminöses weiches Aussehen wurde unterstützt von einer Löwenmähne aus schimmernden hellen Haaren, die bis auf die Schultern herabfielen. Vom Direktor der Schule bekam er dafür scheele Blicke. Lehrer Standke hatte ihn zur Hofpause im Kreis der Jungen gefragt, was er denn mit einem solchen „Wirrkopf“ bewirken wolle? Malisch hatte sich weggedreht und war ins Schulgebäude zurückgegangen.

Was Malisch da redete, wollte nicht zu ihm passen. Die Jungen im Dorf riefen ihn „Tunte“, seitdem sie ihm am gefluteten Tagebau die Badehose heruntergezogen hatten. Sie schrien, dass „sein Pimmel verkümmert“ wäre und er „Titten wie ein Weib“ hätte. Sie hatten ihn in die Brustwarzen gekniffen und herumgestoßen. Möbius hatte sich auf ihn geworfen. Unter den Anfeuerungsrufen der anderen hatte er getan, als sei Malisch ein Mädchen, mit dem er Geschlechtsverkehr ausübte. Malisch war es schließlich gelungen, seine Sachen aufzuraffen und zu entkommen. Boris hatte abgestoßen zugesehen. Am Abend dann, als er mit den Jungen ins Dorf zurückkehrte, hatte er Malischs Fahrrad an das Haus gelehnt, in dem der Junge mit seinen Eltern wohnte.

Boris schluckte, er verspürte mit einmal Fernweh und sagte abwehrend: „Aber was willst du denn dort?“

Auf Ralph Malischs Gesicht kehrte das Lächeln zurück, das seine Gegenüber auf Distanz hielt.

„Was soll denn dort schon Großartiges sein?“

Malisch zuckte mit den abfallenden Schultern, sagte dann: „Das Paradies.“

„Das Paradies? Ja, was soll denn das sein?“

Malisch errötete. „Natürlich nicht Gott, Adam und Eva und so was.“

„Was denn dann?“

Malisch ging in die Hocke und legte einem Käfer einen Stein in den Weg, den der flink überkletterte. Boris wollte sich schon abwenden, da sagte der Junge: „Ich meine einen Ort, wo du – frei bist.“

„Frei?“

Boris erinnerte sich, dass der Vater von „frei sein“ und „Freiheit“ gesprochen hatte. Die Eltern waren darüber oft in Streit geraten. Es waren böse Worte gefallen. Einmal hatten sie aufeinander eingeschlagen. Wenig später waren beide in sein Zimmer gekommen. Die Mutter hatte Boris umarmt, dass es ihm wehtat. Der Vater, sonst sparsam mit Berührungen, hatte ihm eine Hand auf den Kopf gelegt.

„Du spinnst ja, Malisch.“

Boris ging ein paar Schritte zur Seite. Die Erinnerung tat immer noch weh. Er schloss die Augen. Da spürte er eine Hand auf der Stirn, schmal und warm. Für den Moment wusste er nicht, ob die Berührung wirklich war oder der Vergangenheit angehörte.

Er hörte Lachen, riss die Augen auf und stieß das Mädchen weg. Es war Ulrike Blau, die sie Ulli riefen, sie kam aus einer Schule des Nachbarortes. Er hatte sie erst hier beim Volleyball kennengelernt. Sie spielten gut zusammen, er gab die Vorlagen für ihre hart geschlagenen Schmetterbälle. Bisher hatten sie sich nur Kommandos zugerufen wie: „Aufpassen!“, „Jetzt!“ und „Hier!“ Wenn ihnen ein Punkt gelungen war, trafen sich kurz ihre Blicke. Früher hatte er sich nichts aus dem Ballspiel gemacht. Jetzt konnte er nicht genug bekommen. Es machte ihn stolz, wenn Ulrike Blau ihn als Ersten für ihre Mannschaft auswählte.

„Entschuldige“, sagte Ulli und zupfte eine schwarze Haarsträhne unter ihrer Strickmütze hervor, was ihr kesses Aussehen betonte. „Die dummen Hühner haben mich geschubst.“ Sie schimpfte auf Russisch: „Ty ssuma ssaschla!“

Die Mädchen lachten und riefen: „Verrückt sind wir nicht! Ulli liebt Boris! – Boris liebt Ulli!“

„Glaub ihnen kein Wort.“ Ulli drohte den Mädchen mit der Faust und lachte mit. „Die sind doch alle schwer krank.“

Boris drängte sich an ein paar Jungen vorbei. Nun stand er wieder neben Ralph Malisch.

„Hast du was mit der?“

„Dummes Zeug“, entgegnete Boris. Das sagte Anna immer, wenn sie über eine Sache nicht mehr reden wollte. Dann lenkte er ein: „Wie hast du das eigentlich gemeint vorhin?“

„Was denn?“

„Mit dem Ort. Wo man - frei ist?“

„Du weißt doch. Malisch spinnt manchmal ein bisschen.“

Boris fragte nicht weiter. Er kannte das von sich selbst. Wenn ihn jemand bedrängte, verschloss er sich. Es gab sowieso keinen Ort, wo man frei war. Was war überhaupt frei sein? Fliegen vielleicht. Wer konnte schon fliegen? Aus eigener Kraft. Menschen jedenfalls nicht. Die Vögel konnten es. Und Engel. Jetzt fing er auch noch zu spinnen an. Wie dieser schwabbelige Junge.

 

Standke beendete endlich seinen Vortrag, dem er schließlich nur noch selbst zugehört hatte. Mit Ali voran verließen sie das Nordkap. Sie liefen in einer langen Schlange, die bald in kleine Gruppen zerfiel, zum Lager zurück. Boris und Malisch gingen am Ende nebeneinander her. Der milchgesichtige Junge blickte manchmal zurück, wo die Entfernung Land, Meer und Himmel eins werden ließ und ins Unendliche verschob.

Obwohl Ulrike Blau weit vorn lief, trug der Wind Fetzen ihres Lachens zu Boris heran. Dann lief er unwillkürlich schneller. Nach ein paar Schritten zwang er sich stehen zu bleiben und passte sich erneut Malischs gemächlichen Schritten an.

Boris sah zu Ulli und dachte an Vera, ein Mädchen aus der Stadt, mit dem er vor ein paar Wochen zusammengekommen war. Sie hatte im Frühjahr Verwandte, die in Lerchau in der Genossenschaft arbeiteten und nebenher etwas Vieh hielten, besucht. Im Dorfkonsum, wo Boris für die Großmutter den Einkauf erledigte, hatte das Mädchen ihn gefragt: „Soll ich mein letztes Geld für Eis oder für meine Lieblingsbonbons ausgeben?“ Bis zum kleinen Gehöft der Großeltern war sie neben ihm hergegangen. Er hatte sie dann zum Grundstück ihrer Verwandten gebracht. Ihre Mutter wartete bereits, um sie mit zurück in die Stadt zu nehmen. Vera hatte noch schnell Namen und Adresse auf die inzwischen leere Bonbonschachtel gekritzelt und gesagt: „Schreib doch mal. Ich bekomme gern Briefe.“

Der erste Brief war Boris schwergefallen, obwohl er nur aus vier Worten bestand: Wie geht es Dir? Vera hatte ihm gleich geantwortet, ihre Unbekümmertheit gab ihm schnell das Gefühl von Nähe. Fast täglich gingen zwischen ihnen Briefe hin und her.

Boris erzählte keinem von ihr. Die Post fing er bei der Briefträgerin ab. Mit den derben und prahlerischen Geschichten und Witzen, die die Jungen einander über Mädchen erzählten, konnte er nichts anfangen. Er lachte mit, um nicht aufzufallen und womöglich in den Mittelpunkt ihres Spotts zu geraten. Niemals hätte er sich einem von ihnen anvertraut. Dann passierte das mit seiner Mutter. Vera hatte gefragt, warum er denn nicht mehr auf ihre Briefe antworten würde? Was ist denn bloß los, Junge? Er hatte keine Worte mehr für sie gefunden.

„Na, los doch“, mahnte Malisch. „Der große Chef hat´s nicht gern, wenn einer zurückbleibt.“

„Weiß“, sagte Boris. „Komme schon.“

5.

Boris starrte auf die fleckige Zeltplane, er neidete seinen drei Mitbewohnern die regelmäßigen Atemzüge. In seinen Gedanken tauchten im schnellen Wechsel die Gesichter der beiden Mädchen auf. Vera und Ulli. Jede sah ihn fragend an.

Er kroch aus seinem Schlafsack und tastete sich nach draußen. Unter den Fichten und Kiefern war die Luft unwirklich blau, scheinbar aus feinem Glas, das bei jeder Bewegung leise zu singen schien. Vom Meer her klang es herauf wie das entspannte Ausatmen eines gewaltigen Wesens. Dem Jungen war, als müsste er etwas suchen, von dem er noch nichts wusste.

Er ging den gewohnten Weg zum Waschplatz. Hier fanden auch die morgendlichen Appelle statt. Am Waldrand stand eine hüfthohe und mehrere Meter lange Zinkwanne. Über ihr verlief ein Rohr mit eine Reihe von Wasserhähnen, von denen nur noch ein paar gebrauchsfähig waren. Am Ende der Lichtung standen neben einem Abfallcontainer zwei aus Bohlen und Brettern zusammengenagelte Toilettenhäuschen. In das raue Holz waren jeweils die Symbole für Frauen und Männer und eine Vielzahl eher karikaturistischer Abbildungen des Geschlechts eingeritzt. Etwas weiter weg befand sich ein drittes etwas komfortableres Häuschen, für das nur die Betreuer einen Schlüssel hatten. Jeden Morgen standen an den beiden Häuschen Mädchen und Jungen in getrennten Reihen Schlange, erzählten Witze, lachten lauthals und tauschten Neuigkeiten aus. Ab und zu rannte ein Junge oder Mädchen mit auf den Unterleib gepressten Händen in den Wald, vom Johlen der Zurückgebliebenen begleitet.

Das Mondlicht fiel auf einen Spiegel, der an einem überhängenden Ast mit einer Schnur befestigt war. Das Glas war stellenweise trübe, an den Rändern waren noch Spuren eines goldlackierten Holzrahmens. Als Boris an den Spiegel herantrat, begann der lautlos zu drehen. Der Junge hielt ihn fest und näherte sein Gesicht vorsichtig dem Glas. Noch nie hatte er so bewusst in einen Spiegel geblickt. Er sah in ein fremd anmutendes Jungengesicht: Helle, wegen der ungeliebten Locken kurz geschnittene Haare. Auf der Nase und auf den Wangen unter der Bräune Sommersprossen. Trockene, leicht geöffnete Lippen. Ein ausgeprägtes Kinn, aus dem Ali auf starken Willen und „Nehmerqualität“ geschlossen hatte.

Boris blickte seinem Gegenüber in die Augen, sagte leise: „Na du?“ Das vertrauliche Augenzwinkern erwiderte er nicht.

Die Gesichter der beiden Mädchen waren in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund war das Gesicht des Jungen aus dem Spiegel. Er ging zurück ins Zelt, es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen.

6.

Am nächsten Morgen, beim Appell unter der blauen Fahne der Thälmannpioniere, fing Boris einen Blick Ullis auf. Die beiden Mädchengesichter verdrängten wieder sein eigenes Bild. Die Unruhe kehrte in ihn zurück, eine Frage bedrängte ihn, die er nicht formulieren konnte.

Er blickte zu Ali, der schallend sein Lieblingslied anstimmte: „Von all unseren Kameraden ...!“

Die Jungen und Mädchen stimmten willig ein, dass der Chor weithin schmetterte: „ ... war keiner so lieb und so gut, wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut ...!“

Ullis dunkle Augen, in denen ein Lachen hüpfte, blickten Boris unverwandt an.

... Da kam eine feindliche Kugel bei einem fröhlichen Spiel; mit einem seligen Lächeln unser kleiner Trompeter, er fiel!“

Boris hatte Mühe einen Rempler auszubalancieren. Kalinke hatte sich vor ihm aufgebaut. Er war etwas kleiner als Boris, aber muskulöser, sein Gesicht war hart und kantig, als sei es aus hartem Holz und noch nicht fertig geschnitzt.

Kalinke drohte mit mühsam beherrschter Stimme, die männlich tief, aber zwischendrin mädchenhaft hoch klang: „He, Pflaume, geh mir aus dem Weg. Misch dich bloß nicht ein.“

Da nahmen wir Hacke und Spaten und gruben ihm morgens ein Grab, und die ihn am liebsten hatten, sie senkten ihn stille hinab!“

Boris erschauerte jedes Mal, wenn sie das Lied sangen. Er konnte nicht verstehen, dass sie so laut und fröhlich sangen, wo doch einer von ihnen tot war.

„Du bist doch kein Idiot.“ Kalinke drückte ihm die Faust in den Rücken. „Oder soll ich dich erst fertigmachen?“

Schlaf wohl, du kleiner Trompeter, wir waren dir alle so gut, ...“

Boris verstand nicht. Das war auch egal. Er konnte Kalinke einfach nicht ausstehen. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Klassenzimmer hatte der Kraftprotz ihm zu verstehen gegeben, dass er das Sagen hatte. Kalinke war immer verschwitzt, in der Schule hatte er jeden Tag ein frisches Hemd an. Boris fand, er roch dennoch wie ranziges Fett.

„... schlaf wohl, du kleiner Trompeter, du lustiges Rotgardistenblut!“

Boris sah zu Ulli hinüber und sagte: „Du stinkst, Kalinke.“

Kalinke schlug zu. Boris konnte noch die Deckung hochreißen. Doch der folgende Haken traf seine Leber, der Schmerz krümmte ihn, er umklammerte seinen Gegner, kippte aber doch weg. Kalinke schlug weiter, er war wegen seiner Gewaltausbrüche auch von den Älteren gefürchtet. Es hieß, dass er sich eher totschlagen lassen als aufgeben würde.

In Boris rotierten rote Spiralen. Er wurde hochgerissen. Der Pionierleiter hatte ihn und Kalinke an den Kragen ihrer Trainingsanzüge gepackt und schüttelte sie wie junge Hunde. Frau Wieland, eine greisenhaft wirkende Betreuerin, die man auch „das Denkmal“ nannte, bekam einen Schreianfall. Sie konnte sich nicht wieder beruhigen, kreischte, heulte und zuckte am ganzen Körper. Standke und eine junge Lehrerin führten sie weg. Noch von weitem klang es wie eine Sirene durchs Lager.

Alle blickten befremdet zu Boden. Von Frau Wieland wusste man, dass sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei und ihrem Widerstand gegen die Nazis ins KZ Buchenwald gekommen und erst am Kriegsende befreit worden war. Sie war mehrfach in die Schule eingeladen worden, um von ihrer Leidenszeit im Konzentrationslager zu berichten. Als sie in der Aula vor all den Lehren und Schülern stand, hatte sie kein Wort rausgebracht und war schließlich von der Bühne gewankt.

Die Aufregung legte sich langsam, allgemeine Verwirrung blieb zurück. Die Gruppe unternahm einen Ausflug in ein Waldstück, wo ein Geländespiel vorbereit war. Der Pionierleiter hatte Boris und Kalinke mit Lagerarrest bestraft. Sie mussten inzwischen die Plumpsklos leeren und Wasserhähne reparieren. Ali wollte am Abend die „Latrinen piekfein wie im Interhotel“ vorfinden.

Für Ali wäre der Vorfall damit erledigt gewesen. Aber Standke, den die Schüler insgeheim „Dschugaschwili“ - nach dem Geburtsnamen des ehemaligen Sowjetdiktators Stalin - nannten, mischte sich ein. Dschugaschwili galt als „harter Hund“, er nahm alles politisch und war für strenge Strafen als „erzieherisches Mittel proletarischer Bewusstseinsbildung“. Dem aschgrauen Gesicht des Geschichtslehrers konnte man keine Regung ansehen. Seine Stimme, Dschugaschwili war Kettenraucher, klang heiser, wie von einem alten Tonband, das Höhen und Tiefen nur noch verwischt wiedergab. Wenn er sich aufregte, schnappte sie manchmal in ein ebenso lächerliches wie unerträgliches Fisteln über.

Dschugaschwili erklärte: „Die beiden Rowdys müssen umgehend nach Hause geschickt werden. Sie haben beim Morgenappell die Fahne der Pionierorganisation geschändet. Der zunehmend ins sozialistische Lager herüberschwappenden westlichen Verderbtheit der Jugend muss entschieden Einhalt geboten werden.“

Der Lehrer ordnete eine Versammlung der Erwachsenen im Essenszelt an, das auch zum Verarzten von kleinen Verletzungen diente. Bei schlechtem Wetter saßen hier die Betreuer bis in die Nacht zusammen. Auf einen Wink Kalinkes schlich Horst, sein ständiger Begleiter, zu dem großen Zelt und presste seinen Kopf seitlich an die Plane. Bald gab er aufgeregt Zeichen, und nach Kalinke pirschten sich auch die anderen ans Zelt heran. Drinnen wurde gestritten, hauptsächlich waren Alis und Dschugaschwilis erregte Stimmen zu hören. Dann rief jemand dazwischen, noch unsicher, aber beim zweiten Zwischenruf entschiedener. Es war Mathemüller, der im Unterricht strohtrocken, aber gut nachvollziehbar die Rechenwege erklärte und sonst taub und stumm zu sein schien. Er klang wie beim Unterrichten sachlich, aber jetzt auch zögerlich, als er sagte: „Bitte, Kollegen, wir sollten nicht zu streng urteilen. Es sind immerhin noch – Kinder. Und wer von uns ist schon ohne Fehl und Tadel.“

Boris und Kalinke tauschten einen ungläubigen Blick. Von der Seite hatten sie keine Hilfe erwartet.

„Mathemüller“, raunte Kalinke verächtlich. „Der soll sich bloß nicht die Kreide abbrechen.“

Dschugaschwili hatte etwas geantwortet, was nicht zu verstehen gewesen war. „Maul halten“, drohte Kalinke den anderen Lauschern, obwohl er ja dazwischengesprochen hatte.

Der Mathelehrer sprach weiter, seine Stimme klang jetzt fester: „Und überhaupt, Kollegen. Ist das nicht ein bisschen zu viel – Drill in unserem Zeltlager? Die Kinder – unsere Schüler, die sind doch zur Erholung hier.“

„Drill?“, war Ali zu hören. „Verstehe nicht.“

„Nun ja, ich meine nur …“ Mathemüller druckste, doch dann verfiel seine an sich hohe Stimme in einen Bass: „Ich habe mich gestern in anderen Pinonierlagern auf der Insel umgesehen. Ich muss sagen, keine Spur mehr von den Sechziger- und Siebzigerjahren. Dort geht es viel – lockerer zu.“

Unter den Jungen und Mädchen kam Unruhe auf.

„Schnauze“, gebot Kalinke.

„Lo – cke – rer“, wiederholte Dschugaschwili, und es klang so, als hätte er das Wort mit Kopfstimme gesungen. „Haben Sie lockerer gesagt, Kollege Müller?“

„Ich – meinte – wollte sagen … Ja, ich sagte lockerer, Kollege Standke.“

Im Zelt klapperte Geschirr, dann war es sekundenlang still, schließlich war Standkes rasselnder Atem zu hören, er sagte wie von einem hohen Podest herab: „Es dürfte auch Ihnen, Kollege Müller, als Lehrer für Mathematik, nicht unbekannt sein, was locker für Synonyme hat: lose, nicht fest, durchlässig, wackelig, ja, und lotterig.“

 

„Jetzt geht der Müller auf die Bretter“, kommentierte Kalinke. „Der hat doch nichts drauf.“

Keiner widersprach. Auch Boris schätzte, dass der Mathelehrer nun wieder in der Versenkung verschwinden würde. Umso erstaunter war er, als Müller geradezu temperamentvoll widersprach: „Ich möchte Sie nicht belehren, Kollege Standke. Aber neben den eher negativen sinnverwandten Wörtern, gibt es durchaus auch positive: Aufgelockert. Entspannt. Natürlich. Nicht starr, gelöst. Ungezwungen und unverkrampft.“

Boris wusste nicht warum, aber er spürte etwas wie Freude, oder war es Genugtuung? Er hatte weder für Standke noch für Müller viel Symphatie, den einen fürchtete er, der andere war ihm gleichgültig. Er hätte gern zu Ulli gesehen, deren Nähe ihn in Aufregung versetzte, die ihn zugleich beglückte wie ängstigte. Aber er wagte es nicht, als könnte er etwas von sich verraten, das ihm selbst noch nicht klar war.

Standke schnauzte, was sonst nicht seine Art war, da er auch mit gequetschter Stimme nachdrückliche Wirkung zu erzielen wusste. Seine Worte, in kurze Sätze verpackt, waren wie Geschosse, die Müller ein für alle Mal mundtot machen sollten. Er sprach davon, dass die „westliche Lockerheit“ nur alle im menschlichen Leben notwendigen Formen und Normen aufweichen würde. Im „Flitterangebot“ des sogenannten „Freien Marktes“ würden die in Kaufrausch geratenen Kosumenten jeglichen revolutionären Geist verlieren. Der in zwei Weltkriegen missbrauchte Mensch würde wieder zur knetbaren Masse, von den Ausbeutern zu Ausgebeuteten geformt. Lockerheit brächte dem Sozialismus nichts als Instabilität und Zersetzung. Er, Standke, werde es fortan nicht hinnehmen, dass im Lehrerkollegium Ideengut des Klassenfeindes als Möglichkeit sozialistischer Lebensweise angepriesen würde.

Dschugaschwili hatte nicht lange gesprochen, aber seine Rede schien nachzuhallen, es herrschte im Zelt und davor Schweigen. Alis unterstützende Worte von Disziplin, Selbsthärtung und Kampfeswillen wirkten dagegen nur noch wie ein zu spät kommender überflüssiger Anhang.

Im Zelt klirrte wieder Geschirr, Kaffeeduft breitete sich aus, jemand kam zum Eingang. Die Lauschaktion wurde augenblicklich beendet, die Beteiligten brachten sich in sichere Entfernung.

Kalinke beorderte nun zwei Jungen als Späher und Bote zum Essenszelt. So erfuhren alle, um die Feuerstelle sitzend, vom weiteren Verlauf der Verhandlungen. Im Zelt schienen sie zu keiner einheitlichen Meinung zu kommen. Bis schließlich Paulchen mit hoch erhobener Faust gerannt kam und schon von weitem rief: „Ihr müsst nicht nach Hause fahren! Ali hat gegen Dschugaschwili einen Punktsieg gelandet!“

Boris und Kalinke boxten die Fäuste gegeneinander. Für den Augenblick waren alle Feindseligkeiten vergessen. Wie sich später herausstellte, hatte Frau Wieland das Kräftemessen zwischen Ali und Standke entschieden. Sie war vom Stuhl hochgefahren, hatte sich die Hände auf die Ohren gedrückt und gesagt, dass es nun gut sei, sie wolle nichts mehr von alldem hören. Der mit hohen Auszeichnungen dekorierten Antifaschistin, die selbst mit dem Staatsratsvorsitzenden und maßgeblichen sowjetischen Genossen bekannt war, wagte niemand zu widersprechen.